Matthias Horx
Die neue Alterskultur
Langsam verliert das Alter das Stigma des
Niedergangs
In unserer deutschen Reformdebatte herrscht eine
seltsame Übereinkunft des Negativen. Wir debattieren das Neue,
das auf uns zukommt, das Herausfordernde der Zeit, auf eine
seltsame, manchmal fast absurde Weise Ergebnis-negativ. Besonders
die Altersdebatte unterliegt diesem Mechanismus des "Alarmismus",
wie wir diese Debattenkultur nennen möchten, die sich vor
allem von der Sensation der Angst, dem Getöse der Zuspitzung
nährt, aber im Grunde wenig an der Frage der Lösung und
Veränderung interessiert ist. Wie aber kann eine Lösung
aussehen?
Die Alterung unserer Gesellschaft hat zwei
Teile. Der erste Teil ist das Fehlen von Kindern, was zweifellos
negativ ist. Es lässt sich aber auf einen ganz klaren
Ursachen-Kern, einen Schlüsselmoment zurückführen.
Es ist weder der Wertezerfall, noch der Egoismus der Jungen, noch
die Spaßgesellschaft, die unsere Geburtenraten nach unten
getrieben haben. Das hartnäckige Tief der Geburtenraten hat
seine zentrale Ursache im ständig steigenden Bildungspotenzial
der jungen Frauen. Höhere Bildung beinhaltet immer eine Option
auf die Realisierung dieses Potenzials in der Erwerbsarbeit - und
die jungen Frauen wollen, wie wir aus vielen Studien wissen, auch
von dieser Option Gebrauch machen. In unserer Gesellschaft ist
diese Realisierung jedoch unmöglich, wenn man Kinder hat. Dies
wurde unlängst von unserer Familienministerin zum ersten Mal
so formuliert. Tatsache ist: In unserer Gesellschaft gibt es heute
nicht wesentlich mehr Einzelkinder als früher. Es existiert
jedoch eine Bildungsspezifische Spaltung der Fertilität. Hoch
gebildete Frauen, und das sind in den Ballungsgebieten bereits
über 40 Prozent, bekommen zu 50 Prozent keine Kinder
mehr.
Es ist also im Grunde ganz einfach, die
Geburtenrate wieder zu erhöhen. Wir müssen nur einen
Blick auf die europäischen Nachbarländer werfen, in denen
die Geburtenraten hoch sind.
Ganztagsschulen: In allen geburtsstarken
Ländern (Frankreich, Skandinavien, Großbritannien, einige
kleinere Länder) ist die Ganztagsschule das Norm-Modell. Zu
zwar etwas höheren, aber nicht massiv höheren
Gesamt-Bildungskosten.
Billige Dienstleistung: In den
Gesellschaften, in denen keine starken staatlichen
Transferleistungen bei der Kindererziehung existieren
(Großbritannien, USA), gibt es zumeist einen reichhaltig
entwickelten Service-Sektor, in dem billige und professionelle
Dienstleistungen für Familien angeboten werden
(Nanny-Services, Kid Cabs, Ferienangebote). Dies entlastet, bei
gleichzeitig niedrigeren Steuern, die Familien.
Ein anderes Mutterbild: Wir leben in unserem
Kulturkreis mit einem "Kinder- und Mutter-Mythos", der von beiden
das Äußerste fordert. Kinder sind Projekte, Heilige und
Zumutungen zugleich. Das hängt einerseits mit nachwirkenden
religiösen Menschenbildern zusammen - mit dem Mutterbild im
Katholizismus etwa. Es hängt aber auch an einer Tradition von
romantischer Verklärung der Kindheit als autonomer Ort, der so
lange wie möglich vor den Unbilden der Umwelt geschützt
werden muss.
Ein anderes Vaterbild: Gemeinsame Erziehung
zu gleichen Anteilen ist in keinem Land der Erde heute realisiert.
