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Das Parlament
Nr. 48 / 22.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Bert Schulz

Wenn das Wort Senior im ganzen Programm nicht einmal vorkommt

In Verbänden und Parteien wollen die 60+ nicht nur verarztet, sondern auch gehört werden

Eigentlich dürfte er gar nicht anwesend sein: Aufmerksam blickt Friedrich Ebert, der große Sozialdemokrat, von seinem Bild auf die knapp 35 Genossen, die im Sitzungssaal der Berliner SPD-Zentrale an diesem Montagnachmittag zum monatlichen Vorstandstreffen zusammen kommen. Die meisten zählen um die 70 Jahre, es gibt eine Frauenquote von 50 Prozent, ein Kasten Mineralwasser steht in der Ecke, und das Alter ist irgendwie auch das Programm. Hier sitzt der Großteil der Mitglieder der Berliner SPD-Senioren-Arbeitsgruppe. Ihr offizieller Name erinnert ein wenig an ein Medikament: AG 60 Plus.

Zumindest zahlenmäßig ist die Arbeitsgemeinschaft eine Macht in der Partei. Jeder dritte Genosse in der Hauptstadt, insgesamt fast 7.000, hat die 60 bereits überschritten und ist damit automatisch Mitglied der Gruppe. Selbst die politischen Aushängeschilder wie etwa der 72-jährige Innenminister Otto Schily oder der acht Jahre jüngere Parteivorsitzende Franz Müntefering können sich dagegen nicht wehren. Sie müssen natürlich nicht mitarbeiten und können sich - wie es die meisten SPD-Senioren auch tun - auf ihre Arbeit in anderen Gremien oder auf die große Politik konzentrieren. Friedrich Ebert hingegen wäre gar nicht dabei gewesen: Er starb 1925 an einer verschleppten Blinddarmentzündung, gerade 58-jährig.

Das war damals schon kein Alter, und heute ist es erst recht keines. Der Schritt aus dem Berufsleben in der Phase zwischen 55 und 65 ist nicht mehr gleichbedeutend mit einem beschaulichen Lebensabend vor dem Fernseher. Das will auch die Politik begriffen haben, zumindest offiziell. Alle großen Parteien besitzen spezielle Seniorengruppen, inzwischen sogar die einst dauer-jugendlichen Grünen, in unterschiedlicher Form, mit gewissen Privilegien. Im Falle der AG 60 Plus, die 1992 von der Mutterpartei mit in die Reihe der Arbeitsgemeinschaften aufgenommen wurde, in der schon die Jusos oder die Frauen stehen, ist das etwa das Antragsrecht auf Parteitagen. Damit soll unter anderen sichergestellt werden, dass sich seniorenspezifische Anliegen in der Arbeit und in den Programmen der SPD niederschlagen. Manchmal mit Erfolg. So berichtet der 69-jährige Horst Uelze, der Vorsitzende der Brandenburger SPD-Senioren, bei der Vorstandssitzung in Berlin von einer Wahlanalyse der Brandenburg-Wahl, laut der Ministerpräsident Matthias Platzeck die Stimmen von mehr als 45 Prozent der über 60-jährigen Damen erhielt. Nicht nur, weil Platzeck bekannterweise ein Frauenschwarm ist, sondern wohl auch, weil das Wahlprogramm der Brandenburger SPD sehr deutliche seniorenpolitische Akzente gesetzt hatte. "Manche lesen ja das Wahlprogramm."

Leider war dieser Erfolg nicht von langer Dauer. Im Koalitionsvertrag, erzählt Horst Uelze weiter, würde das Wort "Senior" nun nicht ein einziges Mal mehr vorkommen. Der 69-Jährige "bedauert das sehr". Den Grund dafür müsse er jedoch noch herausfinden. Ein anderes Mitglied urteilt schneller: "Das ist wie immer", mosert der Genosse wenig diplomatisch in die Runde.

Dies ist der wunde Punkt der organisierten SPD-Senioren - selbst wenn ihr Berliner Vorsitzender, der 71-jährige Hans Kohlberger, sagt, dass die "aktiven Alten" in der Mutterpartei akzeptiert seien, und dies wenig später auch der neue Landesgeschäftsführer der Berliner SPD betont. Rüdiger Scholz trägt einen dunklen Nadelstreifenanzug und die Haare frech und wild gegelt. Mit seinen 35 Jahren senkt er den Altersdurchschnitt deutlich. Vielleicht wiederholt der frühere Juso-Bundesgeschäftsführer ein wenig zu häufig, dass er "sehr ernst nehme, was aus den Arbeitsgruppen kommt". Jedenfalls wird sein Erfahrungsbericht, dass manche in der Partei die 60 Plusler vor allem als Rentner mit viel Freizeit und deswegen als immer einsatzfähig für Parteizwecke betrachteten, vorschnell als seine eigene Aussage missverstanden. Ein Genosse, der dem Altersdurchschnitt näher kommt, protestiert energisch: Zwar habe sich die AG 60 Plus etwa im Europawahlkampf deutlich mehr engagiert als viele andere Mitglieder. Das bedeutet aber nicht, dass man eine Art Verfügmasse sei.

