Rita Schutt
Statistiken sind nicht das Leben
Es wird in Europa nicht leer werden -
Demografiedebatte objektivieren
Immer häufiger wird über die demografische Entwicklung
in Deutschland debattiert. Dabei ist die Diskussion bisweilen
überzogen, ja polemisch. Fast entsteht der Eindruck, als
würde sich unsere Gesellschaft schlagartig, fast hysterisch
ihres eigenen Aussterbens bewusst.
Richtig ist, dass soziale Sicherungssysteme an absehbare
demografische Entwicklungen angepasst und zukunftsfähig
gestaltet werden müssen. Die Belastungen Erwerbstätiger
durch Rentenbeiträge müssen in verträglichen Grenzen
gehalten werden, damit der Leistungswille nicht durch die Last der
Abgaben erdrückt wird. Gleichzeitig müssen die
Lohnnebenkosten auf einem Niveau stabilisiert werden, das die
Schaffung von Arbeitsplätzen nicht beeinträchtigt.
Richtig ist auch, alle verfügbaren Daten und Projektionen zu
nutzen, um sich ein möglichst genaues Bild über epochale
Veränderungen zu verschaffen.
Doch genau da liegt ein Problem: Gerade die
Bevölkerungsentwicklung innerhalb bestimmter Landesgrenzen
entzieht sich einem Blick in die ferne Zukunft. Nach der aktuellen
Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes
wird im Jahr 2050 die Hälfte der Bevölkerung 48 Jahre und
ein Drittel 60 Jahre oder älter sein.
Wie zuverlässig sind Statistiken? Die Arbeit mit sehr
langen Zeitreihen birgt erhebliche Probleme. Künftige
Fertilität, Mortalität, Frauenerwerbstätigkeit und
Migration können beispielsweise nur unter bestimmten Annahmen
grob geschätzt, aber nicht genau prognostiziert werden. Auch
das Statistische Bundesamt selbst weist bei seinen Berechnungen
ausdrücklich darauf hin, dass Annahmen zu
Geburtenhäufigkeit, Entwick-lung der Lebenserwartung und des
Wanderungssaldos mit zunehmendem Abstand zum Ausgangszeitpunkt
immer unsicherer werden. Solche langfristigen Rechnungen haben
somit vor allem eins: Modellcharakter.
Allein die Betrachtung der zurückliegenden 50 Jahre und der
in diesem Zeitraum erfolgten technologischen wie auch
demografischen Veränderungen belegt dies deutlich: Niemand
konnte in den 50er-Jahren den Siegeszug der Pille in den
70er-Jahren voraussagen, das Anwachsen ausländischer
Bevölkerungsanteile war ebenfalls nicht so vorhersehbar, wie
dann geschehen, und die Deutsche Wiedervereinigung ist das Beispiel
schlechthin, das alle statistischen Prognosen von einem Moment auf
den anderen revidiert hat. Dies sind nur einige Umbrüche, die
bei einer schlichten Fortschreibung nicht berücksichtigt
worden wären.
Und die Zukunft? Das Zusammenwachsen der europäischen
Staaten führte in den vergangenen Jahren zunehmend zu einer
Landesgrenzen übergreifenden Suche nach Lösungen für
gemeinsame Probleme. Technologische Neuerungen werden zu weiterem
Anstieg der Produktivität beitragen. Man muss daher
anzweifeln, dass die auf heutigen Angaben basierenden Projektionen
ihrerseits in der Lage sind, ein realistisches Bild der
Gesellschaft im Jahre 2050 zu ermöglichen. Ganz zu schweigen
von Versuchen über das Jahr 2050 hinauszublicken. In jedem
Fall muss man hinterfragen, welche Folgen tatsächlich auf die
öffentlichen Haushalte zukommen. Beispielsweise könnte
der Etat für Schulen und Hochschulen bei einem Rückgang
an Kindern und Jugendlichen sinken, während die Ausgaben
für Gesundheit und Pflege vermutlich zunehmen.
Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der tatsächlichen
Auswirkungen lassen sich auch an dem so genannten Altersquotienten
verdeutlichen. Er zeigt die zu erwartenden Verschiebungen im
Altersaufbau. Für das derzeitige, tatsächliche
durchschnittliche Rentenzugangsniveau von 60 Jahren lag er in 2001
bei 44, das heißt 100 Menschen im Erwerbsalter (von 20 bis 59
Jahren) standen 44 Personen im Rentenalter (ab 60 Jahren)
gegenüber. In einer Variante der Vorausberechnung des
Statistischen Bundesamtes wird der Altenquotient bis 2050 bis auf
78 steigen. Würden aber die Menschen nicht mit 60, sondern
erst mit 65 Jahren in den Ruhestand wechseln, ergäbe sich ein
deutlich niedrigerer Altenquotient von 55.
Löst man sich von einer rein nationalen Betrachtung und
betrachtet man zugleich die Ursachen für die gegenwärtige
Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, stellt sich das ganze
Problem ohnehin in einem ganz anderen Licht dar. Niemand wird
bestreiten, dass die Erde insgesamt über eine ausreichend
große Bevölkerungszahl verfügt. Zugleich ist die
Zeitgeschichte ein Beleg für den zyklischen Aufstieg und
Niedergang von Gesellschaften und Systemen. Ob chinesische
Hochkultur oder Römisches Reich, die Weltgeschichte ist
geprägt von Geschichten über sich entwickelnde,
aufstrebende und siegreiche Systeme, die ab einem gewissen Punkt
wieder an Bedeutung verloren. Derartige Entwicklungen reduzieren
sich nicht auf einem Zeitpunkt, sie sind ein Prozess, der sich
über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinzieht. Zeit für
andere Kulturen, ihrerseits Wissen anzusammeln und
nachzurücken.
So wie wir heute nicht exakt sagen können, wie sich die
Bevölkerung in Deutschland oder Westeuropa entwickelt, so
können wir nicht prognostizieren, wie sich die
Bevölkerung weltweit entwickeln oder geographisch verlagern
wird. Mit Sicherheit aber wird es in Europa nicht leer werden. Die
Zuwanderungsproblematik aller westlichen Industrienationen zeigt,
dass es eine starke Bevölkerungsbewegung aus anderen Teilen
der Welt in diese Länder gibt. Zuwanderung muss allerdings
durch eine Integrationspolitik ergänzt werden, die eine
umfassende Vermittlung von Sprache, Kultur und Geschichte des
Landes beinhaltet. Mit einer sehr starken Zuwanderung dürfte
in jedem Fall eine innere Veränderung der Kultur und des
Selbstverständnisses des Ziellandes verbunden sein. Durch
geeignete Integrationsmaßnahmen können jedoch eine
gewisse Annäherung und ein schonenderer Übergang für
eine Nation und ihre Neuankömmlinge erreicht werden.
Die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung ist
seriös nicht über einen Zeitraum von bis zu 50 oder mehr
Jahren vorauszuschätzen. Maßnahmen wie sie
gegenwärtig von der Politik ergriffen werden, wie Reform des
sozialen Sicherungssystems und verbesserte
Kinderbetreuungsmöglichkeiten leisten bereits einen kleinen
Beitrag zur Antwort auf anstehende Fragen. Die Schaffung weiterer
geeigneter Rahmenbedingungen mag einen Wandel in der demografischen
Entwick-lung unterstützen. Jeder einzelne ist aber auch
gefordert, sein Wertesystem zu überprüfen und vielleicht
einen Kurswechsel vorzunehmen, damit er in seinem individuellen
Leben die Freude über Kinder und die Geborgenheit einer
Familie kennen- und schätzen lernt.
Die Autorin ist Diplom-Volkswirtin, und in der
Grundsatzabteilung des Bundesministeriums der Finanzen mit Fragen
der Wirtschaftspolitik, Forschung und Politikberatung befasst. Der
Artikel gibt die Meinung der Autorin wieder.
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