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Henryk M. Broder
Endlich findet man den BH-Verschluss,
vielleicht
Sex im Alter gehört zu den heiklen
Angelegenheiten, über die alle schweigen
Sex und Senioren: Komische Alte und notgeile
Greise? Kennen Sie den? Opa kommt ins Altersheim. Gleich am ersten
Abend bringt ihm die Schwester eine große Tasse duftender,
dampfender heißer Schokolade. "Das ist aber nett, ich liebe
Kakao!" freut sich Opa. "Der wird Ihnen gut tun, Kakao hilft beim
Einschlafen" sagt die Schwester und bröselt eine kleine, blaue
Tablette in die Tasse. "Und wofür ist das?" will Opa wissen.
"Das ist Viagra, damit Sie nachts nicht aus dem Bett fallen."
Oder den? Opa kommt ins Altersheim. Nach
einer Woche besuchen ihn seine Kinder. "Wie gefällt es dir
hier?" - "Es ist wunderbar, viel schöner, als ich erwartet
habe", antwortet Opa, "die Leute sind so lieb zu mir." - "Du wirst
also gut behandelt?" - "Von gut kann keine Rede sein, sie verehren
mich. Schaut euch den Mann da drüben am Tisch an. Der war vor
20 Jahren Arzt. Und sie sagen noch immer Professor zu ihm. Und der
Mann da am Fenster, der war mal Dirigent. Alle rufen ihn Maestro,
obwohl er seit 30 Jahren nicht mehr dirigiert hat. Und wisst Ihr,
wie sie mich nennen? The fucking Jew! Obwohl ich seit 40 Jahren
keinen Sex mehr hatte!"
Natürlich ist der zweite Witz anders
gestrickt als der erste, vielschichtiger, komplexer. The fucking
Jew meint eben nicht in erster Linie einen sexuell aktiven Juden.
Dennoch lebt auch der zweite Witz von der Absurdität, die er
andeutet: Dass ein alter Mann Sex haben möchte.
Sex im Alter, das ist wie Bob fahren auf
Jamaica, oder Bananen züchten am Nordpol oder Telefonieren mit
dem Schuhlöffel, ein Ding der Unmöglichkeit oder eben ein
Witz. Sex ist das Privileg der Jugend, das "Eintrittsalter" sinkt
von Generation zu Generation, in den Boulevard-Magazinen des
Fernsehens kann man inzwischen 15-Jährige sehen und
hören, die ganz ungeniert erzählen, sie hätten nicht
nur bereits viele Erfahrungen gesammelt, sondern auch viele
Enttäuschungen erlebt. Ältere Leute dagegen, wie die vor
kurzem verstorbene Inge Meisel oder der noch immer putzmuntere
Johannes Heesters, reden öffentlich gerne über ihre
Enkelkinder, aber nie über ihr Sexleben. Wie in dem Witz, wo
sich zwei Rentner im Park treffen. "Was macht die Gesundheit?"
fragt der eine. "Alles bestens!" antwortet der andere. "Und der
Sex?" - "Kann nicht klagen, jedes Jahr ein neuer Enkel!" Dabei
fände ich es interessant zu erfahren, was Johannes und Simone
miteinander anstellen, wenn sie nicht das ideale Paar spielen. Ist
es wirklich nur so, dass sie ihm aus der Zeitung vorliest und eine
Tasse heißer Schokolade vor dem Einschlafen bringt?
