|
|
Bert Schulz
Wenn das Wort Senior im ganzen Programm nicht
einmal vorkommt
In Verbänden und Parteien wollen die 60+
nicht nur verarztet, sondern auch gehört werden
Eigentlich dürfte er gar nicht anwesend sein: Aufmerksam
blickt Friedrich Ebert, der große Sozialdemokrat, von seinem
Bild auf die knapp 35 Genossen, die im Sitzungssaal der Berliner
SPD-Zentrale an diesem Montagnachmittag zum monatlichen
Vorstandstreffen zusammen kommen. Die meisten zählen um die 70
Jahre, es gibt eine Frauenquote von 50 Prozent, ein Kasten
Mineralwasser steht in der Ecke, und das Alter ist irgendwie auch
das Programm. Hier sitzt der Großteil der Mitglieder der
Berliner SPD-Senioren-Arbeitsgruppe. Ihr offizieller Name erinnert
ein wenig an ein Medikament: AG 60 Plus.
Zumindest zahlenmäßig ist die Arbeitsgemeinschaft eine
Macht in der Partei. Jeder dritte Genosse in der Hauptstadt,
insgesamt fast 7.000, hat die 60 bereits überschritten und ist
damit automatisch Mitglied der Gruppe. Selbst die politischen
Aushängeschilder wie etwa der 72-jährige Innenminister
Otto Schily oder der acht Jahre jüngere Parteivorsitzende
Franz Müntefering können sich dagegen nicht wehren. Sie
müssen natürlich nicht mitarbeiten und können sich -
wie es die meisten SPD-Senioren auch tun - auf ihre Arbeit in
anderen Gremien oder auf die große Politik konzentrieren.
Friedrich Ebert hingegen wäre gar nicht dabei gewesen: Er
starb 1925 an einer verschleppten Blinddarmentzündung, gerade
58-jährig.
Das war damals schon kein Alter, und heute ist es erst recht
keines. Der Schritt aus dem Berufsleben in der Phase zwischen 55
und 65 ist nicht mehr gleichbedeutend mit einem beschaulichen
Lebensabend vor dem Fernseher. Das will auch die Politik begriffen
haben, zumindest offiziell. Alle großen Parteien besitzen
spezielle Seniorengruppen, inzwischen sogar die einst
dauer-jugendlichen Grünen, in unterschiedlicher Form, mit
gewissen Privilegien. Im Falle der AG 60 Plus, die 1992 von der
Mutterpartei mit in die Reihe der Arbeitsgemeinschaften aufgenommen
wurde, in der schon die Jusos oder die Frauen stehen, ist das etwa
das Antragsrecht auf Parteitagen. Damit soll unter anderen
sichergestellt werden, dass sich seniorenspezifische Anliegen in
der Arbeit und in den Programmen der SPD niederschlagen. Manchmal
mit Erfolg. So berichtet der 69-jährige Horst Uelze, der
Vorsitzende der Brandenburger SPD-Senioren, bei der
Vorstandssitzung in Berlin von einer Wahlanalyse der
Brandenburg-Wahl, laut der Ministerpräsident Matthias Platzeck
die Stimmen von mehr als 45 Prozent der über 60-jährigen
Damen erhielt. Nicht nur, weil Platzeck bekannterweise ein
Frauenschwarm ist, sondern wohl auch, weil das Wahlprogramm der
Brandenburger SPD sehr deutliche seniorenpolitische Akzente gesetzt
hatte. "Manche lesen ja das Wahlprogramm."
Leider war dieser Erfolg nicht von langer Dauer. Im
Koalitionsvertrag, erzählt Horst Uelze weiter, würde das
Wort "Senior" nun nicht ein einziges Mal mehr vorkommen. Der
69-Jährige "bedauert das sehr". Den Grund dafür
müsse er jedoch noch herausfinden. Ein anderes Mitglied
urteilt schneller: "Das ist wie immer", mosert der Genosse wenig
diplomatisch in die Runde.
Dies ist der wunde Punkt der organisierten SPD-Senioren - selbst
wenn ihr Berliner Vorsitzender, der 71-jährige Hans
Kohlberger, sagt, dass die "aktiven Alten" in der Mutterpartei
akzeptiert seien, und dies wenig später auch der neue
Landesgeschäftsführer der Berliner SPD betont.
Rüdiger Scholz trägt einen dunklen Nadelstreifenanzug und
die Haare frech und wild gegelt. Mit seinen 35 Jahren senkt er den
Altersdurchschnitt deutlich. Vielleicht wiederholt der frühere
Juso-Bundesgeschäftsführer ein wenig zu häufig, dass
er "sehr ernst nehme, was aus den Arbeitsgruppen kommt". Jedenfalls
wird sein Erfahrungsbericht, dass manche in der Partei die 60
Plusler vor allem als Rentner mit viel Freizeit und deswegen als
immer einsatzfähig für Parteizwecke betrachteten,
vorschnell als seine eigene Aussage missverstanden. Ein Genosse,
der dem Altersdurchschnitt näher kommt, protestiert energisch:
Zwar habe sich die AG 60 Plus etwa im Europawahlkampf deutlich mehr
engagiert als viele andere Mitglieder. Das bedeutet aber nicht,
dass man eine Art Verfügmasse sei.
