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Susanne Balthasar
Welche Farbe trägt die Zukunft?
Keiner weiß, was morgen kommt - außer
Martin Wuttke, denn der ist Trendscout
Martin Wuttke sucht die Zukunft. Hier irgendwo
im Strom der Menschen könnte sie sich verstecken, ein scheues
Etwas, das vorbeihuscht wie ein Frühlingslüftchen und,
hopp, wieder rein ins Gewühl. Also guckt Wuttke schnell. Im
richtigen Moment muss sein Auge aufspringen und zupacken. Ein Blick
allein reicht, denn die Zukunft muss man nicht besitzen, man muss
sie nur sehen. Aber wer weiß schon, wie sie aussieht, die
Zukunft? "Das kann man nicht vorhersagen", sagt Martin Wuttke.
Erkennen muss man sie.
Dass Wuttke einer ist, der das kann, glauben
seine Auftraggeber. Sie bezahlen Geld dafür, dass er ihnen
sagt, wie die Zukunft aussieht. Ob sie grün, gelb oder blau
ist, knielang oder minikurz, ob sie Nieten trägt oder Pelz.
Die Mode braucht solche Propheten, die auf der ganzen Welt nach dem
Look von übermorgen Ausschau halten und der Industrie sagen,
welche Klamotten sich in der nächsten Saison verkaufen werden:
Trendscouts heißen die Vorausschauer in der Branche. Martin
Wuttke sagt: "Wir sind die eingebaute Sicherheit für andere."
Aber kann man das? Sicher sein, was der Trend von morgen
ist?
Mit der Mode ist es wie mit dem Wetter: man
weiß nie, was morgen kommt. Regen oder rot, Wolken oder Wolle,
Sonne oder Sandalen, und der Mensch schaut zu mit runden Augen. Zu
undurchsichtig sind die Regeln, nach denen chaotische Systeme
funktionieren. Natürlich gibt es die Wettervorhersage, von der
manche behaupten, sie habe eine Trefferquote von 90 Prozent. Wie
dem Wetter versucht man auch der Mode wissenschaftlich beizukommen.
Inzwischen kann man sich in Deutschland sogar zum Trendscout
ausbilden lassen: Trendgeschichte, Medien und Internetrecherche,
Branding, Marketing, Marktanalyse und Expertenbefragung heißen
die Unterrichtsfächer an der Trendakademie Stuttgart. Am Ende
halten die Absolventen einen "Master of Trend Business Management"
in den Händen. 250 Menschen geben in Deutschland als Beruf
Trendscout an. Gerade mal zehn entsprechen den Kriterien, die die
Trendakademie anlegt. Als Trendscout gehen dort die durch, die
hauptberuflich in dem Beruf arbeiten, eine qualifizierende
Ausbildung wie Modedesigner oder Journalist abgeschlossen und
einige Jahre Berufserfahrung haben, weltweit Informationen sammeln
und für mehr als eine Firma tätig sind.
Menschen wie Martin Wuttke. Gemeinsam mit
seiner Frau Uta Riechers-Wuttke gründete der gelernte Designer
unter dem Namen "Next-Guru-Now" ein erfolgreiches Modelabel. Seit
1999 gibt es die eigene Linie nicht mehr: "Als Designer muss man
sich vom Knopfloch bis über das Etikett um alles
kümmern", sagt Wuttke, "da bleibt die Kreativität auf der
Strecke." Jetzt macht er wieder das, was ihm am meisten am Herzen
liegt: Konzepte für Firmen entwickeln, die er dann allerdings
in den meisten Fällen nicht selber umsetzt.
