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"Wir müssen die latenten Schätze des
Alters heben"
Interview mit dem Entwicklungspsychologen Paul
Baltes, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
in Berlin
Der international renommierte Altersforscher
Paul Baltes plädiert, die Einzigartigkeit älterer
Menschen zu berücksichtigen, auch und gerade wenn es um Arbeit
im Alter geht. "Homogene und altersfixierte Lösungen sind den
vielen Ausprägungsformen, den vielen Gesichtern des Alters
wenig angemessen." Gleichwohl fürchtet Baltes einen
Rückgang an Innovationen in einer alternden Gesellschaft,
welche zudem durch den "ermüdenden" Zugang zu
Führungsrollen in der Politik gebremst wird.
Das Parlament
Professor Baltes, wann ist jemand
alt?
Paul Baltes Alter ist nicht nur Kalenderzeit,
es gibt auch eine biologische, soziale und psychologische
Lebensuhr. Jenseits der Kalenderzeit ist also das Alter kein fest
stehender Begriff, sondern eine gesellschaftliche oder subjektive
Zuschreibung. Für Biologen beispielsweise steht der
Körper und dessen Abbau im Vordergrund. Alter beginnt, wenn
der Körper an Funktionstüchtigkeit verliert. Für
Demografen hingegen beginnt das Alter beispielsweise, wenn man ein
Alter erreicht hat, in dem die Hälfte der Bevölkerung aus
der eigenen Geburtskohorte gestorben ist. Das ist in Deutschland
heute so etwa mit 75 bis 80 Jahren. Soziale und subjektive
Zuschreibungen sind noch dynamischer und spiegeln soziale
Stereotype oder auch persönliche Befindlichkeiten wider. Noch
vor wenigen Jahrzehnten dachte man, man sei alt, wenn man so an die
60 herankam. Heute ist im Durchschnitt eher das Alter 70 ein
Kriterium. Die Alten sind fitter geworden.
Interessant ist dabei auch die relative
Unerwünschtheit des Alters. Eine immer größer
werdende Schere zwischen dem tatsächlichen Alter und dem
erwünschten tut sich auf. Es beginnt bei etwa 30, da will der
Durchschnitt einige wenige Jahre jünger sein. Wenn man 50 bis
60 wird, beträgt der Wunschunterschied schon etwa zehn Jahre.
Die Schere wird immer größer, 20 Jahre bei
80-Jährigen und fast 30 bei 90-Jährigen. Hierin zeigt
sich unsere gesellschaftliche und persönliche Bewertung des
Lebensverlaufs. Wir wollen zwar alle alt werden, aber nicht alt
sein.
Das Parlament
Warum wünscht man sich mit 60 nicht,
lieber 30 zu sein als 50?
Paul Baltes Da kann ich nur spekulieren. Ein
Grund ist, dass das Jungsein seine unmittelbare Attraktivität
verliert. Jungsein hat auch etwas Unterentwick-eltes, eine Art
Oberflächlichkeit. Ältere Menschen wollen nicht in der
Sphäre der Unerfahrenheit und der Dominanz des Körpers
hängen bleiben, das Geistige gehört mit dem Alter mehr
und mehr dazu. Viele empfinden auch, ihr Leben gut gelebt zu haben.
Der zweite Faktor ist die körperliche Realität. Wir haben
zwar einen Freiraum, in dem wir Realität konstruieren. Aber
die Konstruktion darf nicht völlig losgelöst sein von
dem, was existiert. Deshalb sucht sich der 60-Jährige eine Art
Optimum. Jünger als man ist, aber nicht verrückt und
unterentwickelt jung. Der Jugendwahn kann ja pathologische
Züge annehmen, und in diese Kategorie will man auch nicht
gehören. Es gehört zum Leben, allen Lebensaltern
irgendwie eine Chance zu geben.
Das Parlament
Erlebt man das Altern und das alt werden als
Verlust?
Paul Baltes Die einfache Antwort ist ja, aber
die Gewinn-Verlustbilanzierung ist komplexer. Das dritte Alter,
also die 60- bis 80-Jährigen, hat das Altern ganz gut im
Griff. Mit Hilfe der Medizin und der Technologie leben wir
länger und länger gesund sowie aktiv. Jetzt kommt es
allerdings als Gesellschaft darauf an, sich neu zu positionieren,
um aus diesem neuen Potential ein produktives Alter zu machen.
