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Heribert Korfmacher
Es gibt keine Regierung und auch keine
Opposition
Die EU-Parlamentarier: Nur der Sache
verpflichtet
Sind die Mitglieder des Europäischen Parlaments frei
schwebende Wesen? Haben sie wirklich nichts mit dem zu tun, was in
der nationalen Politik und in den nationalen Parlamenten als
wichtig und vorrangig angesehen wird? Zunächst wohl einmal
nicht. Denn um nach Europa geschickt zu werden, muss man sich
bekanntlich zunächst einmal um einen Platz auf der Wahlliste
seiner Partei bewerben. Dazu gehört die möglichst volle
Übereinstimmung mit dem, was die jeweilige Partei von Europa
erwartet. Und dafür soll der Kandidat stehen. Dann muss man
versuchen, den Bürgern im Wahlkreis deutlich zu machen, dass
man ihre Interessen in Europa im Sinne der jeweiligen Partei
vertreten möchte. Hat man diese Hürden überwunden
und das Mandat in der Tasche, dann beginnen für den
Europaabgeordneten die Schwierigkeiten.
Wie soll er eines Tages seinen heimischen Wählern
erklären, dass ausgerechnet die besonderen,
bodenständigen kulinarischen Spezialitäten, für die
sein Wahlkreis seit Generationen bekannt ist, irgendwelchen
europäischen Richtlinien über Lebensmittelsicherheit
unterworfen werden müssen, wo doch seit Jahrzehnten eigentlich
nichts auszusetzen war an diesen Spezialitäten. Oder wenn
Frankfurter Würstchen sich auch dann so nennen dürfen,
wenn sie irgendwo anders her kommen. Europa ist eben nicht nur
Vielfalt, sondern bedeutet auch Vereinheitlichung einerseits und
Durchlässigkeit andererseits.
Vorbei die Zeiten, in denen Renault-Lastwagen nicht in
Deutschland verkauft werden durften, nur weil sie die DIN-Norm
für eine bestimmte Schraube am Hinterradgetriebe nicht
erfüllten. Welcher deutsche Konkurrent mag wohl damals
dafür gesorgt haben? Europa hat alle die überholt, die
aus Eigennutz am Bestehenden festhalten wollten. "Gemeinsamer
Binnenmarkt" heißt die Zauberformel. So gibt es derzeit
großes Kopfzerbrechen über das deutsche Dosenpfand, wie
es ehedem schon die deutschen Bierbrauer hatten, die nur nach dem
Reinheitsgebot hergestellte Biere über deutsche Tresen gehen
lassen wollten. Für solches und anderes werden "die da in
Brüssel" verantwortlich gemacht. Nicht nur die Institutionen
wie Kommission und Ministerrat, sondern auch das Europäische
Parlament und somit die Abgeordneten.
Spielregeln auch für Abgeordnete
Letztere haben es zwar immer wieder geschafft,
übertriebene, von übereifrigen Bürokraten
ausgedachte Verordnungen zu Fall zu bringen. Den Grundregeln der EU
aber, dem gemeinsamen freien Markt und dem Gebot der
Nichtdiskriminierung, sind auch sie unterworfen. Die Spielregeln
sind in allen Ländern der Union nun einmal die selben. Und das
müssen auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments
lernen, wenn sie es nicht schon aus längerer Erfahrung auf
diesem Posten bereits verinnerlicht haben. Und jeder Abgeordnete
ist zudem mit einer ganz anderen, neuen Dimension konfrontiert. Er
findet sich plötzlich in Fraktionen mit Kolleginnen und
Kollegen aus anderen EU-Staaten wieder, die zwar auch den Namen
christlich, liberal, sozial oder wie auch immer
gesellschaftspolitisch motiviert in ihrer Partei tragen, aber
dennoch andere Schwerpunkte, aus der nationalen Tradition bedingt,
verfolgen. Holländische Christdemokraten haben in vielen
Dingen eine andere Auffassung als deutsche, aber man ist sich in
einigen Grundlinien einig. Dies gilt für alle nationalen
Parteien, welcher Couleur auch immer.
Also gilt es, sich zunächst einmal in der Fraktion zusammen
zu raufen. Auch dies ist ein persönlicher europäischer
Werdungsprozess. Und dann stellt man meist schon sehr schnell bei
der Arbeit in den diversen Kommissionen fest, dass auch Abgeordnete
anderer politischer Denkweisen in den Sachfragen gar nicht so weit
von der eigenen Meinung entfernt sind. Und dann kommt man zusammen,
der Sache Europa zuliebe, für die man sich ja einsetzen
möchte. Spätestens dann stellt man auch fest, dass die
nationale Dimension gar nicht mehr die ausschlaggebende ist,
sondern das Wohl aller Bürger Europas.
