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Klaus Hänsch
Die Völkervertretung erhält neue Rechte
und einen neuen Rang
Die Rolle des EP nach der Verfassung
Das Europäische Parlament wird zum Gesetzgeber der
Europäischen Union. Bisher ist das nur die Ausnahme,
künftig ist es die Regel. "Das Europäische Parlament wird
gemeinsam mit dem Ministerrat als Gesetzgeber tätig und
übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus." Einen
vergleichbaren Satz sucht man in den geltenden Verträgen
vergeblich. Er markiert einen Quantensprung für die
parlamentarische Demokratie auf Unionsebene. Das Verfahren der
Mitentscheidung, durch die Verträge von Maastricht und
Amsterdam nur für 35 Fälle vorgesehen, gilt künftig
für 84 der 110 Rechtsgrundlagen der EU-Gesetzgebung. Sie
umfasst auch die Agrarpolitik, die Asyl- und Einwanderungspolitik
und die Gesetzgebung in der Innen- und Rechtspolitik.
Das Europäische Parlament "teilt" sich die
Gesetzgebungsrechte mit dem Rat. Das ist kein Defizit, sondern eine
notwendige Konsequenz daraus, dass die Gesetzgebung in einer "Union
der Bürger und der Staaten" anders legitimiert werden muss als
im Nationalstaat - und sei er ein Bundesstaat. In einer solchen
Union braucht jedes europäische Gesetz nicht nur eine Mehrheit
im Europäischen Parlament, in dem die Bürger direkt
vertreten sind, sondern auch eine Mehrheit der Mitgliedstaaten, die
durch ihre Regierungen im Rat vertreten werden. Diese doppelte
Legitimationsbasis muss unausweichlich Folgen haben sowohl für
den Zuschnitt, die Einsetzung und die Befugnisse der
EU-Institutionen als auch für ihr Zusammenwirken bei der
Erfüllung der legislativen und exekutiven Aufgaben der Union.
Die Europäische Union ist kein Staat, also kann
parlamentarische Demokratie auf ihrer Ebene auch nicht nach der
Blaupause nationaler Demokratien funktionieren. Für die Union
und ihr Parlament müssen andere Kriterien gelten. Nur an ihnen
lassen sich Defizite erkennen und bemessen.
Für die gemeinsame Gesetzgebungsbefugnis von Parlament und
Rat gilt der bekannte Grundsatz "keine Regel ohne Ausnahme". Aber
nicht alle Ausnahmen sollten zum parlamentarischen Defizit
aufgeblasen werden. Ganz gewiss dann nicht, wenn ein Gesetz allein
durch das Parlament beschlossen werden kann, und auch nicht, wenn
es gegen die Mehrheit des Parlaments nicht zustande kommen kann. In
diese Kategorie lassen sich zehn von den 26 Fällen des
"Besonderen Gesetzgebungsverfahrens" in der Verfassung einordnen:
das jährliche Haushaltsgesetz, zum Beispiel, bei dem das
Europäische Parlament das letzte Wort über den gesamten
Haushalt künftig sogar einschließlich der Agrarausgaben
hat, auch das Statut der Abgeordneten, das Statut des
Bürgerbeauftragten sowie die Modalitäten für das
Untersuchungsrecht des Parlaments - alles so genannte
"Parlamentsgesetze", über die das Europäische Parlament
mit Zustimmung des Rates allein entscheidet. Andererseits
gehören auch die drei quasi-konstitutionellen Gesetze in diese
Kategorie, wie die Festlegung der Obergrenze für die
Eigeneinnahmen, die Rechte der Unionsbürger sowie die
Grundsätze des einheitlichen Wahlverfahrens. Sie werden vom
Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen
und die nationalen Parlamente ratifizieren sie. Ein
parlamentarisches Defizit entsteht dadurch nicht.
Allerdings bleiben 16 Rechtsgrundlagen, bei denen der Rat
ermächtigt ist, Gesetze ohne Zustimmung des Europäischen
Parlaments zu beschließen. Zum Teil sind es Gesetze am Rande
des Rangs von Verordnungen. Das ist legislativ von geringer
Bedeutung. Parallele Fälle gibt es auch in einigen
EU-Mitgliedstaaten. Zum anderen Teil handelt es sich um politisch
bedeutsame Gesetzgebung. Das kommt daher, dass es schon in den
Verfassungsberatungen im Konvent nicht gelang, die Einstimmigkeit
im Rat völlig abzuschaffen. Das Vereinigte Königreich und
Irland sowie einige Beitrittsländer haben das bei der
Steuerharmonisierung verhindert, Deutschland beim Familienrecht und
beim Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt für Drittstaatler,
andere in anderen Bereichen. Da im "normalen"
Gesetzgebungsverfahren im Rat mit Mehrheit entschieden wird, sind
diese Fälle in den Bereich der "Ratsgesetze" gerutscht, bei
denen das Parlament nur konsultiert wird.
