Wilhelm Hadler
Die EU-Verfassung soll den europäischen
Kompetenz-Streit entschärfen
Warum wird so viel in Europa
entschieden?
Die europäische Integration ist schon weiter vorangekommen,
als vielen Bürgern bewusst ist. Bei der Diskussion über
die Europäische Verfassung geht es denn auch um mehr als um
eine Absicherung der Spielregeln für den Gemeinsamen Markt.
Demokratie, Bürgernähe und Effizienz sind die Prinzipien,
nach denen die Europäische Union künftig arbeiten
soll.
Konkret entwickelt werden sollen neue Ansätze für eine
gemeinsame Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, eine
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie einheitliche
Regeln für Bereiche der Innen- und Justizpolitik. Noch fehlt
es jedoch an einer genauen Abgrenzung der Kompetenzen der
europäischen, nationalen und regionalen Institutionen. Die
Sorge geht um, dass es zu einer Zentralisierung der
Zuständigkeiten und einem Verlust der Eigenverantwortlichkeit
der Bürger, Regionen und Staaten kommen könnte.
Andererseits ist die europäische Einigung ein Prozess, der
sich in Stufen vollzieht. Optimale politische Strukturen lassen
sich daher nicht von einem Tag auf den anderen erreichen.
Schon heute ist die EU für rund 80 Prozent der
Wirtschafts-Gesetzgebung zuständig. Allein auf dem Gebiet des
Umweltschutzes gibt es nach einer Untersuchung des Deutschen
Industrie- und Handelskammertages (DIHK) derzeit 500 Richtlinien
und Verordnungen. Insgesamt sind im Laufe der Zeit über 2.200
EU-Richtlinien verabschiedet worden. Die Frage ist, ob es sich
dabei immer um notwendige Vorschriften handelte oder teilweise um
bürokratische Regelungen, die die Unternehmen mit
zusätzlichen Kosten belasten und ihre Handlungsfreiheit
beschränken.
Die "Architekten" des Binnenmarktes weisen den Vorwurf
zurück, dass die Angleichung der Rechts-Vorschriften das
Ergebnis eines übertriebenen Regulierungseifers der
"Brüsseler Technokraten" sei. Wenn die Nationalstaaten ihre
Gesetze nur auf heimische Produkte angewandt hätten - so
argumentieren sie - wäre kein Handelshemmnis entstanden und
die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden
Rechtsangleichung entfallen. Bis in die 80er-Jahre habe zum
Beispiel französisches Mineralwasser in Deutschland nicht
verkauft werden dürfen. Nur in Apotheken sei bis zur
Verabschiedung einer entsprechenden EU-Regelung ein Vertrieb
möglich gewesen.
Inzwischen ist es anerkanntes europäisches Recht, dass der
Import oder der Verkauf von Waren aus anderen EU-Ländern nur
dann untersagt werden kann, wenn sachliche Begründungen
dafür geliefert werden. In den meisten Fällen kann sogar
auf Rechtsangleichungen verzichtet werden. Nur wenn eine
gegenseitige Anerkennung der unterschiedlichen nationalen
Vorschriften verweigert wird, muss eine Harmonisierung auf
europäischer Ebene erreicht werden. Sie hat immerhin zur
Folge, dass nur eine einzige Regelung an die Stelle zahlreicher
nationaler Bestimmungen tritt.
Nicht nur der Abbau von Handelsbeschränkungen bringt den
EU-Bürgern jedoch Vorteile. Die Brüsseler Kommission muss
auch sicherzustellen, dass der Wettbewerb zwischen Herstellern und
Händlern frei und fair ist. So belegte die Behörde 2001
zum Beispiel die Volkswagen AG mit einer Geldstrafe, da sie ihre
Vertriebshändler in anderen EU-Staaten angewiesen hatte, ihren
neuen Passat nicht billiger zu verkaufen als in Deutschland.
Vorteile für die Verbraucher brachte auch der Abbau
staatlicher Monopole, besonders im Versorgungs- und
Telekommunikations-Sektor. Die einst den nationalen Fluglinien
reservierten Strecken wurden für andere Anbieter
geöffnet. Die meisten Bürger können nicht nur die
Grenze frei überschreiten und mit dem gleichen Geld bezahlen,
sie verfügen in der EU auch über Niederlassungs- und
Dienstleistungsfreiheit. Auf eine Angleichung der Sicherheits-
Umwelt- und Verpackungsanforderungen konnte allerdings nicht
verzichtet werden und auch die Vereinheitlichung des
Lebensmittelrechts und der Ausbau des Gesundheits- und
Verbraucherschutzes machten ständig neue EU-Vorschriften
notwendig. Allzu oft wirken diese wie neue Handelshemmnisse.
Über eine bessere Kompetenz-Abgrenzung zwischen den
konkurrierenden Entscheidungsinstanzen wird seit langem diskutiert.
