|
|
Ines Gollnick
"Genuss ist ein Muss": Trendige Teenager-Medien
im Einkaufswagen
Jugendbibliotheken suchen neue Konzepte:
Computerspiele und Comics statt Goethe und Lessing
In dieser Bücherei fragt niemand nach einer Interpretation
zu Lessings "Nathan der Weise". Dort sind Kultautoren wie Benjamin
Lebert oder Benjamin von Stuckrad-Barre angesagt. Dort geht es um
Tattoos und Piercings, um Mode und Junges Wohnen. In den Regalen
stehen die neuesten Kinohits auf DVD. CDs können wie in einem
Medienmarkt in den Player geschoben werden. Auf Thronen, die
Stühle sind, hören die Jugendlichen Musik, entscheiden,
welche CDs sie ausleihen wollen. Alles ist entspannt, irgendwie.
"Freestyle" heißt die Bibliothek. Ein Ort, an dem Medien
angeboten werden, die die Welt von Kindern und Teenagern
prägen. Es ist eine Bibliothek ohne Bildungsauftrag im
klassischen Sinn. Pioniere, die Jugendliche zurück in die
Bibliotheken gewinnen wollen, haben dieses Konzept entwickelt. Die
Stadtbüchereien Düsseldorf, die Stadtbibliothek
Mönchengladbach und die ekz, die Einkaufszentrale für
Bibliotheken, setzten dieses Modellprojekt um. Finanziell werden
sie unterstützt vom Land Nordrhein-Westfalen. Von der ersten
Idee bis zur Eröffnung vergingen lediglich 16 Monate. Nach
einem halben Jahr praktischer Erfahrung lautet die erfreuliche
Bilanz: Bibliotheken müssen keine jugendfreie Zone sein. Der
Einbruch bei den Bibliotheksnutzern ab 15 Jahren kann gestoppt
werden.
Norbert Kamp, Städtischer Bibliotheksdirektor in der
Landeshauptstadt Düsseldorf, belegt den Erfolg mit Zahlen:
"Der Bestand von rund 2.200 Titeln ist über 7.000 Mal
ausgeliehen worden. 40 bis 50 Prozent des Bestandes sind
ständig vergeben." Richtig gut laufe das Angebot zum
Lifestyle, Trendbücher, eben alles, was mit dem
Lebensgefühl Jugendlicher zu tun habe. Außerdem werden
Bücher der Interessenkreise "jobs", "mystery", "fantasy" und
"thrill" überdurchschnittlich viel ausgeliehen.
Überrascht hat die Macher von "Freestyle", dass sich auch
Erwachsene älteren Jahrgangs gerne in der Filmabteilung
tummeln oder sich für Sport- und Fitnessbücher oder
Krimis und Hörbücher interessieren. Und wie schwer es
heute ist, den Begriff Jugend altersmäßig einzugrenzen,
zeigt die Tatsache, dass schon die Neun- und Zehnjährigen, in
der Regel mit der Mutter, in der Abteilung "Games" den Spiel- und
Wissenstrieb befriedigen. Mark, neun, haben es die Autos angetan.
In "Island x-treme-stands" will er gern mal reinschauen, begleitet
von den wachsamen Augen seiner Mutter. Die freut, dass Mark auch
Wissensbücher mag, alles, was mit Ägypten zu tun hat. Und
Hörbücher findet er gut.
Isabel Alvarez schaut ebenfalls ganz genau hin, was ihr Marlon,
neun, so ansieht. PC-Spiele mit Sinn sollen es sein, findet die
Mutter. Sie wählt sie gemeinsam mit ihrem Filius aus.
"Freestyle" ist als zusätzliches Freizeitangebot zum "freien"
Spielen gedacht. Dass sich Kinder auch kindliche Welten erhalten
sollen, widerspricht dem Angebot nicht. Marlon hat diese, seine
eigenen Fantasiewelten, nicht verloren. Während er vor den
Regalen steht, erzählt er von seinem Freund und von den
Tieren, um die sie sich kümmern, keinen aus der Fantasy-Welt,
sondern echten zum Streicheln. Die Düsseldorfer planen
bereits, ihren Gesamtbestand auf 3.000 aufzustocken. Um den
Anspruch größter Aktualität zu erfüllen, werden
jährlich rund 500 Titel ausgewechselt. In dem Moment, wo Musik
beworben wird, muss sie auch im Regal der Jugendbibliothek zu
finden sein, so die Bibliotheksmitarbeiter.
"Freestyle" ist so etwas wie ein Prototyp für eine
Jugendbibliothek, wie sie auch in anderen Kommunen der Republik
stehen könnte. Eine Bibliothek mit Modellcharakter. Statt
einer Vielzahl ungebündelter Experimente wird hier ein
bundesweites, systematisches und ökonomisches
Dienstleistungsangebot geschaffen. In Zeiten leerer Kassen ist es
für viele Bibliotheken eine gute Chance, ein attraktives
Angebot für Jugendliche zu realisieren. Der
ekz-Bibliotheksservice in Reutlingen, der den Bibliothekstyp
entwickelt hat, ist in der Lage, einer Kommune je nach
Haushaltslage und Größe im Baukastenprinzip eine
schlüsselfertige Jugendbibliothek oder nur einzelne Module
anzubieten. Nach den Sommerferien werden in Bremen und Chemnitz
Jugendbibliotheken der Marke "Freestyle" eröffnet.
