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Ulrike Baureithel
Die Prognosen sind nur Modelle
Schrumpfung als Chance / Von Ulrike
Baureithel
Voraussichtlich gilt ab kommendem Jahr für
alle Beitragspflichtigen der Pflegeversicherung eine bemerkenswerte
Neuerung: Kinderlose müssen dann mehr Beiträge entrichten
als Versicherte mit Kindern. Damit reagiert die Politik auf ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die doppelte Belastung
von Versicherten mit Kindern beenden soll: Eltern zahlen
nämlich aktuell in die Pflegekasse ein und sorgen gleichzeitig
für die künftigen Beitragszahler. Die Richter forderten
deshalb eine Entlastung der Erziehenden; die Bundesregierung
benutzte das Urteil dann allerdings zur Sanierung der Pflegekasse,
indem sie die Beiträge für Kinderlose anhob und den
sozialen Ausgleich auf diese Weise herstellte.
Bemerkenswert ist die "Strafsteuer" für
Kinderlose, weil sie erstmals finanziell spürbar ins
Bewusstsein hebt, was bislang nur das mediale Panikorchester
instrumentiert hat: Die "demografische Zeitbombe". Im Jahre 2050
wird die Hälfte der Deutschen über 50 Jahre alt sein
(heute circa 40 Jahre). Damit, so die Prognosen, stehe Deutschland
vor dem Problem, dass immer weniger Erwerbstätige immer mehr
immer älter werdende Menschen finanzieren müssen,
jedenfalls so lange die Sozialversicherungen - also die
Gesundheits-, Pflege- und Rentenkassen - fast ausschließlich
nach dem bisherigen Umlagesystem funktionieren. Auch der
mittlerweile von Rentnern erhobene Beitrag für die Kranken-
und Pflegeversicherung ändert daran wenig, sagen die
Statistiker.
Alter macht Angst. Altsein wird mit
Gebrechlichkeit und Abhängigkeit assoziiert, auch wenn es
gleichzeitig als erstrebenswert gilt, dass die Menschen immer
älter werden. Unsere jugendverliebte Republik tut sich schwer
damit, das Phänomen Alter zu akzeptieren oder gar zu ehren wie
in früheren Zeiten. Doch die Rede von "gierigen" Rentnern, die
den Jungen alles "wegfressen" und ihnen keine Chance lassen, die
Bilder von "Rentnerbergen" und "Überalterung" oder gar
"Schrumpfung" - wo wir alle doch mit dem erklärten Ziel
unbegrenzten Wachstums leben - zeichnet Schreckensvisionen. Die
Alten werden gegen die Jungen ausgespielt, wobei es egal ist, ob
zur "Jungenrevolution" aufgerufen wird wie beispielsweise von
Daniel Dettling, oder die Alten ermutigt werden, sich gegen die
"Diktatur der Jungen" zur Wehr zu setzen, wie von FAZ-Herausgeber
Frank Schirrmacher.
Auffällig ist, dass es sich dabei um
eine in die Zukunft projizierte Phobie handelt. Denn die
geburtenstarken Jahrgänge sind heute ja noch im
Erwerbstätigenalter, aktive Beitragszahler also - wenn sie
einen Job haben. Aber genau das ist der springende Punkt: Die
heutigen Probleme der Sozialsysteme haben (noch) nichts mit
"Altenlasten" zu tun, sondern sind die Folgeerscheinungen einer
nicht und wahrscheinlich nie mehr vollbeschäftigten
Gesellschaft. Wenn heute über Bürgerversicherung,
Kopfpauschale oder Riester-Rente gestritten wird, dann als
Folgewirkung der Arbeitsmarktsituation. Dennoch gewinnt man
gelegentlich den Eindruck, dass das Horrorszenario von einer
"vergreisenden Gesellschaft" in der öffentlichen Debatte als
Sprungvorlage für unangenehme Maßnahmen dient: Die
Kürzung von Sozialleistungen und der Rückbau von
Infrastruktur, all dies kann mit den demografischen Prognosen
verbunden werden. Implizit unterstellt wird, dass die Leute
(genauer: die Frauen) selbst für die Situation verantwortlich
sind, weil sie zu wenig Kinder produzieren. Vergessen wird dabei,
dass nicht einmal die heute lebenden Jugendlichen genügend
Ausbildungschancen haben.
Blickt man in die Geschichte, erkennt man,
dass Fertilität und die Reproduktionskraft einer Gesellschaft
immer schon eine politische Angelegenheit waren. 1913 trieb die so
genannte "Gebärstreikdebatte" die Sozialdemokratie um, um 1930
(also vor den bevölkerungspolitischen Programmen der
Nationalsozialisten) fahndeten Wissenschaftler nach den
Gründen für das zurückhaltende
Reproduktionsverhalten der Deutschen, und heute blickt die
amerikanische Politik alarmiert auf die sinkende Geburtenrate in
Europa, weil befürchtet wird, dass künftig weniger Geld
in den militärischen Apparat fließen könnte.
Andererseits offenbart die Geschichte auch, dass sinkende
Kinderzahlen Gesellschaften wohlhabender machen, während
Gesellschaften mit einem hohen Jugendanteil in der Regel ärmer
sind. Und noch etwas lässt sich aus der Geschichte lernen: die
Unwägbarkeit und Unzuverlässigkeit von
Prognosen.
Der mit Statistik vertraute
Sozialwissenschaftler Gerd Bosbach beispielsweise warnt davor, die
50-Jahresberechnungen des Statistischen Bundesamtes allzu zu ernst
zu nehmen, weil niemand sagen kann, welche unvorhergesehenen
Umstände die Situation verändern könnten. In der
Vergangenheit seien weder die Weltkriege (was wir uns nicht
wünschen wollen), noch die Pille, noch die Arbeitsmigration
prognostiziert worden. Weshalb also sollten künftige
Zuwanderungsschwankungen, die Fertilitätsrate, Epidemien oder
politische Großereignisse vorauszusehen sein?
Vielleicht entschließen sich
zukünftig viele Frauen nach der Menopause doch noch für
ein Kind, weil die Reproduktionsmedizin entsprechende Leistungen
anbietet, die Frauen länger leben und sich vital genug
fühlen, auch noch spät ein Kind aufzuziehen? Vielleicht
werden die großen Wanderungsbewegungen dazu führen, die
Adoptionsregelungen zu erleichtern, sodass sich hier zu Lande
wohlhabendere Menschen Kindern annehmen, die sonst geringe Chancen
hätten? Wer will schon vorhersagen, wie sich die
Lebenserwartung insgesamt tatsächlich entwickelt, angesichts
absehbar rationierter medizinischer Leistungen? Und wer wird
ernsthaft glauben, dass das Renteneintrittsalter in 20 Jahren noch
bei 65 Jahren liegen wird?
Ganz zu ignorieren sind diese natürlich
nicht: Ganz sicher werden wir uns auf eine älter werdende
Gesellschaft einzurichten haben und auf schmerzliche
Verteilungskämpfe, die zwischen Alt und Jung ausgetragen
werden. Aber eben nicht nur: auch zwischen wohlhabenden und
ärmeren Bevölkerungsschichten, zwischen Menschen mit
Kindern und Kinderlosen, Deutschen und Nichtdeutschen,
Arbeitsplatzbesitzern und Lohnarbeitslosen, und nicht zuletzt
zwischen Männern und Frauen wird es zu Verteilungskonflikten
kommen. Die Beschwörung von "demografischen Zeitbomben" ist
auf jeden Fall kontraproduktiv und löst kein einziges
Problem.
Ulrike Baureithel ist Redakteurin beim
"Freitag".
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