Markus Feldenkirchen
Parteien werden an Seniorenstammtische
erinnern
Wie der demografische Wandel die deutsche
Politik verändern wird
Schauen wir mal in die Zukunft, auf irgendeinen
Herbsttag des Jahres 2050. Die Nachrichtensendungen vermelden die
wichtigsten politischen Entscheidungen des Tages aus der deutschen
Hauptstadt: Bundeskanzlerin Sieglinde Unruh (Graue Panther) hat
Sigmund Brüderle von der Partei rüstiger Reformer (PRR)
zum neuen Altersheimminister ernannt. Die Berufung des
72-jährigen Brüderle sei auch als Zeichen der
Kabinettsverjüngung zu verstehen, erklärte Unruh, Enkelin
von Parteigründerin Trude Unruh. Mit den Stimmen der
sozialdemokratischen AG 60 Plus verabschiedete der Bundestag zudem
die vierte Rentenerhöhung dieses Jahres. Gegenfinanzieren
wolle man die Erhöhung mit der weiteren Schließung von
Kindertagesstätten und Ganztagsschulen, erklärte die
Kanzlerin.
Es ist nur eine Utopie, ein Blick in eine
Zukunft, die es so nicht geben wird - zumindest nicht ganz so.
Dennoch ist eines gewiss: Der demographische Wandel, die zunehmende
Alterung der Gesellschaft, wird nicht nur graue Spuren auf den
Köpfen der Bürger hinterlassen. Auch das politische
System wird sich zwangsläufig wandeln, und zwar in mehrfacher
Hinsicht: Die Top-Themen auf der politischen Agenda werden andere
sein, die Politiker werden im Schnitt älter sein, und auch das
Parteiensystem könnte in den kommenden Jahrzehnten ein anderes
werden. Zwar wird Trude Unruhs Seniorenpartei Graue Panther noch
lange darauf warten müssen, einmal selbst den Kanzler zu
stellen. Doch wenn Politik und Parlament ein Spiegelbild der
Gesellschaft sind, werden wir in Zukunft auch eine andere
regierenden Klasse vorfinden.
Die über 60-Jährigen werden im
Jahre 2050 ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Im Vergleich
zu heute wird ihr Anteil an der Bevölkerung bis dahin um 50
Prozent zunehmen. Die Zahl der über 80-Jährigen wird sich
gar verdreifachen, auf mehr als neun Millionen Menschen. Zugleich
wird die Zahl der unter 20-Jährigen von heute rund 17
Millionen auf 12 Millionen sinken. Die Folgen für das
Machtgefüge im Land liegen angesichts dieser Zahlen auf der
Hand: Weil Rentner ihr Recht auf Stimmabgabe viel gewissenhafter
wahrnehmen als jüngere Generationen, werden sie dann auch die
Mehrheit der Wähler stellen, so dass ihnen keine Regierung
gegen ihren Willen Einschnitte zumuten kann.
Schon jetzt leiden vor allem die großen
Volksparteien darunter, dass ihre Mitglieder immer älter
werden, während der jugendliche Nachwuchs zugleich zur
Rarität verkommt - fast so, wie seltene Neuzugänge im
Zoo. Längst haben die Parteistrategen das Potential der
Rentnergeneration für die eigene Organisation erkannt und
gesonderte Arbeitsgruppen oder Untergruppierungen für Senioren
geschaffen: als erste Partei gründete die CDU schon 1988 die
Seniorenunion. Die SPD konterte sechs Jahre später mit ihrer
AG 60 plus.
Doch während beide Organisationen
bislang eher als Beschäftigungszirkel für ältere
Mitbürger wahrgenommen werden, könnte ihr Stellenwert im
Zuge des demographischen Wandels bereits bald wachsen. Schon
prognostizieren so genannte Experten eine "Herrschaft der Alten",
in der die Senioren aufgrund der Verschiebung der
Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft über die Jungen
bestimmen werden. Der passende Fachbegriff ist auch schon gefunden:
Gerontokratie.
"Es ist zu erwarten, dass mit zunehmender
Alterung der Gesellschaft und verstärktem Rückgang der
Geburten die Gruppe derjenigen, die im Interesse ihrer Kinder
wählen und dadurch in die Zukunft der Gesellschaft
investieren, zunehmend kleiner wird", schreiben die
Research-Experten der Deutschen Bank in ihrem jüngsten
Demografie-Bericht etwas holprig. Auf Deutsch heißt das:
Stellen Rentner erst einmal die mächtigste Gruppe unter den
Wählern, werden sie auch die politische Agenda
bestimmen.
Denn die Macht wird auch in alternden
Gesellschaften vom Volke ausgehen. Und da gerade Volksparteien ihr
Politikangebot meistens nach dem Willen einer Mehrheit der
Bürger ausrichten, werden sich auch die Parteiprogramme
ändern. Dadurch könne das zum heutigen Zeitpunkt noch
gering ausgeprägte eigene Interessenbewusstsein der "Alten" in
der Zukunft deutlich steigen, prognostiziert die
Bundestags-Enquete-Kommission "Demographischer Wandel" in ihrem
Abschlussbericht.
Welche Auswirkungen das für die
Reformfähigkeit der Bundesrepublik haben könnte, wird am
Beispiel der Rentenreform deutlich. Demnach wäre eine
Umstellung des bisherigen Umlageverfahrens auf eine kapitalgedeckte
Rentenversicherung nur noch bis 2020 möglich - immer
vorausgesetzt, die Menschen wählen in erster Linie nach
Eigeninteresse. Ab 2023 wird der Anteil der jungen
Bevölkerung, für die sich ein solcher Systemwechsel
lohnen würde, in der Minderheit sein.
