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Anke Strüver
Ohne Grenzen wäre alles endlos
Schrankenloses Europa? Was Schengen nicht
beseitigen kann
Seit dem Inkrafttreten des Maastrichter
Vertrages über die Europäische Union 1993 und der
Reduzierung der EU-Binnengrenzen auf ihre administrative Funktion
finden Rhetoriken der Entgrenzung zunehmend Verbreitung.
Tatsächlich haben die Grenzen durch ihre Durchlässigkeit
einige ihrer vermeintlich wesentlichen Charakteristika verloren,
wie die Regulierung und Kontrolle der Bewegungen von Menschen,
Gütern und Dienstleistungen. Gleichwohl sind diese Grenzen
nicht wirkungslos geworden - denn sie haben ihre kognitiven,
soziokulturellen und identitätsstiftenden Bedeutungen behalten
und bleiben als Abgrenzungen im Alltagsleben bestehen.
Im Zuge von Globalisierung,
Europäisierung und dem Bedeutungswandel von Nationalstaaten
wird das Verschwinden von Grenzen postuliert. Durch die
Öffnung der Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union wurden - formal gesehen - aus
Außengrenzen, die die Territorien einzelner Nationalstaaten
und deren Souveränität voneinander trennen,
Binnengrenzen, deren Funktion meist als auf die
politisch-administrative Gliederung reduziert beschrieben wird. Im
Rahmen der europäischen Vereinigung wird daher oft von
Entgrenzung sowie von einem Bedeutungsverlust der Grenzen
gesprochen. Entgrenzung verweist dabei auf die "offenen Grenzen"
zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, auf ihre Defunktionalisierung
durch die Abschaffung von Zoll- und Passkontrollen und die damit
einhergehende "Bewegungsfreiheit" für
EU-Bürger.
Dieses Europa der Union, der propagierten
grenzüberschreitenden Kooperation und Interaktion, des freien
Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, findet
sich in Slogans wie dem der "grenzenlosen Freiheit" und dem "Europa
ohne Grenzen" wieder. In ihrem Verschwinden gelten die
EU-Binnengrenzen als Garant für Grenzenlosigkeit oder
zumindest Durchlässigkeit und "Barrierefreiheit" sowie
für die damit verbundenen Erwartungen von fortschreitender
Integration und Kohäsion. Dabei wird allerdings oft
vernachlässigt, dass Grenzen in den Köpfen der Menschen
als imaginäre Grenzen weiter bestehen bleiben.
Inwiefern Grenzen im Kopf auch nach einer
Grenzöffnung dominant bleiben oder gar an Bedeutung gewinnen,
hat sich beispielsweise nach der deutschen Wiedervereinigung
gezeigt. Die "Mauer in den Köpfen" - die vielfach erst nach
dem Mauerfall errichtet wurde - passt zwar nicht zur Rhetorik des
Zusammenwachsens dessen, was zusammen gehört, bestimmt(e) aber
in hohem Maße die unterbewussten mentalen Ordnungsstrukturen
und das (geteilte) Zugehörigkeitsgefühl. Auf den gleichen
Prinzipien basieren die imaginären Grenzen zwischen den
EU-Mitgliedsstaaten und den darin lebenden Menschen. Grenzen sind
in vielen Fällen immer noch mehr als nur "in den Köpfen":
Das Beispiel der ehemaligen innerdeutschen Grenze hat verdeutlicht,
dass Grenzen bisweilen nur für einige Menschen beziehungsweise
in eine Richtung verhältnismäßig "offen" und
durchlässig sein können. Auch jetzt sind die
EU-Binnengrenzen lange nicht für alle Menschen offen, sondern
nur für EU-Bürger. Das Europa ohne Grenzen ist in
Verbindung mit dem Schengener Abkommen und der europäischen
Asylpolitik für viele auch eine "Festung Europa", deren
Außengrenzen intensiv kontrolliert werden.
Die Öffnung von Grenzen innerhalb der EU
hat zudem immer auch die Schließung von Grenzen mit sich
gebracht. Die deutsch-polnische Grenze zum Beispiel hat in den
vergangenen 15 Jahren mehrmals tief greifende Änderungen
erfahren: Mit dem Mauerfall 1989 und dem Ende des Kalten Krieges
wurde diese bis dahin verhältnismäßig "offene"
Grenze geschlossen und zu einer EU-Außengrenze. Im Rahmen der
Verhandlungen um die EU-Osterweiterung und dem Beitritt Polens hat
sich diese "geschlossene Grenze" während der vergangenen Jahre
durch Polen hindurch bewegt und befindet sich nun an der bislang
"offenen" polnischen Ostgrenze. Der Wegfall der deutsch-polnischen
Grenzkontrollen hat also eine Umbewertung und Verschärfung der
polnisch-ukrainischen und polnisch-weißrussischen nach sich
gezogen.
Insgesamt erscheint die Rede vom Verschwinden
der Grenzen in vielerlei Hinsicht zweifelhaft. Denn neben der
wechselseitigen Bedingtheit von Grenzöffnung und
-schließung tragen Grenzen auch grundsätzlich die
Ambivalenz von Eingrenzung einerseits und Ab- beziehungsweise
Ausgrenzung andererseits in sich: Eingrenzung rekurriert auf das
Eigene, auf "Wir Hier", auf Zugehörigkeitsgefühl,
Vertraut- und Geborgenheit. Abgrenzung hingegen verweist auf das
Fremde von "drüben", auf das Andere. Diese Ambivalenz von
Grenzen ist ein wichtiger, wenn auch selten bewusster
Ordnungsrahmen, der als konstitutives Element von Identität
fungiert.