Vor das Konzept hat die Modewelt die
Recherche gesetzt, die Trendfindung. Heute sucht Martin Wuttke auf
der Straße und läuft bei der Trendrecherche eine
asphaltierte Zeitachse entlang. Die Zukunft ist vorn, die
Vergangenheit hinten. So einfach ist das. Aber wer ist vorn, wer
hinten? Ist der Anzugträger, der da gerade auf dem Fahrrad
vorbeistrampelt, vorn oder hinten? "Das geht gleich los bei mir",
erzählt Wuttke: "Wie der Anzug ist, ob der Typ gut oder
schlecht gestylt ist, visionär oder vorn oder hinten ist. Und
wieso gibt es immer noch keine Hosenhalter für solche
Anzüge?" Mit der Kunst des Decodierens ist Wuttke so tief in
die Materie eingedrungen, dass sich die Sache mit der Mode
vergeistigt hat: "Ein Kleidungsstück muss ich nicht besitzen.
Wenn ich einen Gucci-Anzug sehe und verstanden habe, dann habe ich
ihn schon besessen."
Wie sieht einer aus, der jeden Stofffetzen
dekonstruiert? Mittellanges und braunes Haar, eine schwarze
Dior-Kastenbrille im Gesicht, Sweatshirt mit
Schulterreißverschluss, dessen Ende über den Rand des
Kragens ragt, und darunter dünn gestreifte Hosen, die
aussehen, als würden sie ins Bett gehören. Auf den ersten
Blick wirkt das alles nicht besonders stylisch, aber irgendwie
sieht man doch, dass der Mann ziemlich weit vorn ist.
In Scharen kriechen die Vordermenschen an
diesem sonnensatten Nachmittag hoch auf den Prenzlauer Berg, der
die Berliner Mitte mit der Kastanienallee verbindet. Unten am
Hackeschen Markt liegt die Gegenwart mit ihren Freizeitjacken
tragenden Touristen und den standardisierten
Kommerzgeschäften. Oben wohnt die Idee einer schöneren
Welt: In die Kastanienallee haben sich die von den Mieten in Mitte
vertriebenen Designer, Jungvorderen, Trendsetter und Vorausblicker
geflüchtet. Auf dem ausgeflickten Asphalt laufen sie herum,
die Stilettos und Sneakers, die Sonnenbrillen und Sweatshirts, die
Seidenshirts und Sushis. Leute, die tagsüber nicht ins
Büro und abends in die Clubs gehen. Hier ist das Biotop, in
dem neue Trends entstehen, manchmal.
Man muss ein Kenner sein, um das zu sehen.
Ein Alleskenner. Alles saugt er auf, sagt Martin Wuttke, jeden
Flyer, jedes Geschäft, jede Ausstellung, jede Zeitschrift. Mit
den Zeitschriften ist das allerdings so eine Sache. Dahinter
stecken Redakteure, die bereits aussortiert haben - zweite Wahl
sozusagen. Es geht darum, den Trend als erster zu erspüren,
wenn er wie ein früher Blütenduft in der Luft liegt, eine
Ahnung von dem, was noch kommen wird. Wenn er diesen Hauch
erspürt, schlägt Wuttke Alarm. Nicht umsonst bezeichnet
er sich als Barometer. Den Begriff Trendscout mag er nicht. Das
Wort Trend übrigens auch nicht. "Trend hat etwas
Abgeschmacktes", sagt Wuttke, "das hört sich nach in und out
an, und das will doch keiner sein." Ein bisschen hört sich
Wuttke nach dem Wettermann im Fernsehen an, wenn er über den
Trend als "Strömung" redet, eine von vielen: "Ein Trend ist
das, was sich verändert, was ein Anfang und ein Ende hat, ein
Hoch und ein Tief." Und er, Wuttke, ist der Höhen- und
Tiefenforscher.
Andere Trendmenschen bezeichnen sich als
Wissenschaftler. Thilo Hartung, Zukunftsforscher und Dozent in
Stuttgart, ist einer von denen. Aber er sagt auch: "Wissenschaftler
streiten das ab." Die Ähnlichkeit liegt in der Vorgehensweise.