Kritik kommt vor allem von der regionalen Ebene, in Deutschland von
den Bundesländern. Je mehr die Musik in Brüssel spielt,
umso mehr fürchten sie um ihren Einfluss. Eine klare
Aufgabenverteilung ist umso wichtiger, je mehr die europäische
Integration auf neue Politikbereiche ausgedehnt wird.
Der vor der Unterzeichnung stehende Entwurf einer EU-Verfassung
umschreibt zumindest die Grundsätze für eine
vernünftige Verteilung der Zuständigkeiten und betont den
Vorrang der Subsidiarität und
Verhältnismäßigkeit bei Entscheidungen. In der EU
gilt danach das "Prinzip der begrenzten Ermächtigung". Artikel
5 schreibt vor, dass die Gemeinschaft nur "innerhalb der Grenzen
der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten
Ziele" tätig werden kann. Entschieden wird zwischen
"ausschließlichen Zuständigkeiten", "geteilten
Zuständigkeiten" und "ergänzenden Maßnahmen" Eine
genaue Abgrenzung dieser Kompetenzen gibt es jedoch nicht.
Wenn es um Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt geht oder um Fragen,
die die Zollunion und die gemeinsame Handelspolitik betreffen,
dürfen die Mitgliedstaaten jedenfalls in Zukunft nur mit
ausdrücklicher Erlaubnis der EU rechtssetzend tätig
werden. Auch die Währungspolitik fällt, soweit der
Euro-Raum betroffen ist, in die ausschließliche Kompetenz der
europäischen Institutionen. Gleiches gilt für und die
Erhaltung der biologischen Meeresschätze (im Rahmen der
gemeinsamen Fischereipolitik).
Dagegen gilt für die Bereiche der geteilten
Zuständigkeit grundsätzlich das Prinzip der
Subsidiarität. Die EU besitzt also nur dann
Entscheidungskompetenzen, wenn die zu lösenden Aufgaben nicht
auch von den nationalen und regionalen Instanzen übernommen
oder von ihnen sogar besser erfüllt werden können.
Gemeint sind spezifische Probleme des Binnenmarktes, die geplante
Schaffung eines "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechtes" sowie die Ausgestaltung der Umwelt- und
Verbraucherpolitik. Für die Forschungs- und
Entwicklungspolitik soll gesondert der Grundsatz gelten, dass ein
Tätigwerden der EU die Mitgliedstaaten nicht an der
Ausübung ihrer bestehen bleibenden Zuständigkeit
hindert.
Für die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik werden
die Kompetenzen nach dem Verfassungsentwurf ebenfalls nur sehr
allgemein beschrieben. Artikel 14 bestimmt lediglich, dass die
Union "Maßnahmen zur Koordinierung dieser Politiken,
insbesondere durch die Ausarbeitung von Grundzügen für
die Wirtschaftspolitik und Leitlinien für die
Beschäftigungspolitik" beschließt. Zum Thema Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik heißt es, dass die
Mitgliedstaaten die in diesem Bereich beschlossenen Rechtsakte der
Union beachten "und keine den Interessen der Union zuwiderlaufenden
Handlungen treffen". Beschlüsse müssen jedoch im
wesentlichen weiterhin einstimmig gefasst werden
"Ergänzende Maßnahmen" können nach dem
Verfassungsentwurf auch für solche Politikbereiche getroffen
werden, für die EU keine Zuständigkeit besitzt. Gemeint
ist zum Beispiel die Unterstützung und Koordinierung von
Vorhaben zur Förderung der Mobilität von Studenten mit
dem Erasmus-Programm. Über die Frage, ob eine
Gesetzesinitiative in die Kompetenz der EU fallt, wird dennoch auch
künftig der Europäische Gerichtshof zu entscheiden haben.
Die nationalen Parlamente und Regionen werden jedenfalls an der
Diskussion über Zuständigkeiten der EU stärker
teilnehmen können als bisher. Gedacht ist an eine Art
"Frühwarnsystem", das eine rechtzeitige Bewertung der
geplanten Maßnahmen ermöglicht. So soll die Kommission
verpflichtet werden, vor Beginn eines Gesetzgebungsverfahrens breit
angelegte Anhörungen vorzunehmen. Zur Begründung jedes
Richtlinien- oder Verordnungsvorschlages muss sie einen
"Subsidiaritätsbogen" mit detaillierten Angaben über die
rechtliche Basis vorlegen.
Jedes nationale Parlament erhält die Vorschläge
für neue Rechtsakte in Zukunft zum gleichen Zeitpunkt wie der
Ministerrat und das Europaparlament. Innerhalb von sechs Wochen
kann es sich dazu äußern, ob das
Subsidiaritäts-Prinzip beachtet wurde. Fallen mehr als ein
Drittel der abgegebener Stimmen kritisch aus, muss die Kommission
ihren Vorschlag überprüfen.
Der Verfasser ist freier Journalist in Brüssel.
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