Es gibt keine "natürlichen" Grenzen -
das bedarf bei der Frage nach nationalen Grenzen zunächst
keiner weiteren Erklärung, denn auch die "natürlichen
geographischen Grenzen" wie zum Beispiel der Ural oder die Oder
sind in einer solchen Betrachtung Konstruktionen gesellschaftlicher
Ordnung. Schon Georg Simmel hat im Rahmen seiner "Soziologie" vor
100 Jahren festgestellt, dass eine Grenze nicht eine räumliche
Tatsache mit sozialer Wirkung ist, sondern ein soziales
Phänomen, das sich räumlich formt.
Nicht nur räumliche Grenzen, auch die
sozialen zwischen nationalen Identitäten und anderen
Identitätskategorien sind "nur" konstruiert. Dabei ist es
jedoch wichtig anzuerkennen, dass Identitäten Grenzen als
konstitutives Element brauchen. Grenzen, räumliche wie
soziale, funktionieren immer als Abgrenzungen, als
Differenzierungen im Sinne einer Unterscheidung. Zugleich haben sie
den Effekt der Homogenisierung dessen, was jeweils "dahinter"
liegt: Sowohl das Ausgegrenzte, als auch das Eingegrenzte werden
als in sich homogene Gruppen konzipiert, die sich über die
Unterscheidung konstituieren. Ein solches Prinzip der
"Identität durch Differenz" versteht den
Identifikationsprozess allgemein als Abgrenzungsprozess, der zur
Konstruktion vom Wir, dem Eigenen und Ihr, dem Anderen, dem
Fremden, führt. Allerdings wird oft vergessen, dass
Abgrenzungen nicht per se die Form von Ausgrenzungen annehmen
müssen. Grenzen sind weder grundsätzlich böse oder
schlecht, noch überflüssig oder ausschließlich
lästiges Übel. Vielmehr stellen sie eine Notwendigkeit
menschlicher Existenz dar. Sie werden gebraucht, um sich definieren
und agieren zu können, und letztlich auch, um sie wieder in
Frage zu stellen, neu zu definieren und zu
überschreiten.
Grenzziehungen bedingen
Grenzübertretungen, denn, wie Michel Foucault es formulierte,
eine Grenze, die nicht überschritten wird, ist nicht existent.
Sie wird erst durch die Erfahrung des Anderen "real" und
wahrnehmbar. Dieses Andere ist dabei nicht immer das unberechenbare
Fremde, das Angst einflößt. Es kann auch das Exotische,
das spannende Andere sein, das Anziehungskraft ausübt. Warum
wäre es sonst so aufregend, im benachbarten Ausland
einzukaufen? Oder warum würde die griechische Republik
(Süd-)Zypern sonst um Touristen mit dem Slogan "Nikosia -
letzte geteilte Hauptstadt der Welt" werben? Grenzen bieten neben
dem Gefühl von Ordnung, Schutz und Sicherheit gleichzeitig
auch Faszination.
Kehrt man zurück zum Begriff der Grenze
als Abgrenzung politischer Territorien, so ist auch mit Blick auf
die Staaten der EU deutlich, dass Nationen weder natürliche
noch homogene Einheiten darstellen - und gleiches gilt für
Identitäten. Versteht man Nationen als Narrationen, als
"vorgestellte nationale Gemeinschaften" (Benedict Anderson), dann
existieren nationale Räume und Grenzen vor allem in Ideen,
Bildern und Imaginationen im Kopf - und weniger auf
Landkarten.
Solche Grenzen im Kopf oder imaginäre
Grenzen sind neben Identitäts-Abgrenzungen auch in den
Alltagsspuren des nationalen Zugehörigkeitsgefühls zu
finden. Gemeint sind damit die subtilen Botschaften des
"Alltäglich-Nationalen", die jede Briefmarke, jede
Tagesschau-Wetterkarte, aber auch jedes Autokennzeichen in sich
trägt und deren Gebrauch Teil des unreflektierten
Alltagslebens ausmacht. Auch Geldstücken wird eine
Botschafterfunktion als nationales "Zeichen" der Alltagsroutine
zugesprochen, und man könnte meinen, dass Europa sich durch
den Euro inter- beziehungsweise entnationalisiert hätte. Doch
kaum gab es den Euro als Alltagszahlungsmittel (und nicht nur als
hypothetische 1.95583 Mark), konzentrierten sich die Menschen auf
die Rückseiten der Münzen, auf die jeweils national
gestalteten Zeich(nung)en.
Innerhalb der EU wird versucht, die Grenzen
sowie die formalen Unterschiede zwischen den Mitgliedern abzubauen.
Dabei können zwar einzelne Grenzen verschwimmen oder
überwunden werden, nicht aber das Motiv der Grenze, stellt es
doch ein zu elementares Moment der individuellen wie kollektiven
Identifikation dar. Grenzenlosigkeit ist somit weder denk- noch
lebbar. Wir brauchen Grenzziehungen zur Orientierung - und zwar
weniger auf der Landkarte, denn im Kopf. Unterstützt wird
diese These vom Eurobarometer 2002, nach dem sich circa 90 Prozent
der EU-Bürger ausschließlich oder vorwiegend national
definieren und identifizieren. Dem politischen Idealbild der
europäischen Grenzenlosigkeit und der daraus resultierenden
Strategie der Grenzüberwindung steht aus konzeptioneller Sicht
die Beobachtung entgegen, dass das Phänomen der Grenzbildung
generell nicht zu überkommen ist. Dies ist jedoch keineswegs
problematisch, da sich, wie bereits angedeutet, Grenzen und
Identitäten wechselseitig bedingen - sie sind somit notwendig
für die Konstitution des Selbst. Schließlich sind Grenzen
auch Berührungspunkte: Sie laden zur Überschreitung und
zur Kontaktaufnahme ein.
Die Geografin Anke Strüver arbeitet an
der Universität Münster.
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