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Claus-Peter Hutter
Das Volk der Tütenkocher
Wie Fehlernährung Bürger und
Landschaft krank macht
Es ist paradox: Für ihr liebstes Kind - das
Auto - kaufen die Deutschen teuerste Motorenöle und
Pflegemittelchen. Ihr eigener Motor - der Körper - ist den
meisten Deutschen jedoch nur billigstes Öl und Fett wert. So
wird auch die Jugend, die noch kritikloser als die Erwachsenen
teuer erkauften, aber inhaltlich billigen Fertigprodukten
gegenübersteht, immer dicker. Geht es um die Ernährung,
ist es um Deutschland zunehmend schlechter bestellt. Trotz eines
immensen Überflusses und einem schier unüberschaubarem
Warenangebots steckt das Land in einer Ernährungskrise. Dies
wird schon in den Küchen vieler Gaststätten deutlich.
Man müsste nur hinter die Kulissen
schauen können. Würden Sie in ein Lokal gehen, wenn Sie
von vornherein wüssten, dass da nicht wirklich gekocht wird?
Wohl eher nicht. Irgendwie erwarten wir doch, dass dort ein Koch
für uns Kochlöffel und Sahnebesen schwingt. Doch das ist
immer mehr die Ausnahme. Die Arbeit des so genannten Kochs besteht
in vielen Gaststätten, Restaurants und Hotels häufig nur
noch darin, dass er Dosen öffnet, Tüten und Plastikfolien
aufreißt, kübelweise Massenware umrührt und das
Ganze nur noch aufwärmt. Über 2.000 Restaurants - so
berichtete das Fachblatt tk-report (tk steht für
Tiefkühlkost) - bieten schon Paella aus der Kühltruhe an.
Dabei braucht man nur noch Wasser oder - wenn das Fertiggericht mal
richtig aufgemotzt werden soll - Fischsud hinzufügen. Ein
bisschen frisches Grün zur Deko oben drauf, und nach wenigen
Minuten kommt dann die dampfende, frisch aussehende Paella auf den
Tisch. Man braucht also nicht mehr Koch gelernt zu haben, um eine
Gaststätte betreiben zu können.
Doch haben Sie mal überlegt, wie es
möglich sein soll, ein komplettes frisch gekochtes Essen
für zehn oder zwölf Euro auf den Tisch zu bekommen?
Denken Sie nur an die Personalkosten, die hinter einem guten,
frischen Essen stehen. Dann der Wareneinsatz: frisches Gemüse,
frische Salate und frisch gekauftes Fleisch vom Metzger am Ort. Das
muss eben teurer sein als industriell vorgefertigte Ware. Es kann
jedoch nicht im Interesse der Verbraucher sein, dass in
Gasthäusern und Restaurants handwerkliches Kochen und
Gemütlichkeit suggeriert werden, tatsächlich aber immer
mehr Tütenkocher am Werk sind. Die Union der Spitzenköche
Europas (Eurotoques) fordert deshalb zusammen mit der
Umweltstiftung Euronatur eine Kennzeichnungspflicht für
Fertigprodukte. Doch die boomende Branche denkt nicht daran,
solchen Forderungen nachzukommen; das Geschäft mit der so
genannten Convinience Ware (englisch für Annehmlichkeit,
Bequemlichkeit) läuft wie geschmiert; egal wie viele
Zusatzstoffe wie Haltbarkeitsmittel und Geschmacksverstärker
auch hineingekippt werden.
Man braucht sich nur bei Fachmessen wie der
Grünen Woche (Berlin), Intergastra (Stuttgart) oder der Anuga
(Köln) mit wachen Augen umzuschauen. Es gibt nahezu nichts
mehr, was es nicht gibt: Suppen, Salat- und Pastasoßen,
Beilagengemüse, Chili con Carne, Chickenwings, Fischfilets,
Sauerbraten oder Rehmedaillons in der passenden Soße,
Scampi-Spieße, Gulasch, Cordon bleu, Fleischspieße oder
Trockenei, das mit Wasser vermischt Rührei ergibt. Alles fix
und fertig vorfabriziert. Selbst die Folien-Kartoffeln gibt es
vorgegart. Sie brauchen nur noch im Kombi-Dämpfer
aufgewärmt zu werden. Statt "Hier kocht der Chef" müsste
es also in vielen Gaststätten längst heißen "Hier
macht der Chef die Tüten und Kübel auf".
Das Ganze wird durch eine andere Entwicklung
begünstigt: immer weniger Menschen können kochen. Schon
jetzt haben wir es mit einer nicht kochenden Generation zu tun. Das
lässt für die Zukunft keine Besserung erwarten. In den
Schulen findet immer weniger Kochunterricht statt. Im Zuge ihrer
allgemeinen Sparmaßnahmen haben Politiker schon vor Jahren
bedenkenlos die Hauswirtschaft aus den Stundenplänen
gestrichen, Schulküchen wurden vielerorts dicht gemacht. Eine
fatale Entwicklung. Denn auf diese Weise wachsen neue Analphabeten
heran, die zwar Lesen, Schreiben und Rechnen können, aber
Analphabeten sind in Sachen Ernährung. Sie wissen nicht mehr,
wo welche Vitamine drin stecken, haben keine Ahnung von
Ballaststoffen und wozu Folsäure gut ist. Und sie sind
unkritisch gegenüber Einheitsgeschmack und Zusatzstoffen.