Anders ist es mit dem vierten Lebensalter, also von etwa 80 an
aufwärts. Da wird die Bilanzierung zunehmend negativ. Aber
auch im hohen Alter gibt es eine große Variabilität
zwischen Menschen. Und es gibt Chancen, an seiner Fitness zu
arbeiten und das Geistige sowie das Soziale in uns zu
pflegen.
Das Parlament
Wie kann die Gesellschaft das Potenzial des
dritten Lebensalters besser nutzen?
Paul Baltes In einer interessanten Weise ist
das Alter jung. Es ist deshalb jung, weil es noch keine lange
Geschichte hat, und wir deshalb noch nicht die gesellschaftlichen
Opportunitäten und Lebensformen für ein gutes Alter
gefunden haben. Nehmen Sie die Arbeitswelt. Das Fehlen einer Kultur
der Arbeit für das Alter legt den meisten nahe, früher
auszusteigen als dies körperlich und geistig notwendig
wäre. Um das Alter produktiver zu machen, müssen wir
daher zu grundlegenden Reformen kommen, zu Anreizen und
Möglichkeiten, die Berufliches für das Alter beinhalten.
Es geht in Zukunft nicht, dass man mit 60 aufhört zu arbeiten
und dann permanent Freizeit hat. Um da voranzukommen, muss man
zunächst die Einsicht haben, dass Altern gestaltbar ist und
dass es sich lohnt, neue Wege zu beschreiten. Dabei gilt es auch
besonders zu beachten, dass alte Menschen sehr unterschiedlich
sind, unterschiedlicher voneinander, als dies auf junge zutrifft.
Eine Kultur der Arbeit im Alter sollte daher vor allem auch die
Einzigartigkeit der älteren Menschen berücksichtigen.
Homogene und altersfixierte Lösungen sind den vielen
Ausprägungsformen, den vielen Gesichtern des Alters wenig
angemessen.
Das Parlament
Was bedeutet Produktivität im
Alter?
Paul Baltes Eine schwierige Frage, auch
deshalb, weil das gesellschaftliche Abenteuer Alter gerade erst
begonnen hat. Eine Grundvoraussetzung scheint mit das Arbeiten an
der eigenen körperlichen und geistigen Gesundheit; etwa durch
gesundes Essen, Fitnesstraining und mentales Engagement. Sich
selbst um Gesundheit und Fitness zu bemühen ist also ein
erster Beitrag zur gesellschaftlichen Produktivität. Zur
psychischen Grundausstattung des Alters gehört auch die
Fähigkeit, sich flexibel auf neue Lebensumstände
einzustellen und sich umzuorientieren. Das kann man lernen. Wenn
diese Grundfähigkeiten stimmen, ist es länger und besser
möglich, sich um Produktives im üblichen Sinne zu
kümmern, neue Wege im Beruflichen einzuschlagen.
Das Parlament
Auf welchen Gebieten?
Paul Baltes Ich kann einerseits immer wieder
nur die großen Unterschiedlichkeiten betonen. Sie verlangen
prinzipiell auf die Stärken und Schwächen einer Person
abgestimmte Lösungen. Aber es gibt auch allgemeine Tendenzen.
Die wissenschaftliche Evidenz legt nahe, dass sich viele
ältere Menschen vor allem im Dienstleistungsektor engagieren
würden. Ebenso scheint zu stimmen, dass viele ältere
Menschen etwas hinterlassen möchten, sie wollen etwas für
ihre Mitmenschen und für die nachfolgenden Generationen
beizutragen haben. Es geht dabei nicht nur um den ökonomischen
Transfer, der ist ja ohnehin höher ist, als man das meist
glaubt. Alt für jung ist ein politisches Motto, an dessen
Realisierbarkeit ich glaube. Leider fehlen die gesellschaftlichen
und politischen Führungsfiguren, die diese Botschaft
vermitteln. Das Bild, das wir derzeit über das Alter
entwerfen, ist fast immer negativ besetzt. Man glaubt nicht daran,
dass das Alter Potenziale hat.
Das Parlament
Teilweise hat die ältere Generation aber
auch eine hedonistische Lebenseinstellung, die nichts mit
liebevoller Pflichterfüllung gegenüber ihren Enkeln zu
tun hat. Man ist lieber auf Mallorca, als die Kleinen vom
Kindergarten abzuholen....