"Oftmals" sei die Berliner AG 60 Plus "parteitreu", schätzt Hans Kohlberger seine Genossen ein. Schließlich ist es Ziel der AG, die "Interessen der Älteren innerhalb und außerhalb der SPD zu vertreten und Menschen für die sozialdemokratische Programmatik zu gewinnen" - so steht es in den Richtlinien des Parteivorstandes. Neben der parteiinternen Arbeit nehmen die reifen Genossen unter anderem teil in der Berliner Landesseniorenvertretung. Sie arbeiten auch in vielen regionalen politischen und sozialen Verbänden für ältere Menschen mit. "Manchmal", erzählt der Vorsitzende, sage man aber durchaus auch etwas Kritisches über die Mutterpartei, obwohl sie seit Jahrzehnten die politische Heimat fast aller 60 Plusler ist. Das ist etwa bei den aktuellen Arbeitsmarktreformen der Fall und der Informationspolitik darüber oder wenn es um den "Jugendwahn in der Partei" geht, wo einige meinten, "das Rad noch mal neu erfinden zu müssen", pflichtet sein Brandenburger Kollege bei.

Für Horst Uelze, der seine Termine anders als fast alle hier in einem modernen Palm-Organizer notiert, geht Seniorenpolitik darüber hinaus. Sie umfasse schlicht "alles, was Senioren interessiert". Dazu gehörten auch Bildung, ganz besonders jene der eigenen Enkel. Deswegen arbeite man auch gerne - und oft besser als mit den Mittelalten - mit den Jusos zusammen. Und schließlich haben die Mitglieder der AG 60 Plus auch so eine Art Mission. Zumindest formuliert es die resolute Lilo Strachmann so, eine der stellvertretenden Vorsitzenden der Berliner AG 60 Plus: "Dass die Menschen endlich begreifen, dass sie mit 60 noch etwas anderes tun können, als sich in den Sessel zu setzen und auf Besuch zu warten."

Auf ähnliche Weise teilt Irmgard Schwätzer Senioren ein: Erstens in solche, die stricken, und zweitens in solche, die die "altersgemäße Spaßgesellschaft" nach dem Ende des Berufslebens genießen, also noch mal studieren, eine Weltreise machen oder ehrenamtlich arbeiten. Die 62-jährige einstige FDP-Generalsekretärin und Bundesbauministerin gehört ganz klar zur zweiten Gruppe. Ihr Rückzug aus dem Bundestag vor zwei Jahren sei ein "bewusster Schritt" gewesen. Sie wollte viel Neues tun. Unter anderem etablierte sie im Februar vergangenen Jahres zusammen mit acht Freunden den Berliner Landesverband der Liberalen Senioren, die sich abgekürzt LiS@ schreiben - das "@" sei der "moderne Anstrich", wie Irmgard Schwätzer mit einem Lächeln meint. Für die Berliner Gruppe klang das scheinbar noch nicht modern genug. Direkt nach der Gründung nannte sich die Gruppe um in "Liberale AG der Generationen", kurz LiG@. "In Berlin will keiner ein Senior sein, das entspricht nicht der Quirligkeit der Stadt", begründet Frau Schwätzer die gewollt dynamische Namensgebung.

Da überrascht es wenig, wenn die Landesverbandsvorsitzende hinzufügt, dass "ihre" liberalen Senioren auch keine klassische Seniorenpolitik machen. Schwerpunkte der Arbeit seien alle Fragen und Bereiche, in denen Jung und Alt zusammenwirken, und manchmal auch zusammenstoßen. So sind unter den inzwischen rund 45 Mitgliedern - anders als bei den Sozialdemokraten gibt es keine automatischen Mitgliedschaften, das sei nichts für eine Partei wie die FDP - auch einige Anfang 20, wenige im mittleren Alter und die meisten über 55. Der Älteste sei über 80, aber "jedes Mal da", berichtet Irmgard Schwätzer.

