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Karl-Heinz Baum
In Lettland hat der Käse Zukunft
Schweizer, die auszogen gen Osten
Der Deutschlandkorrespondent der "Basler Zeitung" beschreibt,
wie es Schweizern ergeht, die sich nach dem Zusammenbruch des
kommunistischen Reichs auf den Weg nach Mittelosteuropa machten,
dort etwas aufzubauen versuchen oder aufgebaut haben. Benedikt
Vogel ist auf den Spuren seiner Landsleute, die persönliches
Glück und Fortkommen "ostwärts" suchen, in Ländern,
die einst abgeschlossen waren und heute Europas Mitte sind.
Wenige Tage vor dem Beitritt einer ganzen Reihe
mittelosteuropäischer Staaten zur EU wäre allein das
Stoff für ein ganzes Buch: Warum sind sie gegangen? Warum
ausgerechnet dahin? Wie erleben sie den Alltag? Wie kommen sie mit
Einheimischen zurecht? Welche Vorbehalte müssen sie
überwinden? Wie schlagen sie sich mit einer notgedrungen aus
kommunistischer Zeit übernommenen Bürokratie herum? Wie
werden Sie in der größeren EU leben?
Vogel versucht nicht nur darauf zu antworten. Auf seine Idee
muss man erst einmal kommen. Er setzt ihre Erfahrungen mit denen
jener Schweizer Vorfahren in Beziehung, die sich vor 80, 150 oder
400 Jahren schon einmal ostwärts aufmachten oder die es dahin
verschlug, zu einer Zeit, als die Grenzen zwar mühselig zu
passieren, aber viel offener als zur kommunistischen Zeit waren:
nach Polen, Lettland, Estland, Tschechien, der Slowakei, Ungarn,
Litauen oder Slowenien. Mehr oder weniger gut sind jene Schweizer
im Gedächtnis dort lebender Menschen geblieben. Ihre
Lebenswege finden sich auch in historischen Untersuchungen. Nur die
jetzt ostwärts zogen, wissen kaum etwas von Aktivitäten
ihrer Vorfahren.
Vogel zieht Vergleiche, findet überraschende Parallelen. So
merkt man allmählich, dass sich Lebenswege gleichen mit dem
Unterschied, dass die der heutigen offen sind. Da könnte man
meinen, Vogel wolle die alte Weisheit der Wissenschaftler belegen,
jede neue Idee sei nur ein Mangel an Literaturkenntis. Vor Ort
stößt der Autor auf alte Geschichten und Dokumente, die
die alten Bilder und Vorstellungen erst abrunden.
Die Brüder Semadeni aus Poschiavo machten sich um 1825 ins
Zarenreich auf, zu dem auch Polen gehörte. Sie begründen
in Warschau die Kaffeehaustradition, werden angesehene
Zuckerbäcker: Dank ihrer wird Warschau
Zuckerbäckermetropole des Zarenreichs, ein Nachfahre der
Semedenis 1875 gar erster Schweizer Konsul im immer noch russischen
Warschau.
Bei Vogels Visite im vergangenen Jahr ist Kurt Scheller aus
Luzern gerade dabei, eines der feinsten Restaurants in Polens
Hauptstadt einzurichten, eines, das seinen Namen trägt wie
einst das Kaffeehaus den der Semadenis. Scheller hatte schon die
Welt gesehen, war nach der Kochlehre in London, Jamaika, Equador,
Ägypten, Kuwait, bis es ihn als Chefkoch ins neue mondäne
Warschauer "Bristol" verschlug, dann hatte er eine Kochakademie
(unterm Dach). Nun will er das "Scheller" aufmachen.
Da ist der Thurgauer Lukas Lutz im lettischen Kazdanga. Der
Molkereifachmann kam 1994 auf Anfrage nach Lettland als Fachmann
für Kazdangas Molkerei. Nach einem Jahr wollte er heim. Doch
er blieb, nicht aus Liebe zu den Leuten sondern "aus Trotz",
erfährt Vogel. Sie wollten ihn rauswerfen, da machte er seine
eigene Molkerei auf. Sie beschäftigt inzwischen 55 Leute und
verarbeitet 20 Tonnen Milch am Tag. Ein Schweizer Molkerist ist
auch Käsefachmann, kreiert nicht nur eigenen lettischen
Johanniskäse, sondern Tilsiter und Gryere à la Lutz. Sein
Motto: "In Lettland hat der Käse Zukunft."
Vor 200 Jahren gingen Käser aus dem Berner Oberland schon
einmal ein paar Kilometer weiter ins zu Russland gehörende
Estland. Sie glaubten, Milch billig kaufen und Käse teuer
verkaufen zu können. Sie hatten schnell Geld verdienen wollen,
blieben aber nicht selten ein Leben lang, Kinder und Enkel setzten
das Werk fort.
Ob Liebe, Abenteurerlust, Freiheitsdrang, Lust an fremden
Kulturen oder Unternehmergeist einst und heute - Vogels Reportagen
sind ein kleiner Beitrag zur Verständigung zwischen dem
westlichen Europa und dem Teil des Kontinents, der geografisch
wirklich in der Mitte liegt. "Vielleicht spielt am Ende der
überholte Gegensatz zwischen West und Ost gar keine Rolle
mehr" hofft Vogel. Der Wunsch könnte in Erfüllung gehen.
Karl-Heinz Baum
Benedikt Vogel
Ostwärts. Schweizer im neuen Europa.
Orell Füssli Verlag, Zürich 2004; 192 S., 26,-
Euro
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