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Das Parlament
Nr. 48 / 22.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Barbara Oetter

Dem ruhigen Halbschatten entgegen gehen

Freut sich denn jemand aufs alt werden?
Lange hatten wir darauf gewartet, dass wir alt genug wären. Plötzlich waren wir 30. Dann überschritten wir die 40, und ich wünschte mir zum Geburtstag die ewige Jugend oder zumindest jemanden, der morgens mit neidvollem Blick mein unverbrauchtes Aussehen lobe. Vom "junggeglühten Männlein" bis zur "Altweibermühle", mal in mehr grob-, mal in eher feingesponnenen Geschichten erträumen wir uns ein immer währendes, immer jugendliches Leben.

Ohne Runzeln, schmerzende Bandscheiben und andere Gebrechen. Heute erzählen die Hochglanzprospekte der Versicherungen den Jungen die Märchen von gut konservierten Paaren, die Damen mit herrlich erblautem Haar im teuer aussehenden, flotten Anorak, ungebroche Sportlichkeit suggerierend wie ihre männlichen Begleiter, gebräunte und edel geknitterte Gesichter, die sich anlächeln mit Mündern voll strahlender Implantate, unter einem sonnigen Himmel, dicke, von der Assekuranz wohl gefüllte Börsen in der Tasche. Da sitzt die klingende Münze locker. Einzige sinnliche Währung, mit der selbst die Alten erotische Versprechen geben können. Vielleicht haben sie sich durch Kontaktanzeigen gefunden, die rufen: "Trau Dich! Du bist eine charm., aufgeschl., körperbew. F. mit Initiative und erot. Phantasien? Schl. M, 60 +, Kein Opa-Typ, sucht dich!" Oder: "Suche Ihn mit sozialkrit. humanist. Denken u. Humor (NR, /...bis 65), der Stärken u. Schwächen e. kl. schlk. Weibchens aushält. Kein Oma-Typ, lebenslustig." Hier hat sich keiner die Knochen in der Fabrik mürbe geschuftet oder als Kaufhausangestellte die Ohren von Muzak ertauben lassen müssen. Hier "genießt man das Alter", wie der italienische Philosoph Norberto Bobbio spottete: "Ein banaler Slogan, passend zur Gesellschaft der totalen Vermarktung, der an die Stelle des Lobliedes auf den ehrbaren und weisen Alten getreten ist."

Umgeben und bedrängt von Bildern schöner, junger Menschen haben die Älteren augenscheinlich nur die Wahl zwischen Welken und Reifen. Doch den Frauen, wollen sie nicht nur als "Oma-Typ" die Gießkanne zum Friedhof tragen, bleibt selbst diese Wahl verwehrt. Sie müssen ihren Körper, die alt gewordene Maschine, ölen, schleifen, stählen. Well-Ageing oder Anti-Ageing-Energy, das ist hier die Frage.

"Früher", resümierte die Schriftstellerin Natalia Ginzburg, "war klar, was man von den Frauen, die alt wurden, erwartete. Man erwartete von ihnen, in Frieden zu altern, sanft, mit ruhigen Schritten einem ruhigen Halbschatten entgegenzugehen. Jetzt wird von den Frauen erwartet, dünn, gesund, unternehmungslustig und robust zu sein. Zugleich verlangt man aber auch von ihnen, rasch zu verschwinden, da es auf der Welt keinen Platz für alte Frauen gibt, die zwar vielleicht gesund und robust, stark wie Stiere, aber dennoch alt sind, das Gegenteil von Mädchen. Die Frauen denken, dass es für die Männer fast das gleiche ist. Aber nicht ganz. Da die Männer als Herren der Welt betrachtet werden, werden sie vielleicht bis zuletzt ein wenig Raum finden, der den alten Frauen versagt wird."

Freut sich denn jemand aufs alt werden? Wird im jugendlichen Schwang ein Gedanke an die Zeit danach verloren? Auf das morgendliche Studium von Todesanzeigen. Gebückten Gang. Krachende Knochen. Herzschrittmacher, künstliche Gelenke, dritte Zähne, wenn wir sie denn bezahlen können. Ein junger Spund fordert, die Alten sollten aufhören, sich die bröselnden Hüftknochen neu modellieren zu lassen. Stattdessen möchten sie, bitte, mit einem hübsch geformten Krückstock zur nächsten Parkbank wackeln. Mault da die Generation Golf oder wieder nur die Grauen Panther? Warum soll jemand, der täglich die Kraft von zwei Herzen zu sich nimmt, mit einem Seniorenteller vorlieb nehmen? Blanke Liebenswürdigkeit oder einfach Geldschneiderei: das pürierte halbe Schnitzel für das zahnlose Volk, Loser mit Mindestrente? Die Nachrichten von der BfA können mir für einen kurzen Augenblick Schauer über die mittelalterliche Haut jagen. Von dieser Summe willst du leben? Vor dem inneren Auge öffnet sich die Kleiderkammer der Caritas.

