Karl-Otto Sattler
Nicht ganz einfache Kontakte
Der Bundestag will mehr Einfluss auf die
EU-Politik
Ein Ort der Superlativen: der Europasaal. Auf
die Spree bietet sich ein grandioser Blick. Kein sonstiger
Ausschuss des Parlaments trifft sich so hoch oben im
Bundestagskomplex, nämlich in einem oberen Geschoss der
großen Rotunde des Paul-Löbe-Hauses. An die 261
Quadratmeter Fläche reicht kein Raum einer anderen Kommission
der Volksvertretung heran. Dolmetscherkabinen und Technikräume
machen diese Lokalität obendrein kongressfit. Mit einem
gewissen Stolz ist denn auch in einer Präsentation des
Europa-Ausschusses davon die Rede, dass dessen Sitzungssaal "die
gehobene Stellung" dieses Gremiums im Bundestag
repräsentiere.
Von all den Vorzügen des Europasaals
bekommt Dagmar Roth-Behrendt leider nur recht selten etwas mit.
Eigentlich sollte die SPD-Politikerin ja regelmäßig zu
Gast sein im Europa-Ausschuss: Schließlich zählt die
Berlinerin zu den 14 deutschen EU-Parlamentariern, die als
Delegierte ohne Stimmrecht in dieses Gremium entsandt werden - das
auf diese Weise mit seinen 33 Bundestagsabgeordneten als
ordentlichen Mitgliedern den größten Ausschuss der
deutschen Volksvertretung bildet. Doch Roth-Behrendt war, wie sie
sich erinnert, in den langen Jahren ihrer Straßburger
Tätigkeit bei gerade vier oder fünf Sitzungen in Bonn
oder Berlin dabei. "Das scheitert schlicht an
Terminüberschneidungen", sagt die EU-Deputierte. Der Berliner
Ausschuss komme nämlich stets dann zusammen, wenn die
EU-Parlamentarier durch eigene Treffen in Brüssel oder
Straßburg gebunden seien. Roth-Behrendt verhehlt ihren Unmut
gegenüber den Bundestags-Kollegen nicht, die auf Wünsche
nach besseren Absprachen bislang nicht eingegangen
seien.
Von "kontinuierlichen Kontakten" zwischen den
Abgeordneten des deutschen und des EU-Parlaments könne man
bisher nicht reden, konstatiert Roth-Behrendt nüchtern. Vieles
hänge vom direkten persönlichen Engagement einzelner
Politiker auf informeller Ebene ab. Pläne, Konzepte,
Strategien zur Intensivierung der Beziehungen zwischen Bundestag
und EU-Deputiertenkammer "werden Makulatur bleiben, wenn man keine
besseren Terminkoordination zustandebringt".
Den Eindruck, das deutsche Parlament bleibe
bei der EU-Politik eher etwas außen vor, hat offenbar auch
Peter Altmaier. Der CDU-Bundestagsabgeordnete spricht von einem
"generellen Problem" der hiesigen Volksvertretung, die der
Mitgestaltung und der Umsetzung von EU-Recht noch zu wenig
Beachtung schenke. Der Bundestag bringe eigene Positionen nur
unzureichend in die EU-Politik ein. Was in Brüssel und
Straßburg laufe und beschlossen werde, resümiert der
Saarländer, "ist bislang vor allem Sache der Regierung, das
Parlament wacht oft zu spät auf".
Von mangelndem Einfluss des Bundestags und
besonders des Europa-Ausschusses auf EU-Ebene will dessen
Vorsitzender Matthias Wissmann nicht reden. Der CDU-Politiker
verweist darauf, dass Günter Verheugen, Michaele Schreyer und
andere Brüsseler Kommissare immer wieder zu Gast seien. Ebenso
lade man öfter Berichterstatter des EU-Parlaments ein, die in
der Straßburger Kammer für die jeweiligen Themengebiete
die zentralen Schaltstellen sind. Bei diesen Begegnungen werde, wie
der Baden-Württemberger betont, durchaus auch kritisch
diskutiert. Prinzipiell gehen alle Brüsseler Richtlinien von
der Lebensmittelqualität über Wirtschaftswettbewerb oder
die Regionalförderung bis zur Entsorgung von Altautos zwecks
Begutachtung durch die Bundestags-Fachkommissionen und durch den
Europa-Ausschuss. Vertieft beraten wird indes nur eine Minderheit
der zahlreichen EU-Gesetze, die für die Mitgliedsstaaten
verbindlich sind.
Wissmann: "Bei diesen Erörterungen
zeigen wir Brüssel zuweilen die gelbe oder auch schon mal die
rote Karte, und das verfehlt seine Wirkung nicht." So habe man etwa
eine Entschärfung der von der EU geplanten Vorschriften
für Werbung erreicht, erläutert der Unions-Politiker. Ein
vorrangiges Thema im Europa-Ausschuss war der Entwurf für die
geplante europäische Verfassung. Für die Verankerung des
Subsidiaritätsprinzips im EU-Grundgesetz habe im Konvent in
vorderster Front zwar Baden-Württembergs
Ministerpräsident Erwin Teufel gefochten, "doch der hatte in
diesem zentralen Punkt unseren Rückenwind", so Wissmann. Im
Übrigen habe sich der Bundestag auch für die Erweiterung
der Kompetenzen des Straßburger Parlaments in der Verfassung
stark gemacht. Da habe man parteiübergreifend
gehandelt.