Es geht ja nicht nur darum, den einen oder anderen zu
bürokratisch formulierten Vorschlag der Brüsseler
Kommission kritisch unter die Lupe zu nehmen und nach
Bürgerfreundlichkeit zu überprüfen. Europas
Abgeordnete sind besonders dann gefragt, wenn sich der eine oder
andere Ministerrat nach oftmals langen Sitzungen, weil jeder seine
nationalen Interessen einbringen möchte, auf die eine oder
andere Kompromissformel geeinigt hat und sie dann dem Parlament zur
Abstimmung vorlegen muss. Das sind dann die eigentlichen
Sternstunden des Europäischen Parlaments. Es kann dem
Ministerrat, aber auch der EU-Kommission auf die Finger
klopfen.
Es hat sich seit den ersten direkten Wahlen im Jahre 1979
Schritt für Schritt immer mehr Mitentscheidungsbefugnisse
erstritten. Natürlich spielte dabei auch das "demokratische
Gewissen" der EU-Mitgliedsländer eine entscheidende Rolle. Wie
kann man beispielsweise demokratische Grundregeln aufstellen
für potenzielle Neumitglieder, wenn man sich selbst nicht an
das Prinzip der parlamentarischen demokratischen Kontrolle
hält? Nationale Parlamente sind ganz einfach überfordert,
haben oftmals den Überblick nicht, wenn es um die
europäische Dimension geht. Dies kann eben nur ein
Europäisches Parlament. Und so wurden logischerweise, aber
zunächst auch lediglich schrittweise, durch die Verträge
von Maastricht und Amsterdam die Rechte und Befugnisse des
Europäischen Parlaments ausgeweitet, um der neuen
Realität Rechnung zu tragen. Ein logischer Vorgang.
Oft hapert es mit der Umsetzung
Wenn Verordnungen und Richtlinien, so die Umschreibung für
gesetzliche Erlasse auf europäischer Ebene, dort alle
Hürden, eben auch die des Parlaments genommen haben,
müssen sie von den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten
noch formell als nationales Recht verabschiedet werden. Dass es bei
der Umsetzung oftmals hapert, ist ein anderes Kapitel. Dafür
aber hat die EU-Kommission als Hüterin der EU-Verträge
und als Vollstreckerin der verabschiedeten Gesetze noch einen
"Knüppel im Sack", nämlich die säumigen
Mitgliedsstaaten vor den Europäischen Gerichtshof zu
bringen.
Mitentscheidung in allen Bereichen ist das Schlüsselwort
für das EP und somit für die gesamte EU-Gesetzgebung
geworden. Es gibt nur noch zwei, wenn auch gravierende Defizite,
die aber in hoffentlich nicht allzu langer Zeit auch der
Vergangenheit angehören werden: In Fragen der Agrar- und
Steuerpolitik kann das EP nur eine Stellungsnahme abgeben.
Ministerrat und Kommission sind nicht daran gebunden.
Das Recht der Mitentscheidung aber hat aber bei den
Europaabgeordneten, egal welcher politischen Couleur, ganz
entschieden dazu beigetragen, dass sie sich loslösen konnten
von Rücksichtnahmen auf nationale oder sogar heimische
parteipolitische Interessen. Für sie ist nicht
ausschlaggebend, wer zu Hause an der Regierung oder in der
Opposition ist. Sie müssen ja nicht über einen heimischen
Regierungsvorschlag entscheiden, sondern ab Mai dieses Jahres
über das, was 25 Regierungen im Ministerrat der EU aushecken.
Und dabei geht es gar nicht anders, als die Interessen aller
Bürger Europas zu wahren, und nicht nur an heimischen
Wähler denken, die einem ihre Stimme gegeben haben. Nationale
politische Absichten werden im Ministerrat ausgefochten. Ob dies
auch allen Bürgern der Union gerecht wird, darüber haben
die Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu wachen. Und
das macht einen deutschen, niederländischen oder
französischen Abgeordneten eben zum Anwalt nicht nur der
eigenen Wähler, sondern ab jetzt auch der Esten, Slowenen,
Polen oder Malteser, um nur einige der Neueuropäer zu nennen.
Es geht um die Sache, um das Gemeinwohl für alle Bürger
Europas, und nicht um die Frage, wer zu Hause regiert. Vielleicht
wird eines Tages auch der Wähler bei nationalen Wahlen den
Kandidaten die Frage stellen, was sie denn eigentlich für
Europa tun.
Die europäische Entwicklung hat inzwischen den
Europaabgeordneten einen Freiraum verschafft, an den man
früher auch in den Hauptstädten nicht so recht glauben
wollte, früher, als die Abgeordneten von den nationalen
Parlamenten nach Europa abgeordnet wurden, um eine
"parlamentarische Versammlung" zu spielen. Mit den ersten
Direktwahlen zum EP 1979 wurde die Sache endgültig ernster
genommen. Jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück. Woran es noch
mangelt, ist, dass die nationalen Politiker endlich dem
Wahlbürger erklären, dass auch ihre lokalen Sorgen und
Nöte nicht ohne die europäische Dimension gelöst
werden können. Dann würden die Bürger die Wahlen zum
Europaparlament wohl auch ernster nehmen und vermehrt zur Wahlurne
gehen.
Der Autor ist freier Journalist in Brüssel.
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