Aber immerhin gehen in Skandinavien zwischen einem Viertel und
einem Drittel Männer in Karenz, nicht immer ganz freiwillig,
aber nicht ohne positives Feedback (Deutschland: circa drei
Prozent). Hier kann mehr gestaltet werden, nicht nur gegen die
Männer, sondern auch in ihrem neu erwachenden
Vaterschaftsinteresse (immerhin sind heute 75 Prozent aller
Väter bei der Geburt ihres Kindes anwesend; vor 20 Jahren noch
völlig unvorstellbar).
Familienfreundliche Steuern: In Frankreich
zahlen Familien nach dem dritten Kind praktisch keine Steuern mehr.
Die Geburtenrate liegt im letzten Quartal 2003 bei 1,9 Kinder pro
gebärfähige Frau - europäischer Rekord.
Flexibilität in den Unternehmen: Auch in
Deutschland gibt es hervorragende Familien-Audits und
Teilzeit-Arbeitsverträge für Frauen. Aber unser
Steuergesetz und die Tücke der Details verhindern hier eine
positive Wirkung auf die Geburtenrate. Bis zu einem mittleren
Einkommen von etwa 2.500 Euro gilt die "Halbtagsfalle" (Frauen
geben das Geld, das sie verdienen, sofort wieder für
Babysitter aus). Der entscheidende Unterschied ist: in Frankreich,
Skandinavien und Großbritannien ist man in den Unternehmen an
den weiblichen Talenten ernsthaft interessiert. Und zwar
überwiegend aus ökonomischen Gründen. Man versucht
sie deshalb mit einigem Aufwand, im Betrieb zu halten.
Trotz aller dieser Handicaps kann man
optimistisch sein, dass die deutsche Geburtenrate innerhalb weniger
Jahre wieder stark steigen wird. Die Debatte ist in Gang gekommen,
erste Ergebnisse im Bereich Kindergarten und Ganztagsschule sind
sichtbar, die Gesellschaft artikuliert ihr Bedürfnis nach
Wandel.
Das positive Altern
Für Dante begann das Alter mit 45
Jahren. Hippokrates von Kos, der Begründer der Medizin, wurde
56 Jahre alt und war der Überzeugung, dass mit 42 Jahren "die
Lebenssäfte aus den Menschen wichen". Ich denke, die Tatsache,
dass wir alle heute ein gesegnetes Alter von 80, 90 Jahren
erreichen können, ist nichts anderes als ein Geschenk des
Fortschritts, das wir annehmen sollten und können. Der
Schlüssel hierzu liegt nicht im Demografischen, er liegt auch
nicht primär im Ökonomischen. Es geht um die Frage, wie
wir eine andere "Kultur des Alterns" erzeugen
können.
Zukunfts-Geschichte des Alterns: Warum
Menschen alt werden, unterliegt den verschiedensten
wissenschaftlichen Interpretationen. Der biologische Darwinismus
etwa definiert das Alter eher als eine Art Unfall. Die Evolution
"vergisst", unnütz gewordene Organismen zu beseitigen, und
deshalb werden wir plötzlich älter, als wir nützlich
sind. Neuere Forschungen der Soziobiologie fügen allerdings
andere Aspekte hinzu. Die ausgeprägte Langlebigkeit von Frauen
könnte einen tiefen evolutionären Sinn haben, weil in der
menschlichen Evolution Großmütter eine entscheidende
Rolle spielten. Die Menschheit hat sich auch deshalb entwickelt,
weil ältere Frauen Erziehungsfunktionen übernahmen und so
die jüngeren Frauen für andere Funktionen freisetzten. Es
gibt also, neben den biologischen, auch soziale Determinanten,
Faktoren und Transfers, die wir in der Altersfrage beachten
müssen.
In den agrarischen Gesellschaften haben sich
drei grundlegende Muster des generativen Umgangs mit dem Alter
herausgebildet.