Auch wenn Wissmann auf den Einfluss des
Bundestags in Brüssel und Straßburg pocht: So richtig
konkret fassen lassen sich die Beziehungen zwischen deutschem und
EU-Parlament nicht. Die Kontakte gelten als "ausbaufähig".
Eine solche diplomatische Formulierung findet Dagmar Roth-Behrendt
recht treffend. Die SPD-Politikerin weist darauf hin, dass den
nationalen Parlamenten im EU-Geflecht bisher keine
institutionellen, keine formellen Mitbestimmungsrechte zuerkannt
sind. In dieser unklaren Rolle dürfte der eigentliche Grund
für das etwas diffuse Bild zu suchen sein, das sich die
Öffentlichkeit von den Beziehungen zwischen Bundestag und
EU-Volkvertretung macht.
Parlamente wachen in erster Linie über
ihre heimischen Regierungen: Die Abgeordneten sollen deren
Europa-Politik kontrollieren und mit eigenen Vorschlägen
puschen. Das ist natürlich ein etwas mühsamer Weg,
sozusagen durch die Hintertür. So sinnen denn die
Volksvertretungen aller Staaten auf mehr
Mitsprachemöglichkeiten bei der EU-Gesetzgebung. Wissmann etwa
schwebt die Einrichtung eines Informationsbüros des Bundestags
in Brüssel vor: "Wir müssen frühzeitiger über
die Tendenzen in der EU-Politik unterrichtet werden, um uns schnell
und effektiv einschalten zu können."
Hoffnungen setzt man beim Bundestag auf die
neue EU-Verfassung, so sie denn in Kraft treten sollte. In deren
Entwurf werden nämlich den nationalen Parlamenten gewisse
Rechte gegenüber der EU-Politik zugestanden, und zwar bei der
Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips: Die
Zuständigkeiten der Volksvertretungen in den
Mitgliedsländern sollen nicht entkernt werden, Brüssel
und Straßburg sollen sich nicht über Gebühr in die
Gesetzgebung auf heimischer Ebene einmischen. So wird jedes
nationale Abgeordnetenhaus künftig vor dem Europäischen
Gerichtshof in Luxemburg gegen die Verletzung des
Subsidiaritätsprinzips durch Brüssel klagen können.
Überdies muss künftig die EU-Kommission Entwürfe
für Richtlinien überarbeiten, wenn ein Drittel der 25
Parlamente Widerspruch einlegt, erläutert Peter
Altmaier.
In Gestalt des CDU-Politikers Altmaier und
des hessischen SPD-Abgeordneten Michael Roth hat der
Europa-Ausschuss schon mal zwei Subsidiaritäts-Beauftragte
ernannt, die sich um dieses Thema kümmern sollen. Die deutsche
Volksvertretung und die französische Nationalversammlung
wollen auf diesem Feld gemeinsam vorgehen, Bundestagspräsident
Thierse und sein Pariser Kollege Debré haben eine solche
Zusammenarbeit vereinbart. Wie diese Kooperation konkret aussehen
wird, ist noch offen, die Franzosen müssen ihre beiden
Vertreter noch benennen. "Unabhängig vom Inkrafttreten der
EU-Verfassung sollten wir ein politisches Frühwarnsystem
installieren", meint Altmaier. Schon seit 1989 treffen sich
Abgesandte der Europa-Ausschüsse der nationalen Parlamente
sowie Mitglieder der Institutionellen Kommission der
Straßburger Kammer halbjährlich zum Erfahrungsaustausch
im "Cosac"-Forum, das freilich einen nur informellen Charakter hat
und keine bindenden Beschlüsse fassen kann.
Nicht zu übersehen ist die politische
Konkurrenz zwischen den Volksvertretungen der Mitgliedsländer
und dem EU-Abgeordnetenhaus: Je mehr Zuständigkeiten die eine
Seite hat, desto weniger Kompetenzen hat die andere. Die
EU-Abgeordnete Roth-Behrendt kann der Tatsache durchaus viel
abgewinnen, "dass in der Umweltpolitik und beim Verbraucherschutz
inzwischen 90 Prozent der Entscheidungen in unserem Parlament
getroffen werden". Von "Konkurrenz" mag indes niemand gern reden.
Matthias Wissmann etwa spricht lieber von einem "gesunden
Wettbewerb". Es sei ein "offener Prozess", wie sich das
Verhältnis zwischen dem Bundestag und der Straßburger
Deputiertenkammer entwickeln werde.
Die SPD-Politikerin Roth-Behrendt rät
den Berliner Abgeordneten, sich in erster Linie gegenüber der
Regierung von den Ministern bis zu einzelnen Fachabteilungen in den
Ressorts mehr Geltung und so mehr Einfluss auf die Brüsseler
Politik zu verschaffen.
"Der Europa-Ausschuss", sagt Vorsitzender
Wissmann, "hat an Gewicht gewonnen." Immerhin zählt diese
Instanz zu den wenigen Ausschüssen, die im Grundgesetz
verankert sind und deren Einsetzung in jeder Legislaturperiode
zwingend vorgeschrieben ist. Doch der Bundestag müsse bei der
Kontrolle der EU-Kommission und des Europäischen Rats noch
besser werden. Wissmann: "Unser Ausschuss sollte seine Kompetenzen
offensiver wahrnehmen."
Karl-Otto Sattler ist freier Journalist in
Berlin.
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