Schon bald haben wir die Diktatur der Tüte. Die Folgen sind
Übergewicht und systematische Fehlernährung. Denn wer
nicht kochen kann, ist auch nicht in der Lage, mit frischen
Lebensmitteln umzugehen und sich richtig zu
ernähren.
Das macht anfällig für das so
genannte "processed food": Essen, das massenhaft industriell
hergestellt wird. Und industriell massenhaft hergestelltes Essen
bedeutet in der Regel Preisdruck auf die Landwirte, welche nur noch
durch den Einsatz von Kunstdüngern, Pestiziden, Herbiziden und
Fungiziden über die Produktion großer Mengen existieren
können. So sind von Bremerhaven bis Berchtesgaden die
Landschaften immer eintöniger, die Speisezettel der Familien -
so denn überhaupt noch frisch gekocht wird - immer
einfältiger geworden.
Das führt auf anderem Gebiet zu
grotesken Vernetzungen. Noch heute gibt es keine Positivliste
für das, was im Tierfutter enthalten sein darf. Und so gibt es
immer noch genügend Hintertüren, um über das
Tierfutter den Verbrauchern auch Altöle, Holzschnitzel, Lumpen
und anderes unterzujubeln. Aber wer von den Deutschen, die sich in
immer größeren Mengen Zuckerstoffe, Fette und andere
billige Zutaten reinstopfen, macht sich darüber schon
Gedanken.
Deshalb ist die flächendeckende
Wiedereinführung des Faches Ernährungserziehung in allen
Schulen erforderlich. Daneben ist es vordringlich, die Ursachen
für die Probleme in der Landwirtschaft anzugehen, anstatt nur
an Symptomen herumzudoktern. Die heutigen, längst aus dem
kollektiven Bewusstsein verbannten BSE-Tests sind ja letztlich
nichts anderes als eine "End of the pipe technology" bei der
Nahrung. So wie man jahrzehntelang Wasser erst am Ende der
Nutzungskette gereinigt hat, um Flüsse und Seen nicht zu
Kloaken werden zu lassen, anstatt Verschmutzungen durch
geschlossene Kreisläufe in der Industrie erst gar nicht
entstehen zu lassen, bedeuten auch die BSE-Tests und viele andere
Überwachungsinstrumentarien nur Reagieren statt
vorausschauendem Agieren. Hier spielt das schwindende Bewusstsein
der Konsumenten landwirtschaftlicher Massenproduktion und
industrieller Verarbeitung eine zentrale Rolle. Denn die
Lebensmittel sollen immer billiger sein. Gaben die Deutschen um
1965 pro Familie noch rund 35 Prozent des Jahreseinkommens für
Lebensmittel aus, sind es heute gerade noch rund 14 Prozent. Sind
wir uns selbst nichts mehr wert?
Das Grundproblem: nicht mehr in, sondern nur
noch an der Landwirtschaft wird verdient. So dienen auch
Bestrebungen der Gentechnik keinesfalls der immer wieder hoch
gehaltenen Qualitätssteigerung der Waren, sondern letztlich
der längeren Lager- und Verarbeitungsfähigkeit. Auch hier
stecken knallharte Interessen der verarbeitenden Industrie und
nicht Verbraucherfragen dahinter. Doch die verhängnisvolle
Verflechtung von Massenproduktion, industrieller Agrarwirtschaft
und einer rapiden Erosion des Wissens rund ums Essen und Kochen
scheint kein Ende zu finden. Ein Teufelskreis ist die Folge: je
mehr produziert wird, umso mehr purzeln die Preise, und je mehr die
Preise einbrechen, umso mehr wird produziert, um den Verlust durch
Ertragssteigerungen wettzumachen. Die Folge: während der
Bedarf nach Nahrungsmitteln innerhalb der EU pro Jahr jeweils um
kaum mehr als ein halbes Prozent wächst - denn
schließlich können wir nicht immer mehr essen - waren
durchschnittliche Ertragssteigerungen von zwei Prozent in fast
allen Sparten der Landwirtschaft keine Seltenheit. Seit 1950 haben
sich die durchschnittlichen Erträge auf den
Äckern verdoppelt. Zugleich haben sich
die Bestandszahlen vieler Tier- und Pflanzengruppen halbiert.
Anstatt die Produktivitätsschraube ein wenig zurück zu
drehen, Rinder wieder langsamer auf der Weide zu mästen,
anstatt die Tiere in den Ställen mit Maissilage und billigem,
importierten und fragwürdigen Kraftfutter in kurzer Zeit voll
zu stopfen, anstatt den Tieren und der Natur im wahrsten Sinne
wieder mehr Raum zu geben, anstatt überall wieder extensiver
zu wirtschaften und auch wieder mehr Arbeitskräfte in der
Landwirtschaft zu beschäftigen, setzt man auf den Weltmarkt
und weiteres Wachstum. Warum? Wohl weil eine Verringerung der
Produktion nicht in die Philosophie von Wachstumsfetischisten
passt, für die Legehennen keine Tiere, sondern
Produktionsfaktoren wie Schrauben sind. Und weil es viele Gewinner
in diesem Prozess gibt: die chemische Industrie, die
Saatguthersteller, die Stallbauer, die Maschinenhersteller, die
Lebensmittelkonzerne.
Claus-Peter Hutter ist Präsident der
Internationalen Umweltstiftung Euronatur und leitet hauptamtlich
die Umweltakademie Baden-Württemberg. Zusammen mit Volker
Angres und Lutz Ribbe hat er den Lebensmittelreport "Futter
fürs Volk - was die Lebensmittelindustrie uns auftischt"
(Droemer-Knaur-Verlag) verfasst.
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