Wenn Hartung künftige Trendscouts ausbildet, schult er erst
einmal die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung: Was sehe ich
auf einem Bild in einem angesagten Magazin? Man stützt sich
auf Markt- und Markenanalysen, durchsucht die richtigen
Internetseiten und sorgt überhaupt ständig für neue
Informationen. Thilo Hartung beispielsweise führt eine
Infodatenbank, in der von "moderne Beerdigungsriten" bis
"Unterwäsche" so ziemlich jede aktuelle Tendenz gelistet ist.
"Wenn etwas ein Trend wird, dann muss es in mindestens vier
gesellschaftlichen Bereichen auftreten", doziert Thilo Hartung, der
nicht allein Mode, sondern auch beispielsweise Technologie- oder
Haushaltstrends erforscht. Bei aller vermeintlich objektiven
Datenerhebung steht doch immer der Trendscout als Subjekt im
Zentrum: Welche Informationen nimmt er wahr, wie wertet er sie aus?
Besonders wenn es um Straßentrends der Mode geht, sind die
Trendforscher mit ihrem Wissenschaftslatein am Ende: Am Ende
bleiben wie beim Wetter zehn Prozent unerklärlich.
Auf der Suche nach der Strömung peilt
Martin Wuttke einen unscheinbaren Laden an. Klein, ohne Namen, nur
ein Kleid im Schaufenster. "Ach, die Gummersbacher-Leutchen",
murmelt Wuttke und tritt ein. Der erste Eindruck ist bescheiden:
Eine Stange voll Klamotten hängt in dem winzigen Ladenlokal,
dahinter ein Atelierkämmerchen. Die beiden Betreiberinnen sind
Designstudentinnen, erfährt der Trendscout, der in diesem
namenlosen Experimentalgeschäft seine Kontakte vernetzt:
Wer-macht-was-und-kennt-wen? Eigentlich ja jeder jeden, wenigstens
über ein paar Ecken. Dann geht es an die Klamotten:
T-Shirtkleider mit Radfahrer-Logos aus den 70ern ("Sportiv ist noch
Jahre angesagt"), Sweatshirts mit scherenschnittartigen
Aufnähern aus Märchmotiven ("Toll. Märchen habe ich
noch gar nicht gesehen.") und das mit einer wilden Grafik
überwucherte Oversized- Shirt ("All-over Print - das kommt
nächsten Sommer"). Das Resümee: "Designmäßig
sind die weit vorn." Aber der eigentliche Knaller kommt zum
Schluss. Die Visitenkarten der beiden Modemädchen zaubern beim
Knicken ein dreidimensionales Etwas heraus. Selbst Wuttke staunt:
"Das ist echt frisch." "Frisch" ist noch besser als
"vorn".
Warum sich die Vordermenschen rund um die
Kastanienallee niedergelassen haben, ist schwer zu sagen. Sicher
ist, dass erst einer kommt und dann alle anderen. Natürlich
ist die Ecke um die Kastanienallee auch deshalb so angesagt, weil
es noch relativ günstige Mietpreise gibt. Also sitzt hinter
jedem dritten Schaufenster ein Nachwuchsdesigner und näht frei
von Erfolgszwängen seine Vision zusammen. Die Dialektik
zwischen Kreativität und Kommerzfreiheit funktioniert auf der
ganzen Welt. In Berlin, in London, in Paris, in New York, in
Mailand und in Tokio. Überall sucht Martin Wuttke die neuesten
Boutiquen, die verrücktesten Klamotten, die frischesten Ideen.
Hat der Trendscout etwas gefunden, ist noch lange kein neuer Trend
entdeckt: "Ein Punk macht noch keinen Sommer."