Paul Baltes Das stimmt, aber es trifft nicht
für die Mehrheit zu, und es sollte nicht überraschen. Man
sieht an dem Beispiel eben auch, dass die ältere Generation an
den Dingen teilgenommen hat, die vor allem die zweite Hälfte
des 20. Jahrhunderts charakterisieren. Ich rede vom Hedonismus
einer Freizeitgesellschaft und der immer größeren
Individualisierung. Warum sollen ältere Menschen nicht diese
Kennzeichen des ausgehenden 20. Jahrhunderts mit sich tragen? Die
Zukunft des Alters beginnt früher und sie spiegelt auch das
wider, was in der Jugend und im Erwachsenenalter der jeweiligen
Generationen abgelaufen ist. Die Frage ist nur: Muss das in der
Zukunft so sein?
Das Parlament
Ermöglicht es diese Gesellschaft
älteren Menschen überhaupt, in anderen Strukturen als
jenen des Rentnerdaseins zu leben?
Paul Baltes Bisher nur wenig, zu wenig. Das
sieht man an der beruflichen Entwicklung. Obwohl ältere
Menschen fitter sind, steigen sie früher und früher aus;
und dies auch in Ländern, in denen es weniger Arbeitslose
gibt. Die Arbeit der ersten Lebenshälfte ist nicht die Arbeit
des Alters. Weiterbildung allein reicht deshalb nicht, es muss
Umbildung und Neubildung geben. Die Arbeitszeiten, Arbeitsinhalte
und Arbeitsformen müssen mit dem körperlichen und
psychischen Kern des Alters übereinstimmen. Bisher war es so,
dass man am selben Arbeitsplatz, in der selben Branche ein Leben
lang gearbeitet hat. Im Alter verändern sich aber Motive und
Fertigkeiten. Wegen der körperlichen Verluste kann Arbeit im
Alter auch selten ein "Full-Time-Job" sein. Die meisten
älteren Menschen haben dafür nicht mehr ausreichend
Energie, viele brauchen mehr Zeit für die Aufrechterhaltung
ihrer körperlichen Fitness, sie haben Schwierigkeiten beim
Erlernen neuer Dinge.
Auch muss man sich überlegen, ob die
Gesellschaft das Senioritätsprinzip auf Dauer noch bezahlen
kann. Soll man am Ende seiner Laufbahn am meisten verdienen
müssen, damit die Pension stimmt? Das müssen wir
ändern. Arbeit im Alter muss sich lohnen, psychisch, sozial
und ökonomisch. Ohne diese Anreize werden ältere Menschen
weiterhin früher und früher aussteigen.
All dies weiß man schon eine ganze
Weile, zumindest in der Wissenschaft. Ich kann nur sagen, die
politische Führung Deutschlands hat sich damit in der
Vergangenheit nur sehr wenig beschäftigt. Wir haben am
Arbeitsplatz und in der Versicherungs- und Steuerpolitik als
Anreizstruktur für produktives und flexibles Altern
geschlafen. Das Alter wurde verdrängt, so behandelt, als ob
Altwerden immer noch eine Ausnahme sei - wie zu Bismarcks
Zeiten.
Das Parlament
Viele beklagen, das mittlere Erwachsenenalter
dominiere die Parlamente. Ist das tatsächlich das
Problem?
Paul Baltes Dass unser Parlament so vom
Mittelalter und einigen Berufsgruppen - viele mit früher
Pensionierungsmentalität - dominiert wird, bedarf des
Nachdenkens. Ich glaube die Repräsentanz im Bundestag sollte
die Lebensumstände und Lebensstufen unserer Gesellschaft
besser widerspiegeln, sowohl die der Jüngeren wie der
Älteren. Deutschland leidet unter einer Unterrepräsentanz
der Lebenserfahrung im Parlament. Nur eine Handvoll der
Bundestagsabgeordneten sind älter als 70 Jahre.
Es scheint mir, dass in allen Ländern,
in denen sich die Altersforschung und Alterspolitik rasant
entwickelt haben, mehr alte Menschen in den Parlamenten vertreten
sind. Das beste Beispiel sind die Vereinigten Staaten. Dort wurde
schon in den 70er-Jahren eine große Forschungsorganisation
gegründet, das "National Institute of Aging". Auch die
Pflichtpensionierung bei einem bestimmten Alter wurde abgeschafft.