In der Landeshauptstadt Düsseldorf ist "Freestyle" als Teil
der Stadtbücherei in der Orangerie von Schloss Benrath
untergebracht, ein denkmalgeschütztes Gebäude des alten
Wasserschlosses aus dem 17. Jahrhundert in einer historischen
Parkanlage. Es ist ein optimaler Standort, denn in Benrath gibt es
sechs weiterführende Schulen. Der architektonische Kontrast
zeigt, wie Gegenwart sein kann. Draußen lustwandeln die
Spaziergänger durch barocke Anlagen in schönster
Blütenpracht, drinnen stöbern die Jugendlichen unter
einem coolen Stahlgerüst wie bei Open-Air-Konzerten, in CDs,
Comics und Computerspielen. Barhocker und Stehtische bieten
Anlaufpunkte. Die Jugendlichen kommen gerne in Cliquen und wollen
sich austauschen. Hier ermahnt niemand mit genervtem
Gesichtsausdruck, wie in Bibliotheken sonst üblich, ganz leise
zu sein.
Mangas und Animes werden bei "Freestyle" trendy im Einkaufswagen
präsentiert. Fahnen, die an den Stahlrohren befestigt sind,
kennzeichnen die einzelnen Themenbereiche, 14 Stück insgesamt.
Sie heißen action & fun, boy'n'girls, games, job &
help, just music, fantasy & scifi (Science Fiction), reality
oder thrill. Diese Präsentationsform ist ein Bruch mit
bibliothekarischen Traditionen. Junge Erwachsene, die Altersspanne
ist mit 14 bis 25 Jahren weit gefasst, finden alles an einem Ort,
jeden Medientyp zu jedem Thema, Sachbuch und Fiktion zusammen,
"freestyle" eben.
Die räumliche und inhaltliche Aufmachung ist cool, angesagt
und durchdacht. Der gesprayte Schriftzug "Freestyle" ist auf eine
herabhängende Fahne projiziert. Die Jugendlichen können
sich hier ungestört in ihrer eigenen Sphäre bewegen,
dabei aber auch das gesamte Bibliotheksangebot wahrnehmen. "Wir
wollen mit dem neuen Angebot die Zwölf- und 13-jährigen
in der Bibliothek halten, die bereits lesen und die sonst
abspringen und erst als Oberstufenschüler wiederkommen, wenn
sie eine Interpretation schreiben müssen", unterstreicht
Norbert Kamp das besondere Engagement. Hier sei eine Lücke
geschlossen worden. Trotz des positiven Gesamtechos auf dem
jüngsten Work-shop aller Projektpartner fügt er aber auch
an, dass das Konzept erst in zwei oder drei Jahren seine wirkliche
Tragfähigkeit beweisen könne, wenn der Übergang mit
dieser speziellen Altersgruppe geschafft ist.
70.000 Euro wurden in Düsseldorf insgesamt investiert,
40.000 in die Medien, 30.000 in die Möblierung und die
sonstige Ausstattung. So viel Geld muss man aber nicht ausgeben,
wenn der kommunale Etat das nicht hergibt. Die
Mönchengladbacher haben auch mit 13.500 Euro in einem
70er-Jahre Gebäude etwas Neues geschaffen.
Die aufwändige Lektorierung der freestyle-Medien durch alle
Themen und Medienbereiche hindurch liegt bei der ekz. Die
Bibliothek bestimmt lediglich, wie viel sie von welchem Medium
einkaufen möchte. Kamp macht keinen Hehl daraus, dass nur
durch den externen Sachverstand, durch das Outsourcing, diese
Innovation in den Räumen der Düsseldorfer Bibliothek
möglich wurde. Allein personell hätte das von
städtischer Seite nicht geleistet werden können.
Das erfolgreiche Motto von "Freestyle" für kommunale
Bibliotheken ist einfach: "Genuss ist ein Muss." Der Gedanke:
Jugendliche sollen freiwillig in die Bibliothek kommen und als
Kunden gewonnen werden. Da Schule und Lernen bisweilen als wenig
lustvoll empfunden werden, haben die Düsseldorfer die neue
Jugendbibliothek als reine Freizeitbibliothek mit einem
möglichst schulfernen Angebot konzipiert. Das Konzept
könnte aufgehen, denn Teenies sind aktive und intensive
Mediennutzer. "Freestyle" könnte erreichen, dass sie auch
wieder zur Stammkundschaft öffentlicher Bibliotheken
werden.
Internet:
www.duesseldorf.de/kultur/buecherei/standpunkte/b10.shtml
www.stadtbibliothek-mg.de
www.ekz.de
Zurück zur
Übersicht
|