Jeanette Goddar
Der Lehrer von morgen soll kein allwissender
Alleinunterhalter, sondern kollegialer Moderator sein
Heinrich-Böll-Stiftung: Die Bildungsreform
der Schulen ist auf einem guten Weg
Wer in der Gegenwart klar sehen will, tut gut daran, auch mal
einen Blick zurück zu werfen. Jürgen Baumert, deutscher
Pisa-Chef und damit so etwas wie ein Überbringer schlechter
Nachrichten von Berufs wegen, tut das zuweilen. Dann wird aus dem
Bildungsforscher, der den Deutschen 2001 beibringen musste, wie
schlimm es um ihre Schulen steht, einer, der regelrecht Optimismus
versprüht: Mitte der 90er-Jahre, sagt Baumert, hätte kein
Mensch für möglich gehalten, was seither geschehen sei:
"Bildung", sagt der Direktor des Max-Planck-Instituts für
Bildungsforschung, "ist endlich wieder Thema. Innerhalb wie
außerhalb der Schulen ist enorm viel in Bewegung."
Baumert sprach auf einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung,
die am ersten Juni-Wochenende mehr als 250 Teilnehmer in die
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften geladen hatte.
Unter dem Titel "Selbstständig Lernen - Bildung stärkt
Zivilgesellschaft" stellte die grünennahe Stiftung die
vierjährige Arbeit ihrer Bildungskommission zur Diskussion;
die Bilanz fiel überwiegend positiv aus.
Statt ein ideologisches Gesamtkonzept zu erstellen, arbeitet
sich die Kommission Empfehlungen praxisnah an sechs drängenden
Problemen entlang. Erstens empfiehlt die Gruppe um die grüne
Bildungsvordenkerin Sybille Volkholz eine neue Form der
Finanzierung von Bildung, unter anderem mit Hilfe von
Bildungskonten und -gutscheinen. In der zweiten Empfehlung wird ein
neuer Weg zur Herstellung von Chancengleichheit gefordert. Jeder
Schüler, heißt es darin, habe das Recht auf individuelle
Förderung, auf Lernen in eigenem Tempo und analog zu seinen
eigenen Fähigkeiten. Die Schule soll darauf verpflichtet
werden, Schüler zu qualifizieren - und damit auch für
deren Scheitern in die Verantwortung genommen werden.
Als drittes formuliert die Kommission, dass nur in einer
autonomen Schule selbstbestimmt gelernt werden könne. Um die
Qualität selbstständiger Schulen zu sichern, sollen sie
regelmäßig verglichen und evaluiert werden. Viertens: Der
Lehrerberuf soll von Grund auf reformiert werden.
Der Lehrer von heute, formulierte Sybille Volkholz, sei zwar
hoch belastet - aber auch, weil er einen Teil der Belastung selber
produziere. In der Schule von morgen sollen Lehrer keine
allwissenden Alleinunterhalter, sondern kollegiale Moderatoren
sein; Partner von Schülern und Eltern und stets im
Gespräch mit allen um eine Verbesserung der Schule
bemüht.
Fünftens empfiehlt die Kommission, die ausufernden
Lehrpläne durch knappe Curricula mit klaren Zielvorgaben zu
ersetzen. Mindeststandards sollen festschreiben, was jeder
Schüler mindestens können muss.
In ihrer sechsten und letzten Empfehlung fordert die
Heinrich-Böll-Stiftung einen neuen Umgang der Schule mit
Migrantenkindern. Vielfalt an deutschen Schulen müsse
akzeptiert und als Ressource statt als Hindernis gesehen werden.
Jeder Schüler solle in der deutschen, aber auch in der
Muttersprache gefördert werden. Multikulturalität, die
zwischendurch in der Bildungsdebatte ein negatives Stigma bekommen
hat, wird damit wieder als etwas Positives belegt. Denn neu ist:
Jeder soll das Recht haben, seine Identität zu definieren.
Baumert lobte die "charmante Form des Pragmatismus", der aus den
Empfehlungen spreche - und bettete sie als eins von mehreren
Signalen für eine neue Ära in den Kontext der
Bildungspolitik seit den frühen 70er-Jahren ein. Nach
jahrelangen Ideologie-Debatten und anschließender
Auskühlung bis zur bildungspolitischem Lethargie sei
Bemerkenswertes in Gang gekommen: "Ihre Arbeit ist der beste Beweis
für die Veränderung", sagte Baumert in Richtung
Heinrich-Böll-Stiftung: "Endlich wird wieder über
Qualität und nicht nur dogmatisch diskutiert."
In der Tat ist die Klage über die Unmöglichkeit, das
Schulsystem zu reformieren, ebenso richtig wie ihr Gegenteil. Zwar
glauben nicht einmal die allergrößten Visionäre,
dass es in absehbarer Zeit gelingen könnte, die Selektion in
der deutschen Schule abzubauen und Unterricht für alle nach
finnischem oder schwedischem Vorbild einzuführen. Und auch die
in Skandinavien längst geglückte Reduktion der
Lehrpläne auf ein bis zwei Zentimeter dünne Kerncurricula
sind in weiter Ferne.
Aber immerhin: In einem für deutschen
Bildungsföderalismus fast revolutionären Akt haben sich
16 Kultusminister schon einmal auf die Einführung
einheitlicher Bildungsstandards verständigt. Nach den
Sommerferien wird eine nationale Qualitätsagentur mit Sitz in
der Berliner Humboldt-Universität ihre Arbeit aufnehmen. Diese
wird die Standards bundesweit einheitlich implementieren und
evaluieren. Damit könnte auch der unterschiedliche Ruf der
Bundesländer in ihrer Qualität der Anforderungen und
Ausbildung demnächst ein Ende haben.
Und auch das Stichwort "Selbständige Schule" ist nicht mehr
nur ein theoretisches. Zwar behandelt man es mancherorts vor allem
als Worthülse, anderswo aber ist man auf dem besten Wege
dorthin. Einige Bundesländer geben ihren Schulen inzwischen
lediglich viel Freiheit bei Budgetverwaltung, Profilbildung und
Personalauswahl; auch die Rolle der Schulleitungen ist hier und da
gestärkt worden. Und so wie die Millionen aus dem
Ganztagsschulprogramm schlimmstenfalls für eine
ganztägige Betreuungsanstalt aufgebracht werden, führen
sie besserenfalls zu neuen pädagogischen Konzepten.
Vor allem aber hat sich, seit man Schule nicht mehr als Theorie,
sondern als Lebenswelt betrachtet, eines gezeigt: Schulentwicklung
geht immer von der einzelnen Schule aus. Das heißt aber auch:
Wer sich auf den Weg machen will, der kann das tun. Und so manche
Schule ist längst unterwegs.
Download: www.boell.de
Buch: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.)
"Selbstständig lernen
Bildung stärkt Zivilgesellschaft
Sechs Empfehlungen der Bildungskommission der
Heinrich-Böll-Stiftung", Weinheim 2004
240 Seiten, EUR 16,90
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