Dabei spielten die älteren Parlamentsmitglieder eine wichtige
Rolle, sie hatten am eigenen Körper erlebt, was es bedeutet,
alt zu werden, und wie wichtig es ist, gesellschaftliche Strukturen
und Investitionen den neuen demografischen Bedingungen anzupassen.
Und meine Vermutung ist, dass sie dies auch in den Diskurs mit den
Jungen einbrachten und den jungen Generationen klar machen konnten,
dass es auch um deren Zukunft geht. Die USA haben schon vor
mehreren Jahrzehnten erkannt: Die Zukunft ist Alter.
Aber es geht nicht nur um das Alter der
Parlamentarier. Es geht auch um das Gesamtspektrum der Kompetenz,
die das berufliche Profil eines Parlaments ausmachen. So
könnte man argumentieren, dass das Nichterkennen, das
Übersehen der Altersthematik in Deutschland auch mit der Art
der Eintrittskarte zusammenhängt, die man braucht, um bei uns
ins Parlament zu kommen. Politikwissenschaftler können hierzu
sicherlich mehr sagen als ein Psychologe. Aber ich wage die
Spekulation, dass ein großes Manko des deutschen Parlaments
darin bestehen könnte, dass der Zugang zur politischen
Führungsrolle fast nur über die Parteien läuft, in
denen man jahrelang durch eine ermüdende Mühle gehen
muss. Man lernt das Überleben im Parteienleben, nicht
unbedingt aber den gesellschaftlichen Erfolg.
Es gibt nur wenige Quereinsteiger in der
deutschen Politik, das ist ein Innovationsdefizit. So scheint es
mir, also ob es im Parlament zu wenig Menschen gibt, die in ihrem
Berufsleben wirklich erfolgreich waren und dann erst in den
Bundestag kommen und dort auch die Möglichkeit erhalten, etwas
anzuregen und zu verändern. Es könnte also durchaus so
sein, dass das deutsche Parlament eine breitere Basis an
gesellschaftlicher Kompetenz und Innovationskraft braucht, um die
Gegenwart richtig zu deuten und die Zukunft zu gestalten.
Parteien-Kompetenz ist ein zu enges Territorium des
Lebens.
Das Parlament
Alte Menschen gelten als beharrend, die
Jugend als innovativ und dynamisch. Werden Gesellschaft und die
Politik darunter leiden?
Paul Baltes Ja, vor allem die Gesellschaft.
Was die summarische Produktivität einer immer älter
werdenden Gesellschaft angeht, ist es eine bisher unbeantwortete
Frage, ob sie weiterhin so produktiv sein kann, wie eine
jüngere. Das Altern der Gesellschaft ist einerseits ein
Entwicklungsmotor, auch für die Wirtschaft. Andererseits haben
wir Bedarf für beides: die eher bei den Älteren zu
findenden Träger des Traditionswissens und die eher bei den
Jüngeren zu findenden Träger radikaler Erneuerung und
Transformation des Wissens.
Aber wenn sich die Proportionen zwischen jung
und alt so stark verändern wie im Moment, dann ist das eine
neue und schwere Herausforderung für das Innovationspotential
unserer Gesellschaft. Wir müssen uns ernsthaft darum
bemühen, die latenten Schätze des Alters zu heben, mehr
aus den Alten zu machen, ihnen eine bessere Chance zu geben, sich
in gesellschaftliche Produktivität einzubringen.
Es gibt ein weiteres Problem, was die
Relevanz Ihrer Frage vergrößert: Die Globalisierung und
der internationale Wettbewerb. Es wird in Zukunft weniger und
weniger der Fall sein können, dass ein Land sich durch sich
selbst und am eigenen Ort erneuern kann. Es gibt das internationale
Umfeld, das möglicherweise bessere Leistungsbedingungen hat.
Dazu gehört auch die Altersstruktur der jeweiligen
Bevölkerung in den unterschiedlichen Regionen der Welt. Das
Phänomen der Globalisierung wird die Grenzen unseres
"deutschen" Humankapitals stärker testen, als wir das
gegenwärtig glauben, vor allem, wenn es uns nicht gelingen
sollte, eine bessere Kultur des Alters auf die Wege zu
bringen.