"Darf ich fragen, wie Sie heute Ihren Nachmittag verbringen?" tritt eine elegante, alte Dame an der Bushaltestelle auf mich zu. Sie sei nun 90, und viele Freunde, der Mann, auch der einzige Sohn, seien vor ihr gestorben. Die noch lebenden Ex-Kolleginnen, sie war einmal Grundschullehrerin, sagt sie bedauernd, seien, wenn nicht wirklich krank, damit beschäftigt, rückwärts zu leben oder ihre Zipperlein zu beklagen. Ach, das Leben sei manchmal schon todlangweilig.

Was aber grummelt Marie G. in ihren abgeschabten Ohrensessel? "Mich hat der Tod vergessen." Schneeweißes, dünnes Haar, zu einem winzigen Knoten geflochten, ein Tausendwettertaftgesicht, gebräunt, zerfaltet, aus dem die scharfe Nase springt, ein Paar Reptilienaugen, das mich müde mustert. So erinnere ich mich an sie, sagenhafte 100 Jahre alt und noch eins drauf. Mein erster Auftrag als pflegerische Haushilfskraft. Nervös klapperte ich mit dem unhandlichen Schlüsselbund. Ein Ruck, die Tür gab nach, noch eine dick mit Stoff bespannte Tür dahinter, dann stülpte das Jahrhundert den Geruchssack über meinen Kopf. Betäubt nahm ich ein Huschen durch den dunklen Flur wahr, ein dürres Wesen humpelte behände aus einem Zimmer und verschwand wie ein Schatten im nächsten. Eine Mischung aus Zauberer Merlin und Catweazle erschien mir, gehüllt in dunkelblau geblümten Schlafrock, schwer gestützt auf einen Knotenstock.

Die Greisin thront auf Deckenlager

Ich schluckte, fasste mir ein Herz und klopfte zaghaft an. Eine Höllenhitze schlug mir entgegen. Die Brillengläser vernebelt, so stellte ich mich hastig vor, im Blindflug taumelte ich durch die schmale Kammer auf das rettende Fenster zu. Ein hohes Krächzen befahl mir herrisch: "Zulassen!", begleitet von wildem Armgefuchtel. Spiralenförmig gewachsene Fingernägel zogen Furchen durch die Luft, bedenklich nah vor meinem Gesicht. Das ihre halb verborgen hinter einer "Neuen Revue" aus den 70ern, thronte die Greisin auf einem Deckenlager, an der Wand ein paar Kissen, um sich herum Vorräte an bröckligen, halbgeschmolzenen Schokoladekeksen.

Waschen? Neiiin. Die Schnabelfinger näherten sich wieder meinen ultrahocherhitzten Wangen. Ich trat den Rückzug an, beschloss, erstmal den Spuren des Jahrhunderts nachzugehen. Vor einer schwarz gestrichenen Türe blieb ich stehen. Zwei gekreuzte Besen versperrten mir den Weg. Magische Notwendigkeit? Blaubarts Zimmer? Pfeifend durch den finsteren Gang betrat ich über eine hölzerne Rollstuhlrampe das Bad, ein Traum in blitzendweißen Kacheln. Froh begrüßte ich das 20. Jahrhundert, streichelte die Waschmaschine und erschrak. In der Badewanne schlummerten die mumifizierten Überreste von Maries Garderobe dem Jahrtausendende entgegen. Wo in ihrer Seniorinnenresidenz hat sie damals wohl Herrn Bürgermeister von Weizsäcker empfangen, um seine Glückwünsche zum Hundertsten entgegenzunehmen? Hat ihr jemand die Fingernägel maniküren dürfen? Das von ihm überreichte Orangenbäumchen stand gut versteckt hinter der Tür mit den gekreuzten Besen, die Früchte geschrumpelt, die einstmals saftiggrünen Blätter bleich und vertrocknet.

Selbstverständlich gibt es fröhliche Pensionäre, die herrliche Wochen und Monate auf Kreuzfahrtschiffen verbringen. Gepflegte Damen, galante Herren, die immer noch neugierig, aber gelassen das Abenteuer des Lebens feiern. Künstler und Künstlerinnen, die bis ins hohe Alter schöpferisch arbeiten und dabei vom reichen Schatz ihrer Erfahrungen profitieren. Aber wenn wir uns umsehen, kommen wir nicht umhin zuzugeben, dies seien Solitäre? "Es mag sein, dass bei denen, die ihre Zeit gut nutzen, Wissen und Erfahrung mit dem Alter wachsen; Regsamkeit und Reaktionsvermögen aber, Entschlusskraft und andere Eigenschaften, die uns weit eigentümlicher, die weit wichtiger und wesentlicher sind, welken und schwinden dahin." Michel de Montaigne wusste genau, wovon er redet.

Barbara Oetter ist freie Journalistin und lebt in Berlin.

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