Jobst-Hinrich Wiskow
Riester 15 Jahre zu spät gekommen
Deutschland hat verschlafen: Sozialversicherung
gehört auf den Prüfstand
Kinder kriegen die Leute immer", erklärte Bundeskanzler
Konrad Adenauer in den 50er-Jahren. Der CDU-Politiker war 80 Jahre
alt, als seine Regierung die umlagefinanzierte Rente
einführte: Die Arbeitnehmer zahlten einen Beitrag ihres
Einkommens in die Rentenkasse, die das Geld den Ruheständlern
überwies. Adenauer irrte - die Deutschen bekamen und bekommen
immer weniger Nachwuchs. Das Verhältnis zwischen Arbeitenden
und Alten gerät aus der Balance, das Rentensystem wird immer
teurer, der demografische Wandel macht das
Sozialversicherungssystem insgesamt unfinanzierbar.
Einerseits erreichen immer mehr Menschen das Alter Adenauers,
der fast 90-jährig im Jahre 1967 starb. Bis 2050 wird sich
nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts die Zahl der
über 80-Jährigen mehr als verdreifachen - auf rund zehn
Millionen. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung klettert von
derzeit 40 auf 52 Jahre.
Andererseits bekommt eine Frau in Deutschland heutzutage
durchschnittlich nur noch 1,4 Kinder. Das Land hat eine der
niedrigsten Geburtenraten der Welt. Immer weniger Jüngere
müssen immer mehr Ältere versorgen. Weil zudem das
Verhältnis zwischen Rentnern und Arbeitskräften -
verstärkt durch die Beschäftigungsmisere - schneller
kippt, steigen die Beiträge für die sozialen
Versicherungssysteme zwangsläufig.
Dabei will die Bundesregierung die Sozialabgaben seit Jahren
unter die magische Marke von 40 Prozent des Lohns senken. Aber das
ist ihr bislang misslungen. Zurzeit werden knapp 42 Prozent
fällig: In die gesetzliche Rentenversicherung fließen
derzeit 19,5 Prozent; die Beiträge in der gesetzlichen
Krankenversicherung liegen in einigen Kassen so hoch wie nie und
erreichen durchschnittlich 14,1 Prozent; für die
Arbeitslosenversicherung müssen Arbeitnehmer und Arbeitgeber
6,5 Prozent leisten; die gesetzliche Pflegeversicherung
schlägt mit 1,7 Prozent zu Buche.
"Wer nichts tut, macht alles nur schlimmer", sagt Bundeskanzler
Gerhard Schröder. Aber trotz der Agenda 2010, die
Rot-Grün unter Schröder umsetzen will, gelingt der
Regierung nicht die Trendwende. Heute und erst recht in der Zukunft
fressen die sozialen Sicherungssysteme das Fundament auf, das sie
dringend benötigen: die ökonomische
Leistungsfähigkeit. Noch mehr Reformen tun not - und
Oppositionsführerin Angela Merkel analysiert: "Das
größte Missverständnis zwischen Politik und
Bevölkerung besteht darin, dass die Politik die Sicherung des
Lebensstandards nicht versprechen kann, wenn er nicht erarbeitet
wird."
Zwar sinken die Sozialabgaben auf Grund der Reformen in den
kommenden Jahren zunächst um knapp vier Prozentpunkte auf gut
38 Prozent, schreibt das Ifo-Institut in einer Studie im Auftrag
des Bundesfinanzministeriums. "Anschließend", warnen die
Wissenschaftler, "steigen sie bis 2050 jedoch kontinuierlich an" -
wegen der demografischen Entwicklung. Die Kinderlosigkeit sei "eine
der größten Herausforderungen für die Wirtschafts-,
Finanz- und Sozialpolitik der nächsten Jahrzehnte".
Staat steckt in einem Dilemma
Die Politik steckt im Dilemma. Erhöht der Staat die
Sozialbeiträge, verteuert er den Faktor Arbeit - was Jobs
vernichtet. Hebt er die Steuern an, um die Sozialkassen mit seinen
Geldern zu bezuschussen, belastet er die Steuerzahler. Dann
verfügen die Verbraucher über weniger Einkommen, um zu
konsumieren. Den Unternehmen fehlt das Kapital, um zu investieren.