Neue Mitentscheidungsrechte
Einerseits sind diese Ausnahmen tatsächlich ein blinder
Fleck in der Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments. Das
Europäische Parlament hat im Konvent dafür gekämpft,
dass die Zahl der Ausnahmen nicht nur so gering wie möglich
gehalten wird und dass sie in einem vereinfachten Verfahren zur
Änderung der Verfassung in die Mehrheitsentscheidung und damit
in das normale Gesetzgebungsverfahren überführt werden,
und auch dafür, dass sie so kurzlebig wie möglich
bleiben. Das ist die zentrale Bedeutung der in Artikel I-24 Absatz
4 vorgesehenen Passerelle aus der Sicht des Parlaments.
Andererseits erhält das Parlament Mitentscheidungsrechte,
wo ihm bisher jeder mitgestaltende Einfluss verweigert wurde. An
der Gesetzgebung auf der Grundlage von Artikel I-17 (heute Art. 308
EGV), der es der Union erlaubt, tätig zu werden, um eines der
Ziele der Verfassung zu verwirklichen, obgleich es eine konkrete
Rechtsgrundlage dafür nicht gibt, war das Parlament bisher nur
durch Konsultation beteiligt. Künftig ist seine Zustimmung
erforderlich. Bisher bestimmte der Rat allein die Art und Weise der
Durchführung der EU-Gesetze. Diese Macht muss er künftig
mit dem EP teilen. Das Parlament entscheidet gleichberechtigt
über die Gesetzgebung zur Festlegung der Modalitäten
für die Kontrolle der Durchführungsakte der Union mit.
Die EU-Exekutive setzt sich ihre Regeln nicht länger selbst,
das gehört zu den großen Durchbrüchen des
Verfassungsentwurfs. Damit werden Kontrollbefugnisse des Parlaments
gegenüber der EU-Exekutive erheblich gestärkt. Es
bestimmt künftig mit, nach welchen Regeln und wieweit die
Kommission und wieweit in Sonderfällen der Rat verbindliche
Durchführungsakte erlassen können. Ziele, Inhalt,
Geltungsbereich und Dauer werden durch Europäisches Gesetz
festgelegt. Das Parlament wacht darüber, wie die Kommission
die ihr übertragene Rechtsetzungsbefugnis ausübt. Es kann
die Übertragung gemeinsam mit dem Rat widerrufen oder allein
(wie auch der Rat) das In-Kraft-Treten von delegierten Verordnungen
der Kommission durch Einspruch verhindern.
Die Kommission behält das Initiativmonopol in der
Gesetzgebung. Nachdem im institutionellen Dreieck das Parlament wie
der Rat durch die Verfassung gestärkt werden, gibt es der
Kommission das notwendige Gewicht, um das Gleichgewicht zwischen
drei Entscheidungsorganen der Union aufrecht zu halten. Daher hat
das Europäische Parlament die Erlangung des vollen
Initiativrechts nicht zu einem seiner Essentials gemacht. Es hat
sich bewusst damit begnügt, dass der Verfassungsentwurf das
Recht des Parlaments, die Kommission zu einer Gesetzesinitiative
aufzufordern, verbessert und dem Rat gleichstellt. Dass das
Parlament kein volles Initiativrecht erhält, ist kein Mangel,
sondern Tribut an die Besonderheiten des institutionellen Systems
einer Staaten-Union. In diesem System gewinnt das Parlament
allerdings bestimmenden Einfluss auf die Einsetzung der
europäischen Exekutive. "Das Europäische Parlament
wählt den Präsidenten der Europäischen Kommission."
Und es setzt die gesamte EU-Kommission durch ein Vertrauensvotum
ins Amt. Der Europäische Rat macht seinen Vorschlag für
das Amt des Präsidenten der Kommission "unter
Berücksichtigung der Wahlen zum EP und im Anschluss an
entsprechende Konsultationen" (Artikel I-26). Und er muss, wenn
sein Kandidat im Parlament nicht die absolute Mehrheit erhält,
binnen einem Monat einen neuen Vorschlag machen. Damit wird die im
Vertrag von Nizza vorgesehene "Bestätigung" des vom
Europäischen Rat designierten Kommissionspräsidenten
durch das Parlament zu einer echten Wahl. Und die Bürgerinnen
und Bürger haben die Chance, mit ihrem Stimmzettel
unmittelbaren Einfluss auf die Personalentscheidung für eines
der Spitzenämter in der Union zu nehmen.
Die Verfassung verschafft dem Europäischen Parlament nicht
nur neue Rechte, sondern auch einen neuen Rang. Dem muss es seine
Arbeitsweise, seine Arbeitsabläufe und sein Verhalten
anpassen. Denn es wird ihn nur beanspruchen können, wenn es
zeigt, dass mit seinen Rechten auch seine Verantwortlichkeit
gewachsen ist.
Klaus Hänsch MdEP ist Präsident des Europäischen
Parlaments a. D.
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