Seniorenpolitik ist für sie die "Mobilisierung der Kräfte von Menschen, die das aktive Berufsleben hinter sich haben, Erfahrungen gesammelt haben und diese weitergeben wollen". Die Berliner LiG@ organisiere deswegen auch abwechselnd politische und kulturelle Veranstaltungen; auf eine Führung durch die Berliner MoMA-Ausstellung folgt im nächsten Monat etwa eine Diskussion mit einem Bundestagsabgeordneten. Den besonders Senioren betreffenden Gesetzen werde nur ein vergleichsweise kleiner Raum der Arbeit eingeräumt: Viele Gesetze, die Altersgrenzen vorsehen, wie etwa für Schöffen, die höchstens 70 Jahre alt sein dürfen, seien zwar "totaler Quatsch", findet die frühere Ministerin: "70-Jährige sind in vielen Bereichen die wichtigsten Stützen." Aber statt auf ein eigenes Seniorengesetz zu drängen, das die Vertretung der Älteren in der Gesellschaft regelt, sollten die Senioren einfach selbst aktiv werden. So wie die Damen und Herren der LiG@: "Wir vertreten uns selber."

Ein wenig klassische politische Arbeit machen die liberalen Generationsüberbrücker aber doch: Zur Europawahl gab es einen eigenen Flyer, auf FDP-Veranstaltungen trete man mit einem eigenen Stand auf, derzeit werden die Anträge für den Landesparteitag formuliert.

Und während die Zusammenarbeit mit der Mutterpartei im Landesverband Berlin hervorragend funktioniere, ist die ehemalige Ministerin mit der Diskussion in der Bundespartei nicht zufrieden: "Der Generationendialog kommt dort praktisch nicht vor." Auch deswegen hält sie die Einrichtung der Seniorengruppen in der Partei für "sinnvoll". Nicht alle Landesverbände sind ihr jedoch politisch progressiv genug ausgerichtet: "Wir haben noch Diskussionsbedarf, wofür sie stehen und was sie machen sollen", formuliert Irmgard Schwätzer geradezu altersweise.

Für viele Senioren spielt Politik insgesamt nur eine sehr untergeordnete Rolle, selbst für jene, die in Verbänden organisiert sind, welche sich für die Belange älterer Menschen einsetzen, aber eben auch Tanztees und Wandertage organisieren. Dort werde Wert darauf gelegt, dass man "politisch ungebunden" sei, berichtet Inge Frohnert, die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Berliner Senioren (ABS), einem Zusammenschluss von Seniorenverbänden und -vereinen. Auch sonst sei das Interesse, sich mit politischen Inhalten zu beschäftigen, gering: "Das ist nicht so gefragt", wie die frühere Vorsitzende der Berliner AG 60 Plus bei ihrer Arbeit immer wieder merke.

Neben den Parteien sind die Gewerkschaften die andere große Ausnahme davon. Dort gründen sich seit einigen Jahren verstärkt spezielle Rentnergruppen. Das bringt beiden Seiten etwas: "Viele wissen nichts mehr mit der Gewerkschaft anzufangen, wenn sie in den Ruhestand gehen, und treten dann aus", berichtet Undine Flemmig, Referentin beim von DGB und der Volkshochschule getragenen Bildungswerk "Arbeit und Leben". In Zusammenarbeit mit "Silberstreif", der Seniorengruppe von Ver.di Berlin, hat sie mehrere seniorenpolitische Projekte entwickelt. Geradezu klassisch ist dabei das Beispiel einer auf sechs Personen angewachsenen Gruppe langjähriger Betriebsräte, die Schulunterricht gibt. Natürlich nicht irgendeinen: In den 80-minütigen Einheiten geht es um "Demokratie im Betrieb", also etwa um Mitbestimmungsrechte.

Im Mai dieses Jahres war Premiere an einem nicht ganz einfachen Ort: "Die Moses-Mendelsohn-Oberschule im Bezirk Tiergarten hat zu 70 Prozent Schüler nichtdeutscher Herkunft", berichtet der 68-jährige Heinz Lubosch, einer der "Lehrer". Dort haben sie sich die sechs 10. Klassen ausgesucht. Ein "Wagnis und eine Herausforderung" sei das gewesen, so der frühere Betriebsratsvorsitzende bei der Stiftung Warentest. Es klappte hervorragend: Eine Klasse habe ihnen am Ende des Unterrichts sogar applaudiert - zur Verwunderung einiger "richtiger" Lehrer. Grund für den Erfolg sei vor allem gewesen, dass den Schülern bewusst geworden sei, wie hier jemand aus der eigenen Erfahrung von 40 Jahren Arbeit berichte, meint Heinz Lubosch, der auch von der Statur zum Arbeiterführer taugte. Noch in diesem Schulhalbjahr soll das Projekt weitergehen. Diesmal an einer Berufsschule im Havelland.

Bert Schulz ist freier Journalist und lebt in Berlin.

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