Hartmut Hausmann
Ein Leben aus dem Koffer: die zum Pendeln
verurteilten Volksvertreter
Straßburg - Brüssel - Luxemburg: Das
Europäische Parlament "leistet" sich drei
Arbeitsorte
Straßburg, 30. April 2004: Hektische Bauarbeiten vor dem
Straßburger EU-Parlament. Buchstäblich in letzter Minute
vor der EU-Erweiterung am ersten Mai wurden die Auffahrten und
Vorplätze vor dem Parlament neu gestaltet und gepflastert. Es
musste Platz geschaffen werden für die zehn Fahnenmasten der
neuen Mitgliedsländer. Die 18 Meter hohen Masten waren erst
kurz zuvor mit einem Tieflader aus der Danziger Solidarnosc-Werft
in der elsässischen Metropole eingetroffen.
Parlamentspräsident Pat Cox hatte dies angeregt, weil in
dieser Werft die friedliche Revolution im damaligen Ostblock
eingeläutet worden war.
Am 3. Mai wurden dann im Beisein des früheren polnischen
Präsident Lech Walesa in einer feierlichen Sitzung des
Europaparlaments die neuen Abgeordneten begrüßt. Ein
Plenarsaal, der einmal wirklich voll besetzt ist, Gedränge auf
den Gängen und überfüllte Parkplätze. Zwei Tage
debattierten die Europaabgeordneten noch, dann verabschiedeten sich
die Parlamentarier in den Wahlkampf, das Heer der Beamten und
Mitarbeiter kehrte, abgesehen von einer kleinen Stallwache, wieder
an ihre Arbeitsplätze in Luxemburg und Brüssel
zurück. Die riesige Parlamentsanlage mit Plenarsaal, mehr als
2.500 Büros und über 40 Sitzungssälen versinkt bis
Anfang September in einen Dornröschenschlaf. Dieser wird nur
einmal Ende Juli für knapp drei Tage zur konstituierenden
Sitzung des neu gewählten Parlaments unterbrochen.
Unter Effizienzgesichtspunkten ein ungeheuer Luxus, den sich die
EU mit drei Arbeitssitzen in Brüssel, Straßburg und
Luxemburg leistet. Für den ehemaligen Präsidenten der
EU-Kommission, Jacques Delors, war diese Lösung der Sitzfrage
des Parlaments absurder als selbst die Filme der Marx-Brothers.
Doch nach den Beschlüssen des EU-Gipfels von Edinburgh und mit
dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags ist die Rechtsfrage
geklärt: Straßburg ist der Sitz des Parlaments und die
beiden anderen Hauptstädte sind nur Arbeitsorte, auch wenn
sich die Hauptarbeit auf Brüssel konzentriert.
Seit seinem Bestehen trägt das Parlament schwer an der
Binsenweisheit, dass nichts dauerhafter ist als ein Provisorium.
Seither ist die Volksvertretung der EU-Bürger zu einem
Pendlerdasein verdammt. Drei Arbeitsorte in drei Ländern haben
ihr das Etikett "Wanderzirkus" eingetragen. Das Nomadisieren
zwischen Brüssel, Luxemburg und Straßburg erfordert eine
Logistik, die das EP einigartig in der Welt macht.
Das sich mit Ausnahme des Ferienmonats August jeden Monat mit
gleicher Umdrehung rotierende Karussell beginnt jeweils mit einer
Plenarsitzungswoche in Straßburg, der zwei Wochen mit
Ausschuss- und Fraktionssitzungen in Brüssel folgen. Die
restlichen Tage des Monats sind für besondere Veranstaltungen
oder die stets zu kurz kommende Arbeit im Wahlkreis vorbehalten.
Seitdem aber zusätzlich auch in Brüssel ein riesiges
Parlamentsgebäude errichtet wurde, gibt es in der belgischen
Metropole sechsmal im Jahr zusätzlich zwei halbtägige
Plenarsitzungen. Das Sekretariat des Parlaments wiederum hat seinen
Sitz in Luxemburg, allerdings seit einigen Jahren mit deutlicher
Ausdünnung des Personals zugunsten Brüssels. Um unter
diesen erschwerten Bedingungen die Arbeitsfähigkeit der nun
mehr als 750 Europaparlamentarier zu gewährleisten,
müssen diese ebenso wie ihre unmittelbaren Mitarbeiter vor und
nach jeder Straßburger Sitzung ihre Unterlagen in ebenso viele
stählerne Transportkisten in Form überdimensionierter
Koffer von Weltenbummlern verpacken, damit sie mit einer Flotte
Lastwagen von Luxemburg und Brüssel in die elsässische
Metropole gebracht und wieder zurück transportiert werden. Das
Gleiche gilt für die rund 1.300 Angestellten und Beamten des
Europäischen Parlaments, die ständig reisen müssen
und eigentlich nirgendwo zu Hause sind. Dank der elektronischen
Kommunikation ist die Transportmenge vor allem an Papier in den
letzten Jahren nicht weiter angewachsen.
Bei diesem regelmäßigen Aufmarsch herrscht
während der viertägigen Plenarsitzung pro Monat in
Straßburg fast Belagerungszustand. Polizeiposten und
-patrouillen an allen Ecken der Stadt lassen es wissen: Die
Europäer sind wieder da. Der Sicherheitsaufwand gilt nicht nur
jenen gewählten Volksvertreter aus den 25
Gemeinschaftsländern. Auf jeden von ihnen kommt noch
mindestens eine Bürokraft "für den Eigenbedarf". Je nach
Tagesordnung reisen zudem zwischen 1.000 und 2.000
Parlamentsbedienstete aus Brüssel oder aus Luxemburg an.
Übersetzer, Dolmetscher und Schreibkräfte machen
teilweise bis zu 60 Prozent des ambulanten Parlamentspersonals
aus.
Kein Wunder, dass viele der Betroffenen des Reisens müde
sind. Seit gut zwei Jahrzehnten herrscht deshalb ein erbittertes
Ringen um einen ständigen, festen Sitz des Parlaments an nur
einem Ort. Nach den Grundlagenverträgen der Gemeinschaft
standen die Mitgliedsregierungen 35 Jahre lang in der
Verpflichtung, "im Einvernehmen den Sitz der Organe der
Gemeinschaft zu bestimmen". Doch alle Versuche endeten damit, der
Status quo sei beizubehalten. Wie in Notwehr beschlossen darauf die
Parlamentarier, wenigstens Luxemburg von der Reiseroute zu
streichen.
Ob die Münze für Straßburg oder Brüssel
fällt, ist in der Tendenz wohl entschieden. Vor gut 15 Jahren,
als der Vorschlag, beiderseits des Rheins einen Euro-
districkt zu gründen, lanciert wurde, hatte Straßburg
als Symbol der Überwindung alter nationale Erbfeinschaften
noch eine Chance. Dem Konzept Straßburg, mit einer
Konzentration aller Parlamentsdienstellen, hätten sich die
Abgeordneten damals wohl nicht widersetzt. Ob sich in Zukunft ein
möglicherweise gestärktes Parlament seinen Sitz
vorschreiben lässt, ist eher unwahrscheinlich.
Der Autor ist EP-Korrespondent der Wochenzeitung "Das
Parlament".
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