Es gibt etliche Studien, in denen
herausgefunden werden sollte, ob das Alter der Menschen ihr
Wahlverhalten bestimmt, ob etwa - wie weithin angenommen -
ältere Menschen eher konservativ wählen, getreu der alten
Weisheit: "Wer in der Jugend kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer
im Alter immer noch Sozialist ist, hat keinen Verstand." Bislang
ließ sich diese Behauptung nicht belegen. Die These vom
Alterskonservatismus ist nicht haltbar, schreibt beispielsweise der
Altersforscher Harald Künemund.
Nachweisbar ist hingegen, dass Menschen in
erster Linie nach ihren Interessen und persönlichen
Lebensumständen wählen, egal ob sie eher links oder
konservativ gesinnt sind. Gerade Senioren achten sehr stark darauf,
von welcher Partei sie am großzügigsten bedient werden,
wer ihre Interessen also am Besten vertritt. Seinen Wahlsieg 1998
hatte Kanzler Gerhard Schröder nicht zuletzt den älteren
Wählern zu verdanken, nachdem er ihnen populistischer, aber
nicht ganz ehrlicher Weise versprochen hatte, das Rentenniveau
nicht kürzen zu wollen.
Schon machen sich Experten wie der Mannheimer
Politologe Peter Graf Kielmansegg Gedanken, wie man die
Benachteiligung der schrumpfenden jungen Generation verhindern
könnte: etwa mit Verfassungsänderungen, die den Transfer
zwischen den Generationen gesetzlich limitiert. Fraglich ist
jedoch, ob sich solche Forderungen umsetzen lassen, mit denen das
politische System für eine alternde Gesellschaft vorbereitet
werden könnte.Umso wichtiger scheint es, dass wichtige Fragen
wie die Rentenproblematik gelöst werden, bevor die
Nicht-Senioren endgültig zur Minderheit geworden sind. "Wenn
die Alten einmal die Mehrheit stellen, dann wird es
gefährlich", schwant es dem SPD-Politiker Michael Müller.
So scheint der alte Sinnspruch des griechischen Staatsmannes
Perikles im Angesicht der demographischen Herausforderung heute
richtiger denn je: "Es kommt nicht darauf an, die Zukunft richtig
vorherzusagen, sondern auf sie vorbereitet zu sein."
Denn in 50 Jahren werden die großen
Parteien kaum jener Hort innovativer Ideen und Reformen sein, die
sie schon heute nicht sind. "Sie werden dann immer mehr zum
Seniorenstammtisch", fürchtet Sozialdemokrat Müller.
Wollen insbesondere die Volksparteien ihren heutigen Status
beibehalten, werden sie ihre Programmatik den Bedürfnissen der
dann in Deutschland lebenden Mehrheit anpassen müssen. "Die
über 65-Jährigen werden in den Wahlkämpfen immer
mehr umworben werden", sagt der Politikwissenschaftler Peter
Lösche voraus.
Vermutlich wird den Parteifunktionären
dieses Umgarnen nicht einmal schwer fallen - weil sie dann selbst
zum älteren Eisen gehören. Zwar ist die Lage noch
entspannt: Von den 603 Abgeordneten im aktuellen Deutschen
Bundestag waren zum Zeitpunkt ihrer Wahl gerade mal 1,6 Prozent
älter als 65, gerade mal 0,4 Prozent älter als 70. Doch
dies wird sich in den kommenden Jahrzehnten nach Ansicht vieler
Experten drastisch ändern.
Da bahnt sich eine Vergreisung an
"Die Politik und die Parteien werden
verkalken. Da bahnt sich eine gravierende Vergreisung an",
fürchtet Peter Lösche und malt ein graues Bild der
politischen Landschaft von übermorgen - mit weitreichenden
Konsequenzen für die Innovationsfähigkeit von Parteien
und die innerparteiliche Demokratie.
In den Parteien werde es zwangsläufig zu
einem "Klüngel der Alten" kommen, der sich gegen die
Minderheit der jüngeren Mitglieder abschotten und diese gar
nicht mehr auf relevante Positionen vorrücken lassen werde.
"Auch innerhalb der Parteien werden wir es mit einem 'Machtkartell
von Senioren' zu tun haben", glaubt Lösche.
Wer sich solch düsteren Prophezeiungen
nicht ganz anschließen will, muss auf den Pragmatismus der
Jugend setzen. Schon heute ist zu beobachten, dass sich die
jüngeren Bundestagsabgeordneten in bestimmten, ihre Generation
besonders betreffenden Fragen, zu einer Art jugendlicher Allianz
zusammenschließen - unabhängig davon, zu welcher Partei
sie gehören.
So gaben sie vor einiger Zeit eine gemeinsame
Erklärung als Anhang zu einem Reformgesetz zu Protokoll - kein
Zufall, dass es in diesem Fall um die Rentenpolitik ging. Zusammen
mit dem ein oder anderen jung gebliebenem Politrentner könnten
sie in ferner Zukunft vielleicht doch ein kampfkräftiges
Gegengewicht zu Lösches "Machtkartell der Senioren" bilden.
Jener Konflikt zwischen Jung und Alt, der sich heute bereits unter
dem martialischen Schlagwort "Krieg der Generationen"
ankündigt, könnte auf der politischen Bühne bald
offener ausgetragen werden als bislang.
So halten Politikwissenschaftler die
Neugründung einer "Partei der Jugend" in Zukunft für
wahrscheinlicher als die Gründung einer weiteren
Senioren-Klientelpartei - und sei es nur, um eine Kanzlerin von den
Grauen Panthern zu verhindern.
Markus Feldenkirchen ist Redakteur beim
"Spiegel" und lebt in Berlin.
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