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Michael Hereth
Kenntnisse und Tugenden anstelle von Vorrechten
durch Geburt
Pierre Bourdieus präzise Studie über
Frankreichs "Staatsadel"
Dieses Buch, ein Klassiker der Analyse eines
Bildungssystems, ist mehr als eine schlichte Untersuchung des
"Oberhauses" des französischen Bildungssystems. Bourdieu,
einer der führenden Köpfe der Linken in Frankreich,
untersucht Rekrutierungsverfahren, soziale Auswirkungen und
gesamtgesellschaftliche Bedeutung der "grandes écoles" der
Französischen Republik.
Diese französischen Elitehochschulen
sind, in ihrer Unübersehbarkeit jedenfalls, eine Besonderheit
unserer Nachbarn. Über den vom Massenbetrieb geprägten
Universitäten angesiedelt und darüber stehend, bilden die
Ecole Nationale d'Administration (ENA), die Ecole Nationale
Superieure (ENS), das Institut d'Etudes Politiques in Paris (IEP)
und eine Reihe weiterer Einrichtungen die Führungskräfte
der französischen Gesellschaft für Politik und
Wissenschaft, für Verwaltung und Wirtschaft aus.
Bourdieus Untersuchung der Arbeit und Wirkung
dieser Spitzen des französischen Ausbildungswesens wertet
Material von etwa 20 Jahren aus: Prüfungsprotokolle;
Befragungen von Kandidaten für die Aufnahme, die spezielle bis
zu zwei Jahre dauernde Vorbereitungskurse ( "préparatoires")
besucht haben; Studenteninterviews und vieles andere Offizielles
und Inoffizielles aus den Ausbildungseinrichtungen. Seine
Hauptthese: die Elitehochschulen Frankreichs, insbesondere die ENA
und eine der Ecole Normales Superieures, (die in der rue d'Ulm in
Paris ihren Sitz hat,) aber auch einige weitere, sind das
Instrument der herrschenden Gesellschaftsschicht, ihre
Herrschaftspositionen zu festigen und zu legitimieren. Sie sind
aber auch das Mittel, um die Weitergabe der Macht an die
nachwachsenden Generationen dieser Schicht zu sichern und zu
legitimieren.
Bei den Elitehochschulen handelt es sich um
Ausbildungsstätten des neuen Staatsadels. Die Diplome dieser
Spitzenhochschulen sind in der Tat relativ sichere Garantien
für ein erfolgreiches Berufsleben und große Karrieren.
Sie basieren allerdings nicht auf Geburt, sondern auf erworbenen
Qualifikationen. Das eigentliche Nadelöhr ist der Zugang zu
den Elitehochschulen. So sind die Vorbereitungskurse ("prépa")
und die für die Eingangsprüfungen geforderten Kenntnisse
das eigentliche Schmiermittel für die Karriere.
Was bei den Eingangsprüfungen gefordert
wird, deckt sich weitgehend mit dem, was Bourdieu "kulturelles
Kapital" nennt: Historische, ästhetische und geistige
Kenntnisse und bestimmte Verhaltenstugenden wie Ausdauer und
Fleiss. Diese zeichnen die herrschende Schicht aus; sie werden an
die nachwachsende Generation schon in den Familien
weitergegeben.
Der neue Adel
Bourdieus Untersuchung zeigt nun, dass eine
begrenzte Anzahl besonders guter Gymnasien die "Hauptlieferanten"
der künftigen Studenten der Elitehochschulen sind. Diese
liegen in bestimmten Vierteln von Paris und Gegenden der Provinz,
die sie zu Gymnasien für die amtierende Elite machen. Die
geforderten Kenntnisse und Tugenden sind die der herrschenden
Elite, die ihre Nachkommen beim Erfüllen der Forderung nach
diesen Kenntnissen und Tugenden bei den Eingangsprüfungen
sicher bevorzugt weiß. Insofern ist die These vom neuen Adel
Frankreichs richtig.
Was den neuen Adel allerdings vom
vorrevolutionären unterscheidet: nicht die Geburt ist das
entscheidende Auswahlkriterium, sondern eben Kenntnisse und
Tugenden. Darum ist auch die neue Aristokratie offener als die
alte. Es gibt Aufsteiger in die neue Elite; allein Sprössling
einer der dominierenden Familien zu sein, genügt nicht. Die
neue Elite ist also keine geschlossene Gesellschaft.
Bourdieus große Studie, die leider in
einem grässlichen Soziologenlatein geschrieben ist, das auch
die Übersetzung nicht umgehen kann, entpuppt sich so als eine
brillante gesellschaftswissenschaftliche Arbeit, die aber den
Fehler hat, dass sie wenig Gewicht auf die Frage legt, ob die so
ausgebildete und ausgewählte Führungsschicht nicht eine
Funktionselite ist, die den politischen, ökonomischen und
sozialen Aufgaben und Problemen der französischen Gesellschaft
angemessen ist.
Die gesamte Kritik dieses Ausbildungssystems
unausgesprochen auf die in der Tat fehlende Chancengleichheit zu
konzentrieren, lässt den Leser doch etwas unbefriedigt. Das
heißt nicht, dass Bourdieus Untersuchung nicht eine spannende,
anregende, wenn auch anstrengende Lektüre
darstellt.
Pierre Bourdieu
Der Staatsadel.
UVK-Verlag, Konstanz 2004; 473 S., 39,-
Euro
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