Auch das kostet Arbeitsplätze.
Die jahrelang gewählte Strategie der öffentlichen
Hand, einfach mehr auszugeben als einzunehmen, ist keine
Lösung. Sinn und Zweck der Haushaltskonsolidierung haben sich
herumgesprochen. Schon auf gegenwärtigem Niveau bürdet
die staatliche Verschuldung der heutigen Generation ihren Kindern
und Kindeskindern eine erhebliche Last auf. Sie verteilt sich
künftig auf immer weniger Schultern, was den Lebensstandard
der Nachfahren immens beeinträchtigt.
Nach der Ifo-Studie beansprucht die öffentliche Hand einen
immer größeren Teil des Kuchens. Die Staatsquote
wächst auf mehr als 50 Prozent. Damit übertrifft der
öffentliche den privaten Anteil am Bruttoinlandsprodukt -
kurios für eine Marktwirtschaft. Bereits heute lebt mehr als
die Hälfte der Bundesbürger von staatlichen Transfers:
Die Mehrheit konsumiert Leistungen, für die eine Minderheit
aufkommen muss.
"Schnelle Reformen sind nötig", fordert der Internationale
Währungsfonds (IWF) mit Blick auf die alternden Gesellschaften
der nördlichen Hemisphäre. Er verlangt einen Politik-Mix,
der es in sich hat: einen größeren Anteil von Arbeitenden
in der Bevölkerung, längere Lebensarbeitszeiten, mehr
Zuwanderer, höhere Produktivität - und all das auch noch
schnellstmöglich.
Die Rezepte sind schwer verdaulich und nur mühsam
durchsetzbar. Trotzdem machen einige Staaten bereits vor, wie die
Sozialversicherungen wieder eine Zukunft bekommen. Ausgerechnet
Schweden, in den Augen vieler der Wohlfahrtsstaat par excellence,
verordnete seinen Bürgern einen rigorosen Sparkurs. Selbst der
traditionell steuerfinanzierten Volksrente, auf die bis vor wenigen
Jahren jeder Schwede einen Anspruch hatte, ging es an den Kragen.
Angesichts der Finanznöte kürzte die Politik das
Arbeitslosen- und Krankengeld, die Familienbeihilfen und
Renten.
Überall auf der Welt finden sich Beispiele für
Volkswirtschaften, die mit deutlich weniger Sozialabgaben auskommen
als Deutschland. Mehr als 40 Prozent müssen nicht sein: In den
USA und Japan, Dänemark und Großbritannien liegt die
Quote nur zwischen zehn und 20 Prozent.
Sie lässt sich beispielsweise drücken, indem
ältere Beschäftigte länger arbeiten, anstatt in die
Rente abgeschoben zu werden. Laut Gesetz sollen Arbeitnehmer in
Schweden, Großbritannien und Deutschland mit 65 in Rente
gehen. Tatsächlich jedoch arbeiten in Schweden 68 Prozent der
Männer zwischen 55 und 64 Jahren, in Großbritannien 60
Prozent. Dagegen sind es in Deutschland nur 48 Prozent.
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) beklagt das Motto
30-60-90, das auf viele gut ausgebildete Akademiker mit einem hohen
Einkommen zutrifft: "Bis 30 ausgebildet werden, bis 60 arbeiten und
90 Jahre alt werden." Ihre Forderung: "Vorn und hinten ist mehr
möglich, ohne dass wir auf Qualität verzichten
müssen."
In der Rentenversicherung steuert das Adenauer-Modell derweil
auf immer größere Schwierigkeiten zu. Für Axel
Börsch-Supan, Professor am Mannheimer Forschungsinstitut
Ökonomie und demographischer Wandel, wäre es ideal
gewesen, hätten die Deutschen sich in den 80er-Jahren vom
Generationenvertrag verabschiedet und auf ein halb
umlagefinanziertes und halb kapitalgedecktes Verfahren umgestellt.
Länder wie die Schweiz und die Niederlande haben die Chance
genutzt - und nun weit weniger Probleme.