Der Ahnenkult: In den animistischen und
fernöstlichen Familienstrukturen sind die Alten nicht nur bis
zu ihrem Tod Familienoberhäupter, sondern auch darüber
hinaus. Autorität im Haushalt haben immer die jeweils
Ältesten, weil sie den mächtigen Ahnen am nächsten
sind. Der Haushalt füllt sich also mit der Zeit mit immer mehr
mächtigeren Alten und Toten.
Das Patriarchiale Altern: Besonders in den
islamischen Kulturen übt das älteste männliche
Familienoberhaupt die Macht bis zu seinem Tode aus. Ziel der
Dynastie ist stets eine möglichst große Anzahl von
Söhnen. Das führt zu hohen Geburtenraten, radikal
getrennten Lebenswelten zwischen den Geschlechtern, und
Zwangsheiraten. Es führt auch, ähnlich wie in der
Ahnenkult-Kultur, zu eher starren Sozialstrukturen, in denen sich
Wandel, Individualität und Differenz nur sehr langsam
ergeben.
Das Ausgedinge: Der europäische Weg
unterscheidet sich deutlich von diesen Modellen. Er basiert auf
einem Kontrakt zwischen der mittleren und der älteren
Generation, nach dem die Alten bis zu ihrem Tode zu ernähren
sind. Damit verbunden war allerdings der Verlust der Macht auf dem
Hof - und eine Differenzierung der Lebenswelt der Älteren und
der Jüngeren. Michael Mitterauer beschreibt in seinem Buch
"Warum Europa?" diesen europäischen Weg so: "In
Ahnenkultgesellschaften haben die den Ahnen am nächsten
stehenden Alten eine besonders angesehen Stellung. Im Christentum
fehlt jede Begründung dieser Art für einen Altersvorrang
in Familie und Gesellschaft. In der europäischen Gesellschaft
gibt es kein Senioritätsprinzip. ... Das Ausgedinge basiert
auf der Möglichkeit, die Stellung als Hausherr im Alter
abzugeben. ... Nicht um Vater und Sohn, sondern um das Gattenpaar
erfolgt die Rekonstruktion der Familie."
In Europa, so Mitterauer, entstand durch die
gattenzentrierte Familienstruktur die Grundlage von Moderne und
Individualismus, weil durch diese Konstruktion Raum für Wandel
gesichert wurde. Gleichzeitig werden aber Ältere im Alter
"aussortiert" und erleiden einen deutlichen Einflussverlust. Diese
archaischen Bilder wirken auf vielerlei unterschwellige Weise in
unseren heutigen Altersdebatten nach. Einerseits als Angst,
"ausrangiert" zu werden. Andererseits als Befürchtung, die
Alten könnten die knappen Ressourcen der Gemeinschaft
aufzehren und die gesamte Gesellschaft in den Ruin
stürzen.
In Gesellschaften wie Deutschland und
Österreich ist die Frühverrentung in den 90er-Jahren in
einer Art Zuspitzung dieses Bildes zu einem begehrten Gut, ja einem
regelrechten gesellschaftlichen Ideal geworden. Das hat die
Vehemenz unserer heutigen Altersdebatte erst richtig zugespitzt.
Denn nun kann die Rechnung natürlich nicht mehr aufgehen, die
sich im Umlageverfahren des frühen Industrialismus entwickelt
hat. Das System steuert tatsächlich auf seinen Ruin
hin.
Wir sollten uns aber immer
vergegenwärtigen, auf welchen Bildern diese Zuspitzung
basiert. Sie ist einerseits ein Produkt der enorm gestiegenen
Produktivität der Ökonomie in der Reifungsphase des
Industrialismus, mit allen Möglichkeiten - die dies in der
Freizeit- und Pensionsgestaltung für den Einzelnen bedeutete.
