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Bert Schulz
Die erste große Bilanz
Damals ... vor 45 Jahren am 15. September:
Staatsakt zum zehnjährigen Bestehen der
Bundesrepublik
Wer sich 1949 an eine Prognose gewagt hätte, in welcher
Verfassung sich ein Jahrzehnt später die gerade
gegründete Bundesrepublik befinden würde, der konnte aus
einem weiten Spektrum von Szenarien wählen, die alle
realistisch erschienen. Vier Jahre nach der "Stunde Null" war die
Entwicklung der jungen Demokratie, der zweiten auf deutschem Boden,
kaum berechenbar. Umso erstaunlicher fiel 1959 die erste große
Bilanz aus. Auch wenn sich außenpolitisch der Kalte Krieg
verschärfte - in West-Deutschland standen die Zeichen auf
Normalisierung: Im Herbst jenen Jahres verabschiedete sich in Bad
Godesberg die SPD vom Ziel des Sozialismus; die erste israelische
Studentengruppe, die Deutschland nach 1945 besuchte, traf in
West-Berlin ein; in der Nähe von Düsseldorf wurde wenige
Monate vorher erstmals ein Radargerät zur
Geschwindigkeitskontrolle im Straßenverkehr eingesetzt; und in
Bonn wollte Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier am 15.
September einen Blick zurück werfen "in die Tiefen und
Niederungen, aus denen wir emporgestiegen sind, und dessen
eingedenk zu sein, was uns an Glück widerfahren, an Gnade
zuteil geworden ist".
Gerstenmaier sprach bei einer gemeinsamen festlichen Sitzung von
Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung im geschmückten
Plenarsaal des Bonner Bundestages. Anlass dieses Staatsaktes war
nicht nur das zehnjährige Bestehen der Republik, sondern auch
der politische Abschied von einem Mann, der wie kein anderer das
internationale Ansehen des Staates aufpoliert hatte:
Bundespräsident Theodor Heuss schied nach zehn Jahren aus dem
Amt; den Vorschlag, ihm durch eine Grundgesetzänderung weitere
fünf Jahre an der Staatsspitze zu ermöglichenin, hatte er
zuvor abgelehnt. Sein bereits am 1. Juli gewählter Nachfolger
Heinrich Lübke leistete während des Festakts den
Amtseid.
Gerstenmaier war es vorbehalten, den ersten - und pathetischsten
- Rückblick zu vollziehen. Der Bundestagspräsident dankte
all jenen, die sich für den Wiederaufbau Deutschlands
eingesetzt hatten, namentlich Bundeskanzler Adenauer und "die von
ihm geführten Regierungen"; er würdigte auch und gerade
das Wirken der Opposition im Bundestag: "Wenn sich in diesen zehn
Jahren ein demokratisches Staatsbewusstsein in Deutschland
entwickelt hat, so ist das der parlamentarischen Opposition mit zu
verdanken." Gerstenmaier forderte - wie das in jenen Jahren zum
guten Ton in politischen Reden gehörte - die
Wiedervereinigung; für "ganz Deutschland", und eben nicht nur
die Bundesrepublik, bestehe man auf "Freiheit und Recht".
Schließlich sei der freiheitliche Rechtsstaat "das edelste
Gut, dessen wir nach den Jahren der Verführung und des Terrors
wieder teilhaftig geworden sind". Und er pries Theodor Heuss, der
vor dem "düsteren Hintergrund unserer Geschichte der
Lauterkeit des deutschen Namens in der Welt redlich gedient habe".
Seinem Amt habe er "Rang und Ansehen" gegeben.
Heuss hielt die heiterste der vier Reden: Im Anspielung auf die
Tatsache, dass er offiziell bereits zwei Tage vorher sein Amt
übergeben hatte, sprach der Professor mit feiner Ironie
über das mögliche "Seminarproblem", das seine Anwesenheit
bei diesem Festakt einigen "verfassungsrechtlichen
Interpretations-Spezialisten" bereiten könnte; und sein
schwäbelnder Ausdruck: "Aber das ist auch wurscht" in anderem
Zusammenhang wurde mit Heiterkeit quittiert. Seinem Nachfolger, mit
dem er "manches gute, ernsthafte, männliche Gespräch"
geführt habe, attestierte Heuss in gewohnt akademischem Ton
die Fähigkeit, "die Kontinuität unseres staatlichens
Seins" sichern zu können.
Wilhelm Kaisen, zu jener Zeit Präsident des Bundesrates,
verglich Theodor Heuss mit dem ersten Reichspräsidenten der
Weimarer Republik Friedrich Ebert. Deren beider "Wirken und Wollen
war getragen von ihrer engen Verbindung mit der Ideenwelt der
deutschen Demokratie". Er zeigte sich "nicht ohne Zuversicht", dass
der neue Bundespräsident seine Aufgabe, "ein freies
Deutschland formen zu helfen von Bürger zu Bürger, von
den Ländern zum Bund", erfolgreich erfüllen werde.
Auch Heinrich Lübke legte in seiner Rede ein Bekenntnis zur
Wiedervereinigung ab; er sprach zudem über seinen politischen
Werdegang und die Ansprüche, die an öffentliche
Ämter in einer Demokratie gestellt würden: "Ein Amt ist
recht geführt, wenn diese Verpflichtung des [dem Gemeinwohl]
Dienens dem einzelnen Staatsbürger klar erkennbar wird. Sein
positiver Eindruck wird sich dann auf den Staat und die Staatsform
übertragen." Bert Schulz
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