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Barbara Oetter
Dem ruhigen Halbschatten entgegen gehen
Freut sich denn jemand aufs alt
werden?
Lange hatten wir darauf gewartet, dass wir alt
genug wären. Plötzlich waren wir 30. Dann
überschritten wir die 40, und ich wünschte mir zum
Geburtstag die ewige Jugend oder zumindest jemanden, der morgens
mit neidvollem Blick mein unverbrauchtes Aussehen lobe. Vom
"junggeglühten Männlein" bis zur "Altweibermühle",
mal in mehr grob-, mal in eher feingesponnenen Geschichten
erträumen wir uns ein immer währendes, immer jugendliches
Leben.
Ohne Runzeln, schmerzende Bandscheiben und
andere Gebrechen. Heute erzählen die Hochglanzprospekte der
Versicherungen den Jungen die Märchen von gut konservierten
Paaren, die Damen mit herrlich erblautem Haar im teuer aussehenden,
flotten Anorak, ungebroche Sportlichkeit suggerierend wie ihre
männlichen Begleiter, gebräunte und edel geknitterte
Gesichter, die sich anlächeln mit Mündern voll
strahlender Implantate, unter einem sonnigen Himmel, dicke, von der
Assekuranz wohl gefüllte Börsen in der Tasche. Da sitzt
die klingende Münze locker. Einzige sinnliche Währung,
mit der selbst die Alten erotische Versprechen geben können.
Vielleicht haben sie sich durch Kontaktanzeigen gefunden, die
rufen: "Trau Dich! Du bist eine charm., aufgeschl., körperbew.
F. mit Initiative und erot. Phantasien? Schl. M, 60 +, Kein
Opa-Typ, sucht dich!" Oder: "Suche Ihn mit sozialkrit. humanist.
Denken u. Humor (NR, /...bis 65), der Stärken u.
Schwächen e. kl. schlk. Weibchens aushält. Kein Oma-Typ,
lebenslustig." Hier hat sich keiner die Knochen in der Fabrik
mürbe geschuftet oder als Kaufhausangestellte die Ohren von
Muzak ertauben lassen müssen. Hier "genießt man das
Alter", wie der italienische Philosoph Norberto Bobbio spottete:
"Ein banaler Slogan, passend zur Gesellschaft der totalen
Vermarktung, der an die Stelle des Lobliedes auf den ehrbaren und
weisen Alten getreten ist."
Umgeben und bedrängt von Bildern
schöner, junger Menschen haben die Älteren
augenscheinlich nur die Wahl zwischen Welken und Reifen. Doch den
Frauen, wollen sie nicht nur als "Oma-Typ" die Gießkanne zum
Friedhof tragen, bleibt selbst diese Wahl verwehrt. Sie müssen
ihren Körper, die alt gewordene Maschine, ölen,
schleifen, stählen. Well-Ageing oder Anti-Ageing-Energy, das
ist hier die Frage.
"Früher", resümierte die
Schriftstellerin Natalia Ginzburg, "war klar, was man von den
Frauen, die alt wurden, erwartete. Man erwartete von ihnen, in
Frieden zu altern, sanft, mit ruhigen Schritten einem ruhigen
Halbschatten entgegenzugehen. Jetzt wird von den Frauen erwartet,
dünn, gesund, unternehmungslustig und robust zu sein. Zugleich
verlangt man aber auch von ihnen, rasch zu verschwinden, da es auf
der Welt keinen Platz für alte Frauen gibt, die zwar
vielleicht gesund und robust, stark wie Stiere, aber dennoch alt
sind, das Gegenteil von Mädchen. Die Frauen denken, dass es
für die Männer fast das gleiche ist. Aber nicht ganz. Da
die Männer als Herren der Welt betrachtet werden, werden sie
vielleicht bis zuletzt ein wenig Raum finden, der den alten Frauen
versagt wird."
Freut sich denn jemand aufs alt werden? Wird
im jugendlichen Schwang ein Gedanke an die Zeit danach verloren?
Auf das morgendliche Studium von Todesanzeigen. Gebückten
Gang. Krachende Knochen. Herzschrittmacher, künstliche
Gelenke, dritte Zähne, wenn wir sie denn bezahlen können.
Ein junger Spund fordert, die Alten sollten aufhören, sich die
bröselnden Hüftknochen neu modellieren zu lassen.
Stattdessen möchten sie, bitte, mit einem hübsch
geformten Krückstock zur nächsten Parkbank wackeln. Mault
da die Generation Golf oder wieder nur die Grauen Panther? Warum
soll jemand, der täglich die Kraft von zwei Herzen zu sich
nimmt, mit einem Seniorenteller vorlieb nehmen? Blanke
Liebenswürdigkeit oder einfach Geldschneiderei: das
pürierte halbe Schnitzel für das zahnlose Volk, Loser mit
Mindestrente? Die Nachrichten von der BfA können mir für
einen kurzen Augenblick Schauer über die mittelalterliche Haut
jagen. Von dieser Summe willst du leben? Vor dem inneren Auge
öffnet sich die Kleiderkammer der Caritas.
