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Johannes L. Kuppe
Die Ängste der Deutschen und ihre Chancen in
Europa
Ist Deutschland auf die EU-Erweiterung
vorbereitet?
Die Jubelraketen sind noch nicht alle verglüht, da melden
sich schon in den Medien jene kritischen Stimmen, welche die
EU-Erweiterung für "verfrüht" erklären, die das neue
Europa - nun 455 Millionen Menschen in 25 Ländern - für
"eine Frühgeburt" halten, die noch "lange Zeit im Brutkasten
wird verbringen müssen".
Aber müssen wir Deutschen uns wirklich Sorgen machen? In
der Tat ist das europäische Szenario wenige Tage nach dem
Maifeuerwerk nicht gerade ermutigend. Im reichen Alt-Europa gibt es
Streit, wie die neue Verfassung am besten zu legitimieren sei -
allein durch die Regierungen oder durch direkte Beteiligung der
Völker. In den armen Beitrittsländern treten
Regierungschefs zurück, werden Staatspräsidenten aus dem
Amt gejagt und West-Investoren ins Land gelockt. Die Republik
Zypern hat alle reingelegt, ihre Nordzyprer lässt sie nicht in
die EU, obwohl vorher hoch und heilig versprochen.
Die meisten alteuropäischen Sorgen richten sich auf den
ökonomischen Bereich. Man fürchtet die möglichen
Arbeitsmigranten, die hier die Arbeitslosigkeit erhöhen
könnten. Schließlich beträgt der Durchschnittslohn
in den neuen Mitgliedsländern nur 13 Prozent des deutschen.
Doch wo sollten diese Menschen Arbeit finden, wenn es schon
für 4,5 Millionen Deutsche keine gibt? Man fürchtet auch
Belastungen für die alten Nettozahler wie Deutschland, obwohl
doch zum Beispiel nach Polen erst in zwei Jahren lediglich zehn
Prozent des EU-Nettotransfers fließen werden, den vor zwei
Jahren noch Spanien allein erhielt.
Fünf Journalisten befanden kürzlich im
ARD-"Presseclub", dass sich das Land in einer "trostlosen Lage"
befindet. Zu wenig Wirtschaftswachstum, zu große drohende
Haushaltslöcher, zu viele Arbeitslose, zu wenig
Binnenkaufkraft, zu große Verunsicherung der Bevölkerung,
eine alles erstickende Perspektivlosigkeit, eine in
Einzelkämpfer zerfallende Regierungskoalition, eine kaum
Vertrauen erweckende, ebenfalls zerstrittene Opposition und
ähnliches mehr. Der Ausländer, der heute Deutschland
besucht, muss fürchten, dass hierzulande vielleicht schon
morgen die schwarzen Pestfahnen aufgezogen werden. Hat also
tatsächlich die rot-grüne Koalitionsregierung "ihre
Hausaufgaben nicht gemacht", wie von der Opposition behauptet wird?
Ist Deutschland zum "kranken Mann Europas" geworden (so der
"Economist") ?
Wenn man bei den Fakten bleibt, hellt sich das Bild freilich
etwas auf - auch wenn daraus noch keine gepflegte Landschaft wird.
Eine unleugbare, bedenkliche Tatsache bleibt, dass die deutsche
Wirtschaft seit 1994 das geringste Wachstum aller europäischen
Volkswirtschaften aufweist. Auf der Suche nach den Ursachen
für diese Entwicklung lohnt sich freilich, beide Seiten der
Medaille anzusehen. Wenn es stimmt, dass die Arbeitskosten in
(West-)Deutschland fünfmal höher sind als in Osteuropa,
von Asien noch abgesehen, höher auch als in den
westeuropäischen Nachbarstaaten, dann fragt man sich doch,
warum trotz allem, nach Berechnungen des Berliner DIW, die
deutschen Exporte seit 1998 deutlich stärker sind als in allen
anderen Industriestaaten und Regionen der Welt, einschließlich
Japan, den USA und der EU insgesamt. Sie haben, wie gerade
gemeldet, im ersten Quartal 2004 eine neue Rekordhöhe
erreicht.
Das hängt auch an der in Deutschland stärker als
anderswo gestiegenen Arbeitsproduktivität. Das macht
nämlich unsere angeblich viel zu hohen Lohnstückkosten
tatsächlich zu den nahezu günstigsten im Vergleich mit
fast allen Konkurrenzwirtschaften. Folge dieser Entwicklung ist,
dass in den letzten fünf Jahren in Europa nur Frankreich mehr
ausländische Direktinvestitionen ins Land gelockt hat als
Deutschland. Die Dresdner Bank und andere Sachverständige
halten daher das Problem der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands
für gelöst. Das gelte auch dann, wenn man
berücksichtigt, dass es einzelne deutsche Unternehmen nach der
Osterweiterung künftig etwas leichter haben werden, Betriebe -
bis heute in der Regel nur Betriebsteile - Richtung Osteuropa zu
verlagern. Vom Gesamtvolumen spielt das jedoch vorläufig
volkswirtschaftlich keine große Rolle, zumal einige große
Unternehmen schon lange dort vertreten sind.