Das Parlament
Kommen wir zum vierten Lebensalter. Bei jedem
neuen Jahrgang verlängert sich das Lebensalter um drei Monate.
In 100 Jahren könnten demnach eine Reihe von Menschen 120
Jahre alt werden. Gibt es überhaupt eine
Lebensaltersgrenze?
Paul Baltes Es gibt dazu in der Wissenschaft
im Moment keine eindeutige, aber eher folgende Meinung. Es ist
nicht evident, dass sich das Maximalalter der Menschheit,
nämlich etwa 120-125 Jahre, verändert hat. Die
Fortschritte in der Lebenserwartung beziehen sich eher auf das
Durchschnittsalter, also darauf, dass mehr Menschen in dem bisher
vorgegebenen Rahmen älter werden, ein höheres Alter
erreichen. Und die schiere Lebensverlängerungsphilosophie hat
ihre Kosten. Je älter man wird, umso größer das
Auftreten gewisser unerwünschter Begleiterscheinungen, etwa
der Alzheimer Demenz. 50 Prozent der über 90-Jährigen
sind demenzkrank. Das ist niemandem zu wünschen und es
belastet auch die Gesellschaft. Die biologische Unfertigkeit des
Menschen zeigt sich im hohen Alter besonders radikal. In der
Wissenschaft wird momentan darüber gestritten, ob diese Zahl
dann noch über 50 Prozent ansteigt, wenn man noch älter
wird. Bisher können Bildung, günstige Lebenssituation und
medizinische Therapie das Auftreten der Demenz zwar nach oben
verschieben, aber ihr Auftreten nicht verhindern. Wenn man mit mehr
geistigen und motivationalen Ressourcen in das hohe Alter geht, hat
man mehr auf der Bank. Daher wird eine Alzheimer Demenz bei
gebildeteren Menschen später diagnostiziert.
Gesellschaftspolitisch und
wissenschaftsstrategisch stellt sich daher die Frage, ob Ressourcen
mehr in die Verbesserung der Qualität des Lebens im jetzigen
Alternsbereich als in die Verlängerung des Maximalalters
investiert werden sollten. Persönlich bin ich eher für
Ersteres.
Das Parlament
Wer hat die Verantwortung für einen
Dementen?
Paul Baltes Wie immer geht es dabei um ein
vernünftiges Zusammenspiel von Gesellschaft und Individuum.
Eine Demenz ist zum wesentlichen Teil nicht selbst verschuldet.
Allerdings sollte man das gesundheitsorientierte Vorsorgeverhalten
des Einzelnen, sowie das ökonomische Sparverhalten für
die Bewältigung möglicher Zusatzkosten nicht
vernachlässigen Gutes Altwerden erfordert auch den Einsatz des
Einzelnen. Außerdem wird die Rolle der weiteren Familie und
der Freunde wichtiger werden. Viele Menschen haben keine Kinder
mehr, die sich im Alter um sie kümmern. In den USA ist die
Diskussion über den Umgang mit dem Problem des Alterns ohne
Kinder schon viel weiter gediehen. Immer mehr ältere Menschen
ziehen in Gemeinden, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten
sind. Der Erwerb neuer Wahlverwandtschaften im Alter steht im
Vordergrund. Im Moment sind diese Lösungen allerdings vor
allem für Wohlhabende im Angebot, sie müssen aber auch
für andere soziale Schichten entworfen werden.
Das Parlament
Altern Frauen anders als
Männer?
Paul Baltes Oberflächlich gesehen gibt
es Unterschiede, etwa in der Lebenserwartung. Frauen leben
länger als Männer. Man weiß nicht so genau warum;
und es sind nicht nur Unterschiede im Gesundheitsverhalten. Die
Haupthypothese ist, dass es in der Evolution für das
Überleben der Kinder wichtiger war, dass Mutter und
Großmutter überlebten als der Vater. Deshalb, so das
Argument, wurden Frauen im biologisch-genetischen Sinn für ein
längeres Leben ausgewählt. Gleichwohl sind alte Frauen
kränklicher als gleichaltrige Männer. Die Frauen bekommen
mehr Krankheiten, die Morbidität verursachen, aber nicht
unmittelbar zum Tod führen. So gibt es unter 90-Jährigen
drei bis vier mal mehr Frauen als Männer. In unseren eher
psychologisch ausgerichteten Forschung sind wir allerdings davon
überrascht worden, dass die psychische Grundkonstellationen
zwischen Männern und Frauen sehr ähnlich sind. Es gibt
keine großen Unterschiede in Intelligenz, Gedächtnis oder
Fragen des subjektiven Wohlbefindens.