Das Verlangen nach Sexualität
bleibt
Alle mir bekannten Untersuchungen deuten
darauf hin, dass zwar die sexuelle Leistungsfähigkeit mit
zunehmendem Alter abnimmt, aber nicht das Verlangen nach
Sexualität. Wobei Männer und Frauen, die schon immer
sexuell aktiv waren, auch als Senioren aktiver sind als
Gleichaltrige, die in ihrer Jugend zurückhaltend lebten. Dass
Sex hilft, das Leben zu verlängern, ist dagegen eher eine
Hoffnung, die sexuelle Aktivität im Rentenalter rechtfertigen
soll, eine Übung wie Turnen oder Walking, um den Kreislauf in
Schwung zu halten. Wer sich im Alter als sexuelles Wesen outet,
ohne dies medizinisch zu rechtfertigen, riskiert es, als "komische
Alte" oder "notgeiler Greis" ausgelacht zu werden. Rolf Eden, der
Doyen unter den Berliner Playboys, prahlt noch immer mit seinen
Affären und Abenteuern, wobei er darauf achtet, dass das
Gesamtalter (Eden und Partnerin) nach Möglichkeit gleich
bleibt. Während Helga Sophie Götze auf der Straße
Flugblätter verteilt und "ficken, ficken, ficken!" in die
Menge ruft. Sie wurde 1922 geboren, heiratete mit 20 einen
Bank-Prokuristen, hatte mit ihm sieben Kinder und keinen einzigen
Orgasmus. 1968 lernte sie im Urlaub auf Sizilien einen Italiener
namens Giovanni kennen, der sie sexuell erlöste und ihr
bewusst machte, was sie bis dahin versäumt hatte. 1973 hatte
Helga Sophia Goetze ihren ersten TV-Auftritt ("Hausfrau sucht
Kontakte"), danach erschien sie öfter uneingeladen in diversen
Shows, wo sie ihre voluminösen Brüste entblößte
und "ficken, ficken, ficken!" schrie. Der Schriftsteller Volker
Elis Pilgrim schrieb über sie ein Buch ("Hausfrau der Nation
oder Deutschlands Supersau?"), Rosa von Praunheim drehte mit ihr
einen Film. Die "primäre Tabu-Brecherin" (Goetze über
Goetze) verfasste provokative Gedichte ("Wichsen und wachsen") und
gründete in ihrer Charlottenburger Wohnung eine "Geni(t)ale
Universität". Seit 1983 steht sie, inzwischen über 80
Jahre alt, jeden Tag ein bis zwei Stunden an der
Gedächtniskirche und hält eine "Mahnwache" für die
sexuelle Revolution: "Ich habe alle Weihnachtslieder auf Ficken
umgeschrieben." Helga Sophia Goetze ist die Urmutter aller Naddels,
Veronas und Ramonas, die ihr Werk tapfer fortsetzen, eine Veteranin
der befreiten Sexualität, über die sich freilich niemand
mehr aufregt. Denn die Provokation von gestern ist die Lachnummer
von heute, was 1960 noch gewagt und mutig war, ist Anfang des 21.
Jahrhunderts bestenfalls peinlich und meistens belanglos. Auch
Alice Schwarzer, inzwischen über 60, kommt ebenso wie Eden und
Goetze nicht von der Rolle. Und die enorme Beliebtheit der
Aufklärerin Ruth Westheimer kommt daher, dass sich niemand
vorstellen kann, dass sie die Dinge, über die sie so
ungezwungen redet, auch selber tut.
Sex im Alter scheint ein Widerspruch in sich
zu sein. Einerseits ein Grundrecht, eine gesunde Sache und der
einzige Zeitvertreib, der von Einkommen, Wetter und Uhrzeit
völlig unabhängig ist. Andererseits doch eine heikle
Angelegenheit. Will ich mir das Ehepaar, das vor mir an der
Aldi-Kasse steht, bei der primären Aktion daheim vorstellen?
Nicht wirklich, obwohl mir bewusst ist, dass Sex kein Privileg der
Jungen, Schönen und Eleganten ist. Als ich mich vor kurzem bei
"Barnes & Noble" in Georgetown nach Büchern über "Sex
and old people" erkundigen wollte, druckste ich rum, als würde
ich in einer Apotheke nach einer Großhandelspackung Kondome
fragen. Die junge Frau am "Information Desk" aber fand nicht den
Sex-Teil meiner Anfrage anstößig, sondern die "old
people". Sie tippte "sex and seniors" in ihren Computer
ein.
Erstaunlicher als meine Verlegenheit war das
Ergebnis der Recherche. Bei "Barnes & Noble", wo zu jedem Thema
Dutzende von Titeln in den Regalen stehen, gab es kein einziges
Buch über "sex and seniors", der Computer zeigte zwei Titel
an, die erst bestellt werden mussten: "How to be ,Hot' at Sixty"
von Effie Velardo, einer Mutter von sieben Kindern, die 41 Jahre
verheiratet gewesen war. Als sie sich mit 60 scheiden ließ,
war sie "pleite, übergewichtig und verzweifelt", bevor sie
sich in eine "attraktive, vitale, beliebte und erfolgreiche Frau"
verwandelte. Genau genommen, war es kein Buch über Sex im
Alter, nur eine Gebrauchsanweisung für späte
Selbstfindung. Das andere Buch war schon näher an der Sache:
"Still Doing It - Women & Men Over 60 Write About Their
Sexuality", eine Sammlung von 34 Aufsätzen über
späte Liebe, Erektionsschwäche, Selbstbefriedigung,
Pornografie und Sexspielzeuge.
Es ist nie zu früh oder zu
spät
Aber auch da stand nur das drin, was in jedem
Ratgeber für Heranwachsende steht: Dass man miteinander
kommunizieren soll, dass Alter ein subjektives Gefühl und dass
es nie zu früh oder zu spät ist, Neues auszuprobieren.