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im
Bundestag, Friedrich Merz, hat erst kürzlich eine
Rückführung der Staatsquote gefordert, so, als ob eine
positive Korrelation zwischen niedriger Staatsquote und starkem
Wachstum bestünde - was nebenbei gesagt von Mitgliedern des
Wirtschaftssachverständigenrates bestritten wird. Lohnt sich
also in Deutschland Arbeit deswegen nicht, weil der Staat dem
Bürger zu viel Geld aus der Tasche zieht? Ziemlich gefehlt:
Addiert man nämlich die Steuer- und Sozialabgabenquote, so
findet man Deutschland erst auf dem achten Platz im alten
EU-Europa, wie die Bundesbank errechnet hat. Weniger Abgaben
garantieren also keineswegs Wachstum, zumal die Staatsquote heute
in Deutschland ungefähr so hoch wie vor 30 Jahren ist. Rund um
uns herum ist sie dagegen zum Teil erheblich gestiegen. Kurzum: In
Deutschland ist der Staat tatsächlich weniger erdrückend
als in prosperierenden Nachbarwirtschaften.
Ein weiteres leidiges Thema ist der Arbeitsmarkt.
BDA-Präsident Hundt hört nicht auf zu klagen, die
Deutschen müssten für weniger oder das gleiche Geld mehr
arbeiten und der Arbeitsmarkt müsse von Grund auf
liberalisiert werden. Nun steht fest, dass nach einer Statistik der
Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) von Mitte 1997 bis Mitte
2001 über 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden
sind - neben der seit zehn Jahren ständig steigenden Zahl von
Arbeitslosen. Man übersieht dabei leicht, dass in keinem
europäischen Industriestaat die Erwerbsneigung der 25- bis
55-Jährigen so stark gestiegen ist wie in den letzten Jahren
in Deutschland. Forderungen nach Enttarifisierung erweisen sich
zudem als nicht stichhaltig, wenn in Betracht gezogen wird, dass
gerade in den neuen Ländern, wo nur noch 30 Prozent der
Betriebe an den Flächentarifvertrag gebunden und die
Löhne am niedrigsten sind, die Arbeitslosigkeit am
höchsten ist. Der amerikanische Nobelpreisträger Solow
ist daher auch der Auffassung, dass selbst ein völlig
liberalisierter Arbeitsmarkt kaum einen entscheidenden
Wachstumsimpuls liefern kann. Jedenfalls kurzfristig nicht.
Beim Gerede über Deutschlands angeblichen Abstieg muss
immer wieder an ein deutsches Sonderproblem erinnert werden. Erst
langsam setzt sich bei uns die Erkenntnis durch, dass bei der
Vereinigung Deutschlands, zumindest ökonomisch, etwas schief
gelaufen sein muss. Die hohen, politisch gewollten
Transferleistungen der alten Länder (bisher rund eine Billion
Euro) sind in zu großem Umfang in den Konsum statt in Wachstum
erzeugende, selbsttragende Investitionen geflossen. Und bis heute
müssen die alten Länder rund vier Prozent ihres
Bruttoinlandsproduktes in die neuen leiten. Dies belastet die
Wirtschaftsleistung Deutschlands stärker als die der immer
wieder gelobten westlichen Konkurrenten und darf bei einer
Gesamtbilanz nicht vergessen werden.
Dieses Bild ist noch unvollständig. Die KfW hat
nämlich einmal die Kosten der in den neuen Ländern
zusammengebrochenen Baubranche herausgerechnet, und da zeigt sich
erstaunlicherweise, dass die jährliche Wachstumsrate des
Bruttoinlandsproduktes Deutschlands die der EU (ohne Deutschland)
im Jahre 2000 sogar übertroffen hat, danach bis 2002 zwar
wieder - allerdings nur leicht - zurücklag, aber ebenso
schnell zunahm und erst 2003 wieder einen größeren
Abstand erreichte.
Und noch ein Umstand wird übersehen, wenn über den
Standort Deutschland an der Wende zum größeren Europa
räsoniert wird. Seit der Aufgabe der faktischen
europäischen Leitwährung Mark und der Einführung des
Euro 2002 steht Deutschland vor einem unverschuldeten Zinsproblem.
Zwar sind jetzt die Nominalzinsen in Europa überall gleich.
Doch Deutschland gereicht jetzt ein Vorzug zum Nachteil: Seine
niedrige Inflationsrate muss aus den Nominalzinsen rausgerechnet
werden, um die wirtschaftlich interessanten und für
Investitionsentscheidungen allein entscheidenden, vergleichsweise
stärker gestiegenen Realzinsen zu erkennen. Deren Anstieg aber
bremst das Wachstum hier stärker als in der übrigen EU,
wie Stefan Bergheim, Volkswirt bei der Deutschen Bank Research,
nachweist. Erschwerend kommt die restriktive, seit 1992 immer
zögerlichere Kreditvergabe der Finanzinstitute vor allem an
den Mittelstand hinzu, so die Bundesbank.
Keine Frage, die Lage ist schwierig genug. Die Bürger
fassen auch deshalb kein Vertrauen, weil ihnen ständig
eingeredet wird, Deutschland steuere ungebremst auf den Abgrund zu.
Befürchtungen, die EU-Erweiterung träfe Deutschland
angesichts seiner angeblich schlimmen Lage auf dem falschen
Fuß oder mache den Aufschwung noch schwieriger, sind also
Übertreibungen. Berücksichtigt man ferner, dass mit der
Erweiterung ungesättigte Märkte hinzu kommen, auf und zu
denen Deutschland über traditionell gute Bindungen
verfügt, sind wir an der Wende der europäischen
Entwicklung besser aufgestellt, als manche Kritiker uns Glauben
machen wollen.
Der Autor ist freier Journalist in Bonn.
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