Sie bezieht sich andererseits immer noch deutlich auf jene
industrielle Ära, in der Erwerbsarbeit überwiegend
körperlich monoton, verschleißend, geistig wenig anregend
war.
Um den Teufelskreis aus sinkender
Erwerbsbeteiligung der Älteren und zunehmenden Lasten der
Jüngeren zu durchbrechen, müssen wir also fragen, was
sich heute, an der Schwelle zur Wissensökonomie, in den
Lebens- und Arbeitskonstruktionen verändert - und welche
Zukunftspotentiale sich daraus ergeben. Ist Arbeit in Zukunft immer
noch jene Monotonie, die wir möglichst frühzeitig in
Richtung auf selbstbestimmte Freiräume verlassen wollen?
Stimmen die Zuordnungen noch, mit denen in der Erwerbsarbeit
Menschen in jung/produktiv und "Altes Eisen" eingeteilt wurden? All
das stimmt längst nicht mehr, und der Wandel der Bilder und
Selbstbilder ist längst im Gange.
Der Wandel des Alterns: Auch in der
Werbesprache können wir heute einen deutlichen
Paradigmenwechsel wahrnehmen, der sich in veränderten Bildern
des Altwerdens ausdrückt. Ältere reisen mehr als
früher, kleiden sich modischer und verändern ihr
Konsumverhalten. "Oma und Opa werden Hedonisten", titelte die
Wiener "Presse" anlässlich einer Studie, die das
veränderte Verhältnis der Älteren zu Wohlstand und
Konsum untersuchte. In dieser Untersuchung der GFK gaben 68 Prozent
der Älteren an, ihr Geld lieber für sich selbst
auszugeben als für die Enkel zu sparen.
Die sogenannte "Altersarmut" hat sich
über weite Strecken als Angstbild ohne Realitätsgehalt
herausgestellt. Natürlich gibt es arme Alte. Aber Altersarmut
ist heute vor allem ein Risiko der Frauen, die wenig oder geringe
Erwerbsarbeit ausgeübt haben, die ledig blieben oder mit
Männern mit geringem Einkommen verheiratet waren. Die
verfügbaren Einkommensspitzen sind heute in den Bereich der
sechsten Lebensdekade verschoben worden, wo die Älteren von
den nun 80-jährigen Eltern erben.
Während die durchgängig von
industrieller Lohnarbeit geprägte Generation noch durch ein
eher problematisches Gesundheits- und Ernährungsverhalten
geprägt war, ist Sport heute ein Thema auch für die
50+-Generation geworden. Man könnte sagen: Die Gesellschaft
"übt" das pro-aktive Altern. Das "handicapfreie" Alter
wächst in den meisten postindustriellen Ländern
stärker als die gesundheitlich eingeschränkte
Lebensphase. Die Lebenserwartung in Japan beträgt im Schnitt
83 Jahre. Nur sechs Jahre davon werden statistisch mit
"eingeschränkter Gesundheit" erlebt (die europäischen
Daten sind etwas negativer). Oder anders ausgedrückt: 75
Prozent der Alten altern erfolgreich - ohne wesentliche, die
Lebensqualität einschränkende Handicaps.
Nach ELSA, ("English Longitutinal Study of
Ageing, 2002"), sind besonders die "alten Alten" oftmals in
erstaunlicher gesundheitlicher Verfassung. 30 Prozent der befragten
Männer in den 80ern beschrieben ihre Gesundheit als "sehr gut"
oder "hervorragend", weitere 30 als "gut", 20 als "mit
Einschränkungen" und nur 20 als "schlecht". Ähnliches
gilt auch für die psychozialen Aspekte des Alterns.
Altersdepressionen existieren, aber sie sind weit weniger
verbreitet als oft unterstellt. In einer 1999-Befragung der AARP
antworteten 66 Prozent der 65+jährigen Amerikaner, dass sie in
ihrer jetzigen Lebensphase mehr aus ihrem Leben machen können
als vorher.