Nur Sätze wie "Having a lot of sex is good for the prostate"
stellten den Zusammenhang zur Zielgruppe her.
Als nächstes versuchte ich es bei
"Google". Ich gab "sex and seniors" ein, und in weniger als einer
Sekunde wurde mir mitgeteilt, dass es 831.000 Einträge zu
diesem Thema gibt. Ich rechnete nach: Wenn ich für jeden
Eintrag nur eine Minute brauchen würde, wäre ich 577 Tage
beschäftigt, 24 Stunden täglich ohne Pause. Bei einem
normalen Acht-Stunden-Tag und einer Fünf-Tage-Woche
müsste ich fast sieben Jahre schaffen und wäre mit 65
fertig, was insofern praktisch wäre, als ich unmittelbar nach
dem Ende der Recherche in den Ruhestand übergehen könnte.
Unter den ersten Einträgen fand ich "www.seniorsite.com" mit
vielen praktischen Ratschlägen; auf einer anderen Website fand
ich ein Interview, das Betty Friedan, die Mutter der amerikanischen
Frauenbewegung, 1995 dem Spiegel gegeben hatte. Damals schon 73,
redete sie über Sex wie ein Gärtner über seine
Pflanzen: Was man tun muss, damit sie nicht austrocknen. Hier ein
kurzer Auszug aus diesem Gespräch:
Sex ist wichtig, und außerdem wissen wir
heute aus der Forschung, dass Männer und Frauen sexuelle Wesen
bleiben können, solange sie leben. Gut, die Männer in
unserem Alter sind entweder tot oder verheiratet. Vielleicht muss
man ja revolutionäre Gedanken entwickeln, an Tabus gehen:
Vielleicht teilen sich mehrere Frauen einen Mann. Oder sie finden
doch jüngere Partner. Oder sie tun sich selbst zusammen, als
lesbische Beziehung.
Spiegel: Wir bleiben dabei: Männer
müssen nicht nach neuen Modellen fahnden, sie haben es
leichter.
Friedan: Sie täuschen sich. Denken Sie
an Alfred Kinsey, der sagte: Der Mann ist mit 17 ungefähr auf
seinem Höhepunkt. Stellen Sie sich doch mal den emotionalen
Stress vor, den so ein alter Mann mit einer 20-jährigen hat.
Der Machismo fordert: Du musst die anderen Typen niedermachen. Das
ist gar nicht so einfach mit 60. Du musst wettbewerbsfähig
sein, den Potenznormen genügen, und das ist verflixt
schwierig. Selbst wenn er mit einer superjungen Frau im Bett liegt,
hat er ganz schön Probleme, die sexuellen Standards zu
erfüllen. Und das ist das schmutzige kleine Geheimnis,
über das Männer nicht reden.
Spiegel: Also ist es doch nicht soweit her
mit den Freuden des Alters?
Friedan: Tatsache ist: Man kann viel mehr
Spaß am Sex haben.
Spiegel: Wie bitte?
Friedan: Ja, aber man braucht weniger davon.
Alte Leute haben es nicht dauernd nötig, aber wenn es
passiert, dann kann man es mehr genießen. Weil man im Alter
mehr und mehr zu sich selbst findet, sich nichts mehr
vormacht.
Spiegel: Glauben Sie das wirklich?
Friedan: In meinen Interviews habe ich
festgestellt, dass sich die Leute im Alter weniger um das
kümmern, was die anderen denken.
Dass es sehr angenehm sein kann, wenn man das
Rattenrennen hinter sich hat und mehr in sich ruht und die Chancen
wahrnimmt, ein neues, interessantes Leben zu führen. Das fand
ich mehr als tröstlich. Tatsächlich ist die Zeit
über 60 ideal für reifen, stressfreien Sex. Man hat mehr
Zeit (und oft mehr Geld), kann morgens ausschlafen, die Kinder sind
aus dem Haus und die eigenen Eltern können einem nichts mehr
verbieten. Man muss nicht ins Autokino fahren, um ungestört zu
sein und keine Diskussionen führen, ob sie die Pille nehmen
oder er ein Präservativ benutzen soll. Das sind die Vorteile:
Der einzige Nachteil ist: Es ist nicht mehr so aufregend wie mit
20, als die BHs neu erfunden wurden. Andererseits: Was ist schon
die Aufregung wert, wenn man sich blamiert, weil man auf dem
Rücken nach dem Verschluss sucht, der zum Brustbein verlegt
wurde?
Henryk M. Broder ist Autor des "Spiegel" und
lebt in Berlin.
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