"Oftmals" sei die Berliner AG 60 Plus "parteitreu", schätzt
Hans Kohlberger seine Genossen ein. Schließlich ist es Ziel
der AG, die "Interessen der Älteren innerhalb und
außerhalb der SPD zu vertreten und Menschen für die
sozialdemokratische Programmatik zu gewinnen" - so steht es in den
Richtlinien des Parteivorstandes. Neben der parteiinternen Arbeit
nehmen die reifen Genossen unter anderem teil in der Berliner
Landesseniorenvertretung. Sie arbeiten auch in vielen regionalen
politischen und sozialen Verbänden für ältere
Menschen mit. "Manchmal", erzählt der Vorsitzende, sage man
aber durchaus auch etwas Kritisches über die Mutterpartei,
obwohl sie seit Jahrzehnten die politische Heimat fast aller 60
Plusler ist. Das ist etwa bei den aktuellen Arbeitsmarktreformen
der Fall und der Informationspolitik darüber oder wenn es um
den "Jugendwahn in der Partei" geht, wo einige meinten, "das Rad
noch mal neu erfinden zu müssen", pflichtet sein Brandenburger
Kollege bei.
Für Horst Uelze, der seine Termine anders als fast alle
hier in einem modernen Palm-Organizer notiert, geht Seniorenpolitik
darüber hinaus. Sie umfasse schlicht "alles, was Senioren
interessiert". Dazu gehörten auch Bildung, ganz besonders jene
der eigenen Enkel. Deswegen arbeite man auch gerne - und oft besser
als mit den Mittelalten - mit den Jusos zusammen. Und
schließlich haben die Mitglieder der AG 60 Plus auch so eine
Art Mission. Zumindest formuliert es die resolute Lilo Strachmann
so, eine der stellvertretenden Vorsitzenden der Berliner AG 60
Plus: "Dass die Menschen endlich begreifen, dass sie mit 60 noch
etwas anderes tun können, als sich in den Sessel zu setzen und
auf Besuch zu warten."
Auf ähnliche Weise teilt Irmgard Schwätzer Senioren
ein: Erstens in solche, die stricken, und zweitens in solche, die
die "altersgemäße Spaßgesellschaft" nach dem Ende
des Berufslebens genießen, also noch mal studieren, eine
Weltreise machen oder ehrenamtlich arbeiten. Die 62-jährige
einstige FDP-Generalsekretärin und Bundesbauministerin
gehört ganz klar zur zweiten Gruppe. Ihr Rückzug aus dem
Bundestag vor zwei Jahren sei ein "bewusster Schritt" gewesen. Sie
wollte viel Neues tun. Unter anderem etablierte sie im Februar
vergangenen Jahres zusammen mit acht Freunden den Berliner
Landesverband der Liberalen Senioren, die sich abgekürzt LiS@
schreiben - das "@" sei der "moderne Anstrich", wie Irmgard
Schwätzer mit einem Lächeln meint. Für die Berliner
Gruppe klang das scheinbar noch nicht modern genug. Direkt nach der
Gründung nannte sich die Gruppe um in "Liberale AG der
Generationen", kurz LiG@. "In Berlin will keiner ein Senior sein,
das entspricht nicht der Quirligkeit der Stadt", begründet
Frau Schwätzer die gewollt dynamische Namensgebung.
Da überrascht es wenig, wenn die Landesverbandsvorsitzende
hinzufügt, dass "ihre" liberalen Senioren auch keine
klassische Seniorenpolitik machen. Schwerpunkte der Arbeit seien
alle Fragen und Bereiche, in denen Jung und Alt zusammenwirken, und
manchmal auch zusammenstoßen. So sind unter den inzwischen
rund 45 Mitgliedern - anders als bei den Sozialdemokraten gibt es
keine automatischen Mitgliedschaften, das sei nichts für eine
Partei wie die FDP - auch einige Anfang 20, wenige im mittleren
Alter und die meisten über 55. Der Älteste sei über
80, aber "jedes Mal da", berichtet Irmgard Schwätzer.
Seniorenpolitik ist für sie die "Mobilisierung der
Kräfte von Menschen, die das aktive Berufsleben hinter sich
haben, Erfahrungen gesammelt haben und diese weitergeben wollen".