Auf diese Weise entsteht eine komplett neue
Lebensphase zwischen 50 und 75, die man auch als "Zweiten Aufbruch"
definieren könnte. Hier, wo man sich früher in den
Lehnstuhl setzte und langsam auf den "Ruhestand" vorbereitete,
kommt es nun zu einer Phase der Neuorientierung.
Durch alle diese Faktoren wird das Alter
langsam von seinem Stigma als "Niedergang" entcodiert. Altern wird
einerseits subjektiviert, andererseits relativiert. Relativiert,
weil viele Menschen nun in der neu entstandenen Aufbruchsphase erst
die Dinge tun (lernen), die sie im Laufe ihres Lebens versäumt
haben. Hier findet die eigentliche Individualisierungsphase, die
Ich-Entdeckung statt. Subjektiviert, weil wir 15 Jahre jünger,
aber auch 15 Jahre älter sein können, als unser
biologisches Alter es uns vorschreibt.
Flexible Erwerbsspannen
Folgende fünf Herausforderungen bilden
den Kern einer neuen Alterskultur:
Flexibilisierung der Erwerbsspannen: Dass
eine andere Erwerbs-Alterskultur möglich ist, zeigen uns
Länder wie Island, in denen das mittlere Verbleibsalter im
Beruf deutlich über die Jahresgrenze von 65 Jahren hinausgeht.
Isländer arbeiten nicht aus ökonomischer Not so lange.
Sondern weil Erwerbsarbeit in Island weit gehend bereits
wissensökonomisch-kooperatistisch orientiert ist. In fairen
Kontrakten, höherer Arbeits-Flexibilität für
Familien und Alte. Arbeit ist dort soziales Leben,
Selbst-Realisation; eben nicht nur
"Lohnabhängigkeit".
Natürlich sind wir in Deutschland noch
lange nicht so weit. Aber wir sind unterwegs. In den Unternehmen
findet heute ein deutlicher Umdenkprozess statt. Ein
Spiegel-Artikel im April 2004 brachte die Beispiele für die
Umdrehung der generativen Nachfrage. So hat etwa die Deutsche Bank
ein "Elder-Potential"-Programm entwickelt, in dem sie sich um die
Wiedereingliederung älterer Mitarbeiter bemüht - nicht
zuletzt um deren Erfahrungswissen wieder nutzen zu
können.
Ältere lernen genauso schnell wie
Jüngere. Mehrere Untersuchungen in den letzten Jahren haben
nachgewiesen, dass diesseits von Demenz und Alzheimer die
kognitiven Defizite der Älteren eher gering sind. Bestimmte
Fähigkeiten - Fachwissen oder soziale Kompetenz - können
sich im Alter sogar verstärken.
Ältere sind keineswegs weniger
leistungsfähig, sie leisten nur anders. Auch wenn sie manchen
stressreichen Job nicht mehr in Zehnstunden-Schicht ausführen
können, ist ihre Produktivität sehr gut
darstellbar.
Ältere können gerade in einer Welt
lebenslangen Lernens wichtige Scharnierfunktionen zwischen dem
Alten und dem Neuen ausüben. Piloten können im Simulator
junge Kollegen trainieren. Ältere Manager die jungen
Leistungsträger von morgen coachen.
"Ageing Economy": Re-Fixierung der
Sicherungssysteme: Auch eine alternde und schrumpfende
Bevölkerung kann ihren Wohlstand erhalten. Dafür gibt es
aber eine strenge ökonomische Bedingung: Die
Produktivität muss kräftig steigen. Ein
Produktivitätswachstum von zwei Prozent pro Jahr (in den
letzten 20 Jahren wurde dies in den Industrienationen
annähernd erreicht) bringt eine Verdoppelung des
gesellschaftlichen Wohlstands in nur 25 Jahren mit sich. Jeder, der
in dieser Zeit spart, Aktien hält, Häuser kauft oder
baut, sein Vermögen irgendwie arbeiten lässt,
partizipiert an dieser Verdoppelung!