"Darf ich fragen, wie Sie heute Ihren
Nachmittag verbringen?" tritt eine elegante, alte Dame an der
Bushaltestelle auf mich zu. Sie sei nun 90, und viele Freunde, der
Mann, auch der einzige Sohn, seien vor ihr gestorben. Die noch
lebenden Ex-Kolleginnen, sie war einmal Grundschullehrerin, sagt
sie bedauernd, seien, wenn nicht wirklich krank, damit
beschäftigt, rückwärts zu leben oder ihre Zipperlein
zu beklagen. Ach, das Leben sei manchmal schon
todlangweilig.
Was aber grummelt Marie G. in ihren
abgeschabten Ohrensessel? "Mich hat der Tod vergessen."
Schneeweißes, dünnes Haar, zu einem winzigen Knoten
geflochten, ein Tausendwettertaftgesicht, gebräunt, zerfaltet,
aus dem die scharfe Nase springt, ein Paar Reptilienaugen, das mich
müde mustert. So erinnere ich mich an sie, sagenhafte 100
Jahre alt und noch eins drauf. Mein erster Auftrag als pflegerische
Haushilfskraft. Nervös klapperte ich mit dem unhandlichen
Schlüsselbund. Ein Ruck, die Tür gab nach, noch eine dick
mit Stoff bespannte Tür dahinter, dann stülpte das
Jahrhundert den Geruchssack über meinen Kopf. Betäubt
nahm ich ein Huschen durch den dunklen Flur wahr, ein dürres
Wesen humpelte behände aus einem Zimmer und verschwand wie ein
Schatten im nächsten. Eine Mischung aus Zauberer Merlin und
Catweazle erschien mir, gehüllt in dunkelblau geblümten
Schlafrock, schwer gestützt auf einen Knotenstock.
Die Greisin thront auf Deckenlager
Ich schluckte, fasste mir ein Herz und
klopfte zaghaft an. Eine Höllenhitze schlug mir entgegen. Die
Brillengläser vernebelt, so stellte ich mich hastig vor, im
Blindflug taumelte ich durch die schmale Kammer auf das rettende
Fenster zu. Ein hohes Krächzen befahl mir herrisch:
"Zulassen!", begleitet von wildem Armgefuchtel. Spiralenförmig
gewachsene Fingernägel zogen Furchen durch die Luft,
bedenklich nah vor meinem Gesicht. Das ihre halb verborgen hinter
einer "Neuen Revue" aus den 70ern, thronte die Greisin auf einem
Deckenlager, an der Wand ein paar Kissen, um sich herum
Vorräte an bröckligen, halbgeschmolzenen
Schokoladekeksen.
Waschen? Neiiin. Die Schnabelfinger
näherten sich wieder meinen ultrahocherhitzten Wangen. Ich
trat den Rückzug an, beschloss, erstmal den Spuren des
Jahrhunderts nachzugehen. Vor einer schwarz gestrichenen Türe
blieb ich stehen. Zwei gekreuzte Besen versperrten mir den Weg.
Magische Notwendigkeit? Blaubarts Zimmer? Pfeifend durch den
finsteren Gang betrat ich über eine hölzerne
Rollstuhlrampe das Bad, ein Traum in blitzendweißen Kacheln.
Froh begrüßte ich das 20. Jahrhundert, streichelte die
Waschmaschine und erschrak. In der Badewanne schlummerten die
mumifizierten Überreste von Maries Garderobe dem
Jahrtausendende entgegen. Wo in ihrer Seniorinnenresidenz hat sie
damals wohl Herrn Bürgermeister von Weizsäcker empfangen,
um seine Glückwünsche zum Hundertsten entgegenzunehmen?
Hat ihr jemand die Fingernägel maniküren dürfen? Das
von ihm überreichte Orangenbäumchen stand gut versteckt
hinter der Tür mit den gekreuzten Besen, die Früchte
geschrumpelt, die einstmals saftiggrünen Blätter bleich
und vertrocknet.
Selbstverständlich gibt es
fröhliche Pensionäre, die herrliche Wochen und Monate auf
Kreuzfahrtschiffen verbringen. Gepflegte Damen, galante Herren, die
immer noch neugierig, aber gelassen das Abenteuer des Lebens
feiern. Künstler und Künstlerinnen, die bis ins hohe
Alter schöpferisch arbeiten und dabei vom reichen Schatz ihrer
Erfahrungen profitieren. Aber wenn wir uns umsehen, kommen wir
nicht umhin zuzugeben, dies seien Solitäre? "Es mag sein, dass
bei denen, die ihre Zeit gut nutzen, Wissen und Erfahrung mit dem
Alter wachsen; Regsamkeit und Reaktionsvermögen aber,
Entschlusskraft und andere Eigenschaften, die uns weit
eigentümlicher, die weit wichtiger und wesentlicher sind,
welken und schwinden dahin." Michel de Montaigne wusste genau,
wovon er redet.
Barbara Oetter ist freie Journalistin und
lebt in Berlin.
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