Es geht um diese Koinzidenzen, die sich in
London und Paris gleichzeitig bemerkbar auftreten. Wenn in Tokio
einer in "total baggy und oversized Sweatshirts" herumläuft,
erklärt Martin Wuttke, dann sei das typisch japanisch. Aber
wenn derselbe Look zwei Wochen später in London zu sehen ist,
dann ist das kein Zufall, wie manche Modemuffel behaupten. Dann ist
das ein Zeitphänomen, das umgehend unter Trendverdacht
gerät. Ob aus dem Experimentallook dann tatsächlich der
letzte Schrei wird, hängt von der Gesamtwetterlage ab: Gibt es
in Kunst, Grafik und Musik ähnliche Tendenzen? Fügt sich
die Aussage des Kleidungsstücks in die gesamtgesellschaftliche
Stimmung? Wenn ja, stehen die Chancen nicht schlecht. Weniger
entscheidend ist dabei der Geschmack. "Diese Buffalo-Turnschuhe
sind grässlich", seufzt Wuttke, "trotzdem rennen die
Großstadt-Teenager seit Jahren damit rum. Die sind einfach
nicht tot zu kriegen." Die klobigen Turnschuhe sind in die
Strömung geraten, und die hat sie mitgerissen. Nichts anderes
zählt. Selbst wenn das klappt, differenzieren Profis noch
zwischen Mikro und Makrotrends. Die Mikros bleiben in der
Subkultur, die Makros landen auf den Stangen von "Zara" und
"H&M".
Die Mode von morgen kennt Martin Wuttke
schon. Sommer 2005? Sportlich wird es bleiben, sportlich und
transparent. Longtermtrends nennt Wuttke die Modethemen, die
mehrere Jahre anhalten und in denen sich der Zeitgeist am
deutlichsten zeigt. Kurzzeittrends gibt es übrigens auch, das
sind Farben und Schnitte, die jedes Jahr gewechselt werden, damit
die Industrie verkauft. Im nächsten Sommer werden das wild
bedruckte Stoffe sein, so genannte All-over Prints,
großflächig bedruckt. Alles wird größer werden
prognostiziert Wuttke: "Wenn dieses Jahr Pünktchen angesagt
sind, kommen nächstes Jahr Luftballons.
Was nächstes Jahr kommt, ist sicher. Die
Modebranche hat die Klamotten für den nächsten Sommer
längst entworfen, die als Stoffproben im Büro von Martin
Wuttke hängen: Jeans mit der Struktur von Opaanzügen,
oder leichtes Weiß mit bonbonfarbenen Streifen.
Regelmäßig fährt der Trendscout auf die großen
Stoffmessen in Mailand und Paris, um von dort die Materialien der
Zukunft mitzubringen. Wenn ein neuer Stoff gleichzeitig bei
mehreren Händlern auftaucht, dann ahnt Wuttke: Das wird was.
Wenn er seinen Kunden dann Empfehlungen für die künftigen
Kollektionen gibt, legt er die Stoffprobe gleich dazu.
Ob er sich auch schon einmal geirrt hat? "Man
kann nicht daneben liegen", sagt Martin Wuttke, "der Trend wird
kommen. Nur manchmal kommt er zu früh oder zu spät." In
der Mode vergeht nichts: Seit Jahrhunderten zitiert sie sich wieder
und wieder selbst, ein Ende ist nicht in Sicht. Aber selbst in
Zeiten der Postmoderne sind dem Trendscout Grenzen gesetzt:
"Manchmal gibt es unvorhergesehene Ereignisse, wie den 11.
September zum Beispiel, mit denen sich auf einen Schlag alles
ändert." Oder Mitte der 90er-Jahre als Prada-Schwarz die
gesamte Mode dominierte. Irgendwann musste eine Farbexplosion bei
den Designern kommen, das war klar, aber wann genau? Schwer voraus
zu sagen. Bei aller Kunst des Dechiffrierens bleibt die Mode ein
chaotisches System. An diesem Abend wird Martin Wuttke nach Hause
gehen, ohne den Look von übermorgen gesehen zu haben. Macht
nichts, sagt er, so einfach funktioniert das nicht. Man kann nicht
morgens losziehen und abends mit einem Trend nach Hause kommen: Das
wäre etwa so, als würde man sich für den
nächsten Tag Sonne bestellen.
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