Dass prinzipiell eine andere Grundstruktur
der Altersfinanzierung möglich ist, zeigen - bei allen
Problemen, die es auch dort geben mag - Länder wie die
Schweiz, Schweden, Großbritannien oder die Niederlande. Dort
beträgt der Anteil von Lebensversicherungen und Pensionsfonds
an den Altersversorgungen das Zehnfache des deutschen Wertes; die
stattlichen Rentenbezüge bilden also nur noch eine von drei
Säulen, auf denen der Alterswohlstand ruht.
Das neue Gesundheitspotenzial:
In einer alternden Gesellschaft ist
Gesundheit nicht mehr die Abwesenheit von Krankheit. Sondern ein
Potenzial, ein "Aktienpaket für Lebensqualität", das sich
in "gut gelebten späteren Jahren" - oder eben im Gegenteil -
ausdrückt.
Die Grundlagen für Gesundheit im Alter
werden durch Verhalten in den frühen und mittleren
Lebensjahren gelegt. Deshalb ist die Frage der Altersmedizin nicht
separierbar - sie betrifft das gesamte Gesundheitssystem und alle
Generationen. Nach wie vor betreiben wir Symptom-Medizin, nach wie
vor werden die Kosten durch reine Aufrüstung am "End of Pipe"
in die Höhe getrieben.
Ansätze in den Niederlanden können
uns zeigen, wie man selbst bei knappen Mitteln die Frage der
Lebensführung in den Vordergrund medizinischer Systeme
rückt. In den Niederlanden wird, wer mit Rückenschmerzen
zum Arzt kommt, nicht oder selten medikamentös behandelt. Es
existiert hier ein sanfter, ökonomisch spürbarer Druck in
Richtung auf Verhaltensänderung. Dieser Druck, zusammen mit
immer komplexeren und individuelleren Dienstleistungen, die die
Lebensweisen der Menschen weiter in Richtung Bewegung, gesunde
Ernährung, Stress-Management lenken können (vom
Ernährungs- bis zum "Holistic Health Coach") wird die Zukunft
unserer Medizindebatte prägen.
Der Generationenzusammenhalt
Es ist falsch, die Generationenfrage auf eine
reine Arithmetik der Sozialsysteme zu reduzieren. Reichtum und
Wohlstand verteilen sich durch unendlich viele Kapillaren, und das
Vertrauenskapital zwischen den Generationen ist nur im
Talkshow-Boulevard nahezu Null. Im Gegenteil: Viele Trends in den
Lebenswelten weisen sogar auf einen verstärkten
intergenerativen Zusammenhalt hin.
Großeltern übernehmen heute, in den
erweiterten Netzwerk-Familien, wieder mehr Erziehungsarbeit (zum
Beispiel bei Rückzug allein erziehender Frauen in die
Nähe des Elternhauses). Ihre Enkel können sie so lange
erleben, wie noch nie in der Geschichte.
In den Erbschaften und Schenkungen, die in
den nächsten Jahren die gigantischen Ersparnisse der
Nachkriegsgeneration umverteilen, transferieren die Älteren
einen Großteil des Volksvermögens zurück an die
Jüngeren. Und leisten damit mehr als einen kleinen
Ausgleich.
Revisionen des Altersbildes: Am Ende wird der
Übergang in eine ältere Gesellschaft nur gelingen, wenn
wir die Bilder, die wir mit dem Altern verbinden, grundlegend
verändern.
Ältere haben keinen negativen Einfluss
auf die Gesellschaft. Adenauer brachte die deutsche Gesellschaft
auf Erfolgskurs. De Gaulle war über 60, als er in den
Elyséepalast kam. Churchill rettete Europa. Ältere
Männer und Frauen können gerade in der Politik
segensreiche Wirkungen haben.