Das Parlament
Was ist das schlimmste Vorurteil gegen das
Alter?
Paul Baltes Da gibt es eine ganze Reihe. Ich
beginne mit einem gegenläufigen Beispiel. Der jüngst
verbreitete gerontologische Optimismus, dass man bis ins
höchste Alter funktionstüchtig sein kann, trifft nur auf
das junge Alter zu. In dieser Positivierung des Alters wird
über das Ziel hinaus geschossen. Das andere große
Vorurteil ist genau das Gegenteil. Nämlich, dass es im Alter
nur bergab geht. Dieses negative Altersurteil ist auch deshalb so
tragisch, weil es eine Homogenisierung mit sich bringt. Es
behandelt alte Menschen, als ob sie wegen ihres Alters alle gleich
seien. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Altersforschung ist die
riesige Unterschiedlichkeit der alten Menschen. Wir brauchen also
ein Altersbild, das beides zulässt und propagiert: seine
Stärken und seine Schwächen, seine Gestaltbarkeit trotz
gewisser Einschränkungen. Ein differenziertes Altersbild muss
her. Und dann das Vorurteil, dass alte Menschen nur Kosten
verursachen. Dies ist nur deshalb wahr, weil wir zu kurz denken und
durch die Fehler der Vergangenheit nur auf die Sicherungssysteme
fixiert sind. Die Anerkennung des Alters als Wirtschaftsfaktor ist
erst im Werden.
Das Parlament
Was sind die möglichen Stärken des
Alters?
Paul Baltes Wenn man eine utopische
Vorstellung von alten Menschen hat, ist es der gelebte Sinn des
Lebens einschließlich der Hingabe an die nachfolgenden
Generationen; also die Einsicht, dass die eigene Endlichkeit sich
in den nachfolgenden Generationen auflöst. Ferner liegen die
Stärken des Alters im tiefen Verständnis der Conditio
humana, etwa dass man aus Situationen der Schwäche, aus
Vulnerabilität und Krankheiten neue Einsichten gewinnen kann,
Ältere Menschen sind Experten in der Lebensbewältigung
und der Lebensdeutung. Und dann nicht zu vergessen, es gibt nicht
die Stärke des Alters. Wegen der großen Variabilität
im Altwerden und der damit zusammenhängenden
Individualisierung liegen viele Stärken in den besonderen
Charakteristiken des einzelnen, dem im eigenen Lebensweg
Angesparten.
Das Parlament
Was ist Glück im Alter?
Paul Baltes Glück hat zumindest zwei
Dimensionen. Die erste ist Lebensoptimismus und die Fähigkeit
im Rück- und Vorblick das richtige Maß an
Lebenszufriedenheit zu komponieren. Damit einhergeht, dass man sich
weiterhin an neue Lebensumstände anpassen und sie meistern
kann. Die zweite Dimension ist Glück als Zufallsfaktor. Diese
Art von Glück ist nicht wirklich kontrollierbar. Zufälle
im Kennenlernen anderer Menschen gehören dazu, aber auch das
"genetische" Glück, Eltern zu haben, deren Genom so frei wie
möglich von genetischen Dispositionen für Krankheiten
sind.
Das Parlament
Eine persönliche Frage: Worauf freuen
Sie sich im Alter?
Paul Baltes Auch ich schiebe das Alter vor
mir her. Es gibt einige Dinge, die ich noch weiter nach vorne
bringen möchte. Und dann arbeite ich mit Freuden daran, mir
eine Kultur des Altwerdens zu schaffen, in der ich mich zusammen
mit meinen Familien- und Wahlverwandtschaften weiter entwickeln
kann. Mein Leben soll ein Abenteuer bleiben. Am Ende hoffe ich,
dass ich relativ gesund sterbe. Darauf kann man sich aber wohl
nicht freuen, sondern eher mit Wehmut hoffen. "Hoffnung mit
Trauerflor" ist wohl eher das Motto, nach dem ich mich auf das
Alter freue.
Das Interview führte Annette
Rollmann.
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