Reimund Seidelmann
Alte Rezepte helfen inzwischen nur noch
bedingt
Die europäische Integration nach der
Osterweiterung
Die politischen Entwicklungen der letzten Dekade haben für
die Europapolitik Bedingungen, Herausforderungen und Probleme
geschaffen, die sich grundsätzlich von denen früherer
Jahre unterscheiden. Das Ende des Ost-West-Konflikts und die damit
ermöglichten Osterweiterungen, die ökonomische Erstarkung
der EU und die Schaffung der Europäischen Währungsunion,
die fortschreitende Globalisierung der Weltwirtschaft und die
Veränderungen in der globalen Machtstruktur haben dem
europäischen Integrationsprozess eine neue Qualität
gegeben. Sie hat der EU und ihren Mitgliedstaaten politische
Möglichkeiten eröffnet, wie sie bislang nicht
existierten.
Diese wie auch die weitreichenden inneren Veränderungen der
EU mit und nach den Maastrichter Verträgen lassen zu Recht die
Frage stellen, ob Konzepte, Strukturen und Strategien der "alten"
EU den neuen Aufgaben gerecht werden können oder ob das "neue"
Europa nicht nur seine politische Agenda neu konzeptionieren muss,
um das alte Selbstverständnis des Integrationsprozesses und
des "Europe-buildings" wiederzubeleben und in moderner Form
umzusetzen.
Das von Johannes Varwick und Wilhelm Knelangen herausgegebene
Buch hilft hierbei in mehrfacher Hinsicht. Es stellt eine
Bestandsaufnahme der Geschichte und der politischen Natur des
Integrationsprozesses dar, arbeitet seine strukturelle und aktuelle
Problematik heraus, diskutiert die vorhandenen Politikentwürfe
und -optionen und kommt zu politischen Empfehlungen für eine
Fortsetzung beziehungsweise Wiederbelebung der
Integrationsdynamik.
Im Sinne der klassischen deutschen Europapolitik und
Europaforschung tut es dies mit einer klaren
pro-integrationistischen Absicht und einer klaren Zuweisung der
politischen Verantwortung insbesondere an die deutsche
Europapolitik. Als Festschrift für den Münsteraner
Politikwissenschaftler Wichard Woyke und ganz in seinem Sinne
stellt dieser Band eine ebenso gelungene wie auch kritische
Bestandsaufnahme und einen konstruktiven Beitrag gerade für
die notwendig gewordene Neukonzeptionierung wie Revitalisierung der
deutschen Europapolitik dar, die über die Jahre hinweg eines
der zentralen Forschungsthemen Woykes war und ist.
Für die allgemeine Bewertung des Integrationsprozesses sind
dabei insbesondere die Beiträge von Loth und Varwick zur
Dynamik des Integrationsprozesses, von O'Neill und Knelangen zur
Integrationstheorie und von Gierig, Maurer, Wittkämper und
Tränhardt zur EU-Verfassung wichtig. Neben den weiteren
Beiträgen zu konkreten aktuellen Themen wie der
EU-Sicherheitspolitik, Finanzverfassung und Medienpolitik verdienen
die kritischen Analysen zur deutschen Europapolitik besondere
Beachtung:
Einschätzungen, dass die deutsche Finanzpolitik aus
europäischer Sicht ein "Trauerspiel der besonderen Art"
(Andersen) ist, dass die Achse Frankreich-Deutschland ihre
"politische Führerschaft in Europa eingebüßt hat"
(Guerot), dass Deutschland mit seiner Irakpolitik für die
transatlantischen Beziehungen "zum Problem geworden" (Hacke) ist
und dass in den Beziehungen zwischen den USA und der EU eine neue
Arbeitsteilung auf Grundlage von "shared leadership" (Knapp)
gefunden werden müsse und dass dazu sowohl militärische
Handlungsfähigkeit (Meiers) als eine globale bi- und
multiregionalistische Strategie (Kevenhörster/Bünte) mit
einem gemeinsamen Sitz der EU im UNO-Sicherheitsrat (Gareis)
gehört, sind wichtige Hinweise aus sicher nicht
regierungsfeindlicher Sicht mit gleichwohl kritischen Fragen an die
gegenwärtige Sicherheits- und Verteidigungspolitik in
Europa.
Sie werden durch die Entwicklung und Diskussion von politischen
Optionen zur Revitalisierung gerade der deutschen Europapolitik
ergänzt, die gerade wegen ihrer konzeptionell-strategischen
Perspektiven und ihrer Praktikabilität in Wissenschaft,
kritischer Öffentlichkeit und Politik Beachtung finden
sollte.
Johannes Varwick / Wilhelm Knelangen (Hrsg.)
Neues Europa - neue EU ?
Neues Europa - alte EU ?
Fragen an den europäischen Integrationsprozess.
VS Verlag für Sozialwissenschaften (ehemals Leske +
Budrich), Wiesbaden 2003; 448 S., 29,90 Euro
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