Alter ist nicht Torheit, ist nicht Demenz,
ist auch nicht Starrsinn, sondern - im Sinne einer individuellen
Wachstums-Kultur - Reifung und Weisheit. Der Kern der Weisheit, so
sagt es der Weisheitsforscher Paul Baltes, besteht im sogenannten
SOK-Prinzip. Selektion, Optimierung, Kompensation. Dies
erläuterte der 80jährige Pianist Arthur Rubinstein so:
"Ich spiele weniger Stücke (Selektion). Ich übe diese
häufiger (Optimierung). Und drittens spiele ich vor schnellen
Passagen extra langsam - das lässt die langsamen
bedeutungsvoller und die schnellen schneller erscheinen
(Kompensation).
Gelten diese Prinzipien nur für das
Alter? Man kann das SOK-Prinzip auch als "Entschleunigung -
Auswahlkompetenz - Konzentration auf das Wesentliche" lesen. Das
sind nichts anderes als die Kulturtechniken, die wir in einer
komplexen globalen Welt generell brauchen. Eine weisere Kultur kann
auch Antworten auf akute gesellschaftliche Fragen formulieren, die
uns in den Zeiten des Jugendwahns eher abgingen. "Simplify Your
Life" - diese große aktuelle Bewegung, die in Richtung auf
mehr alltägliche Lebensqualität zielt, erhält hier
einen mächtigen Verbündeten. Auf diese Weise können
Alterskultur und Wertewandel in der späten
Industriegesellschaft konvergieren - eine Alternative zum viel
beschworenen "Clash of Generations".
Rolle der Politik
Welche Rolle kann die Politik bei diesen
fünf Generatoren der "Silbernen Transformation" spielen?
Letzten Endes geht es um ein gesellschaftliches Projekt, zu dem wir
alle unseren Teil beitragen müssen, Alte wie Junge,
Männer wie Frauen, Unternehmen wie Arbeitnehmer. Politik kann
aber moderieren, sie kann helfen, das Puzzle zusammenzusetzen, die
diversen gesellschaftlichen Kräfte zu verbinden. Sie kann dazu
beitragen, dass wir das Generations-Kriegsgeschrei ebenso
überwinden wie den Lärm der Medien. Dass wir aus "best
practice"-Beispielen lernen, die es überall auf der Welt
gibt.
Gelassenheit, Reife, Kompetenz. Genau mit
diesen Eigenschaften sollten wir die "Silberne Transformation"
angehen. Simone de Beauvoir schrieb im Jahr 1970
prophetisch:
"In der idealen Gesellschaft würde, so
kann man hoffen, das Alter gar nicht mehr existieren. Der Mensch
würde, wie es bei manchen Privilegierten vorkommt, nur
unauffällig geschwächt, aber nicht offenkundig
vermindert; er stürbe irgendwann an einer Krankheit, ohne eine
Herabwürdigung erfahren zu haben. Das letzte Lebensalter
entspräche dann einer Existenzphase, die sich von Jugend und
Erwachsensein unterscheidet, aber ihr eigenes Gleichgewicht
besitzt."
Natürlich ist Altern immer auch eine
Zumutung (Karl Lagerfeld: "Eine Demütigung, vor der wir alle
gleich sind"). Und wahrscheinlich wird das auch immer so bleiben.
Aber sind wir dieser Utopie nicht schon ein kleines, aber doch
wichtiges Stück näher gekommen?
Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher,
ist Inhaber eines Think-Tanks für strategische
Zukunftsberatung mit Sitz im Taunus bei Frankfurt und in Wien. Er
gibt den monatlichen "Zukunftsletter" heraus. Aktuell ist im
Zukunftsinstitut die Studie: "Female Forces - Der Megatrend Frauen"
von Kirsten Brühl erschienen. Info und Bestellung:
www.zukunftsinstitut.de.
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