Die Berliner LiG@ organisiere deswegen auch abwechselnd politische
und kulturelle Veranstaltungen; auf eine Führung durch die
Berliner MoMA-Ausstellung folgt im nächsten Monat etwa eine
Diskussion mit einem Bundestagsabgeordneten. Den besonders Senioren
betreffenden Gesetzen werde nur ein vergleichsweise kleiner Raum
der Arbeit eingeräumt: Viele Gesetze, die Altersgrenzen
vorsehen, wie etwa für Schöffen, die höchstens 70
Jahre alt sein dürfen, seien zwar "totaler Quatsch", findet
die frühere Ministerin: "70-Jährige sind in vielen
Bereichen die wichtigsten Stützen." Aber statt auf ein eigenes
Seniorengesetz zu drängen, das die Vertretung der Älteren
in der Gesellschaft regelt, sollten die Senioren einfach selbst
aktiv werden. So wie die Damen und Herren der LiG@: "Wir vertreten
uns selber."
Ein wenig klassische politische Arbeit machen die liberalen
Generationsüberbrücker aber doch: Zur Europawahl gab es
einen eigenen Flyer, auf FDP-Veranstaltungen trete man mit einem
eigenen Stand auf, derzeit werden die Anträge für den
Landesparteitag formuliert.
Und während die Zusammenarbeit mit der Mutterpartei im
Landesverband Berlin hervorragend funktioniere, ist die ehemalige
Ministerin mit der Diskussion in der Bundespartei nicht zufrieden:
"Der Generationendialog kommt dort praktisch nicht vor." Auch
deswegen hält sie die Einrichtung der Seniorengruppen in der
Partei für "sinnvoll". Nicht alle Landesverbände sind ihr
jedoch politisch progressiv genug ausgerichtet: "Wir haben noch
Diskussionsbedarf, wofür sie stehen und was sie machen
sollen", formuliert Irmgard Schwätzer geradezu
altersweise.
Für viele Senioren spielt Politik insgesamt nur eine sehr
untergeordnete Rolle, selbst für jene, die in Verbänden
organisiert sind, welche sich für die Belange älterer
Menschen einsetzen, aber eben auch Tanztees und Wandertage
organisieren. Dort werde Wert darauf gelegt, dass man "politisch
ungebunden" sei, berichtet Inge Frohnert, die Vorsitzende der
Arbeitsgemeinschaft Berliner Senioren (ABS), einem Zusammenschluss
von Seniorenverbänden und -vereinen. Auch sonst sei das
Interesse, sich mit politischen Inhalten zu beschäftigen,
gering: "Das ist nicht so gefragt", wie die frühere
Vorsitzende der Berliner AG 60 Plus bei ihrer Arbeit immer wieder
merke.
Neben den Parteien sind die Gewerkschaften die andere große
Ausnahme davon. Dort gründen sich seit einigen Jahren
verstärkt spezielle Rentnergruppen. Das bringt beiden Seiten
etwas: "Viele wissen nichts mehr mit der Gewerkschaft anzufangen,
wenn sie in den Ruhestand gehen, und treten dann aus", berichtet
Undine Flemmig, Referentin beim von DGB und der Volkshochschule
getragenen Bildungswerk "Arbeit und Leben". In Zusammenarbeit mit
"Silberstreif", der Seniorengruppe von Ver.di Berlin, hat sie
mehrere seniorenpolitische Projekte entwickelt. Geradezu klassisch
ist dabei das Beispiel einer auf sechs Personen angewachsenen
Gruppe langjähriger Betriebsräte, die Schulunterricht
gibt. Natürlich nicht irgendeinen: In den 80-minütigen
Einheiten geht es um "Demokratie im Betrieb", also etwa um
Mitbestimmungsrechte.
Im Mai dieses Jahres war Premiere an einem nicht ganz einfachen
Ort: "Die Moses-Mendelsohn-Oberschule im Bezirk Tiergarten hat zu
70 Prozent Schüler nichtdeutscher Herkunft", berichtet der
68-jährige Heinz Lubosch, einer der "Lehrer". Dort haben sie
sich die sechs 10. Klassen ausgesucht. Ein "Wagnis und eine
Herausforderung" sei das gewesen, so der frühere
Betriebsratsvorsitzende bei der Stiftung Warentest. Es klappte
hervorragend: Eine Klasse habe ihnen am Ende des Unterrichts sogar
applaudiert - zur Verwunderung einiger "richtiger" Lehrer. Grund
für den Erfolg sei vor allem gewesen, dass den Schülern
bewusst geworden sei, wie hier jemand aus der eigenen Erfahrung von
40 Jahren Arbeit berichte, meint Heinz Lubosch, der auch von der
Statur zum Arbeiterführer taugte. Noch in diesem Schulhalbjahr
soll das Projekt weitergehen. Diesmal an einer Berufsschule im
Havelland.
Bert Schulz ist freier Journalist und lebt in Berlin.
Zurück zur
Übersicht
|