"Riester ist 15 Jahre zu spät gekommen", sagt der
Rentenexperte. Zwar sorgt die nach dem Arbeitsminister der Jahre
1998 bis 2002 bezeichnete Rente dafür, dass es neben dem
Umlageverfahren von Generation zu Generation eine weitere
Säule gibt: das Kapitalverfahren, in dem ein im Erwerbsleben
Aktiver für den eigenen Ruhestand vorsorgt. Allerdings kommt
sein Anteil bis 2008 nur auf maximal vier Prozent des Bruttolohns -
eine im internationalen Vergleich klitzekleine Summe.
Zurzeit sichert die gesetzliche Rente hier zu Lande 85 Prozent
der Alterseinkommen. In Großbritannien sind es nur 65 Prozent.
Denn die Säulen der privaten Vorsorge sind stärker
ausgebaut - weil die Firmen ihren Mitarbeitern eine private
Versicherung zu günstigen Konditionen anbieten
müssen.
Soziale Kosten der Integration
Staaten wie Großbritannien, Kanada und die USA setzten
früh auf mehr Zuwanderung. Deutschland hielt die Grenzen
hingegen recht verschlossen, so dass heute Einwanderer aus dem
Ausland den demografischen Prozess längst nicht mehr umkehren
können. So müssten jährlich per saldo rund 400.000
Menschen zuwandern, nur um die Bevölkerungszahl hier zu Lande
stabil zu halten. Um die demographisch bedingte Schrumpfung des
inländischen Arbeitskräfteangebots auszugleichen,
müssten es sogar netto 550.000 pro anno sein. "Die sozialen
Kosten der Integration würden kräftig steigen", sagt
Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank.
Dass höhere Produktivität den Einbruch ausgleicht, ist
unwahrscheinlich. Denn je mehr Senioren es gibt, umso stärker
dürften die Widerstände gegen Innovation sein, etwa gegen
neue Prozesse oder Produkte. "In älteren Gesellschaften ist
die Risikoaversion größer, und der technische Fortschritt
ist geringer", sagt der ehemalige Wirtschaftsweise Horst Siebert.
"Die wirtschaftliche Dynamik wird sinken."
Das passt nur noch schwer zu den für Deutschland typischen
Unternehmen, die sich Innovation auf die Fahnen geschrieben haben -
ob aus dem Maschinenbau, der Autoproduktion oder der
Elektroindustrie. Ein Konzern wie Siemens erneuert seine
Produktpalette heutzutage alle fünf Jahre. Im Jahr 1980
erlöste das Unternehmen erst 48 Prozent mit Gütern, die
jünger als fünf Jahre waren. 1985 waren es bereits 55
Prozent, und 2001 erreichte diese Quote 75 Prozent.
Dieser Trend kann zum Risiko für eine Gesellschaft werden,
in der die Älteren das Sagen haben. Schließlich war
Kapital niemals zuvor so mobil wie heute - per Knopfdruck kann es
jeder Anleger exakt dort auf der Welt einsetzen, wo er eine
höhere Rendite erwartet. Womöglich versprechen die
durchschnittlich jüngeren Volkswirtschaften in Fernost, Nord-
und Lateinamerika mehr Offenheit für Neuheiten und einen
höheren Ertrag für Investoren.
"Politiker müssen die Reformvorhaben voranbringen, bevor
die Chance ein für alle Mal vertan ist", warnt der IWF, "in
vielen Ländern fährt in Sachen Rentenreform der letzte
Zug in nicht allzu ferner Zukunft ab." So dauere es in Deutschland
nur gut zehn Jahre, bis die Mehrheit aller Wähler älter
als 50 Jahre ist - eine Mehrheit für Veränderung ist dann
noch schwerer zu finden als heute.
Es sei denn, die Alten gelten demnächst einfach nicht mehr
als alt - und bleiben, selbst mit 65 oder 75, jung.
Demografieforscher Vaupel prognostiziert, dass die Lebenserwartung
in den kommenden Dekaden um jeweils 2,5 Jahre zunimmt. Im Jahr 2100
beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung eines
Neugeborenen dann mehr als 100 Jahre. "In Zukunft", glaubt der
Wissenschaftler, "können die Menschen ohne Probleme bis zu
ihrem 70. oder gar 80. Lebensjahr arbeiten".
Dr. Jobst-Hinrich Wiskow ist Redakteur des Wirtschaftsmagazins
"Capital" in Köln.
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