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Susanne Balthasar
Die älteren Frauen nebenan
Jung und alt: Alle wohnen zusammen im "Bunten
Haus"
Mareike Luchter lebt in einem Experiment. Ein
schönes, kleines Experiment mit einem Zimmer,
Bücherregalen, alten Holzmöbeln, Computer, einem
großen Balkon voller Blumen und dem Stadtwald nebenan.
Für dieses Experiment gab es in Berlin keine, in Deutschland
nur wenige, dafür aber in den Niederlanden einige Vorbilder.
Das Besondere an Heike Grünwalds Wohnung zeigt sich nicht vor
der Haustür. Die Johanna-Stegemann Straße in
Berlin-Steglitz ist ein ruhiges Sträßchen direkt am
Stadtpark. Das Haus Nummer 8 ist ein funktionaler Sozialbau, der
innen ein bisschen Behördenatmosphäre ausströmt.
Doch die Flure der einzelnen Etagen sind exakt verplant: Jeweils
eine betreute Wohngruppe und "normale" Mieter, also junge Familien
oder Studenten, die in unmittelbarer Nachbarschaft mit einer Art
Senioren WG leben, zu der auch Mareike Luchter gehört.
Die Älteren haben einen eigenen Trakt,
der durch eine Tür von dem Gemeinschaftsflur getrennt ist.
Hinter dieser Tür liegen jeweils vier Einzimmerappartements
wie das von Mareike Luchter, die eine gemeinsame Loggia teilen - so
bewahren die Bewohner zwar ihre Eigenständigkeit, sind aber
gleichzeitig eng miteinander verbunden. Dieses genau ausbalancierte
Wohngeflecht aus alt und jung, Selbstständigkeit und
Miteinander ist ein kommunales Projekt und nennt sich Generationen
übergreifendes Wohnen, eine Nachbarschaft also, in der die
Anwohner sich gegenseitig helfen: Wenn auf jeder Etage eine
Altengemeinschaft neben jungen Familien wohnen, dann, so die Idee,
sollen die Alten den Jungen, die Jungen den Alten helfen. Eine
freiwillige Solidargemeinschaft, in der die Hilfe nicht gesetzlich
geregelt ist und auch nicht der Staat daherkommt, wenn einer den
Termin verpatzt, an dem er den Rentner von nebenan zum Arzt fahren
sollte. Die Alten können die Kinder hüten, die Jungen
machen Besorgungen. Eine bezahlbare Alternative zum Greisenghetto
Altersheim oder mobilen Pflegediensten? Eine Alternative, die das
Problem des Wohnens im Alter auffangen wird, das auf das
vergreisende Land zukommen wird?
Vielleicht ist es die letzte wichtige
Entscheidung, die der Mensch treffen muss: Wie möchte ich
leben im Alter? Mareike Luchter hat sie sich vor der Zeit
entschieden. 50 war sie damals, als sie ihre Arbeit als
wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem soziologischen Institut
verlor. 50, arbeitslos und fast ohne Familie - zu der einzigen
Tochter hatte sie damals wenig Kontakt. Damit befand sie sich in
einer Situation, in der sich wegen der sinkenden Kinderzahl viele
künftige Senioren befinden werden, die nämlich nicht auf
das heute noch verbreitete Modell der häuslichen Pflege durch
Angehörige oder ein Generationen übergreifendes Wohnen
auf familiärer Basis verlassen können. Ein Altenheim oder
professionelle, mobile Pflegedienste, das waren für Mareike
Luchter nie Alternativen. "Furchtbar", sagt sie, "diese
Zeittaktpflege, da hat man dann neun Minuten für einen
Menschen". Und bis sie einmal wirklich pflegebedürftig sei, da
seien die Takte doch noch kürzer. Für die Soziologin ist
das eine ausgemachte Sache, denn "der Sozialstaat bröckelt, da
müssen wir für uns selber sorgen." Die Möglichkeit
des Service-Wohnens, also in ein Haus zu ziehen, in dem Einkaufs-,
Wäsche- und Pflegedienste gegen Aufpreis angeboten werden,
konnte sie sich nicht leisten. Also hat sie sich für das
Projekt "Gemeinschaftlich Wohnen - Gemeinsam Altwerden" (GWA)
entschieden, das erste Projekte für Wohnen im Alter in Berlin.
Seit acht Jahren wohnt die heute 60-jährige Mareike Luchter
nun schon im "Bunten Haus". Acht Jahre, in denen sich Hoffnungen
erfüllt und andere zerschlagen haben.
Mareike Luchter spricht von Umzug. Davon,
dass sie aufs Land zurück will, um ihre Mutter zu pflegen: "Im
Alter wird die Familie eben wichtiger." Einerseits. Andererseits
sagt sie aber auch, dass Wohnverwandtschaften besser sind als die
echten, denn die könne man sich schließlich nicht
aussuchen. Am Ende birgt wohl beides Probleme, es sind nur andere.
Nun wirkt Mareike Luchter nicht wie eine Frau, die den Problemen
ausweicht. Von dem Klischee Bus fahrender Rentner in Freizeitjacken
und Kreppsohlen ist sie weit entfernt. Mit dem kurzen, braunen
Zopf, der großen Halbedelsteinkette und dem braunen Pullover
sieht sie jünger aus, zumal sie schnell denkt und redet.
Damals, als sich für das Projekt GWA, die Frauen zusammen
fanden - Männer hatten kein Interesse an dieser Wohnform - war
ihr wichtig, "dass die anderen etwas mitbringen, was ich noch nicht
kannte". Fünf Jahre hatte es gedauert, bis sich die 15
Anfangsbewohnerinnen im Alter von 50 bis 70 gefunden hatten. Viele
waren in einer ähnlichen Situation wie Mareike Luchter, hatten
kaum Familie, wenig Geld und die Bereitschaft, sich in ein
Experiment zu wagen. Jede von ihnen zog in ein
Einzimmerappartement. Direkt nach dem Einzug wurden die Frauen
ernsthaft auf die Probe gestellt.
Die Möbelwagen waren kaum um die Ecke,
da erlitt eine der Projektfrauen einen Schlaganfall. Nicht nur,
dass diese Frau pflegebedürftig war. Weil sich herausstellte,
dass sie zuviel getrunken hatte, brauchte sie auch eine besondere
Ernährungsbetreuung. Anfangs hatte Mareike Luchter das
"Staffelmodell", wie sie die sich selbst organisierende
Solidargemeinschaft nennt, mitgetragen, hatte der Frau vorgelesen
und ihr bei Gehversuchen auf dem Flur geholfen. Auch die anderen
Frauen kümmerten sich, aber letztlich sei dann doch für
die körperliche Pflege ein sozialer Dienst bestellt worden,
und als sich der Zustand der Frau verschlechterte, zog sie am Ende
aus. "Wir haben das nicht geschafft", gibt Mareike Luchter zu, "das
war eine bittere Erfahrung." Damit meint sie auch sich selbst. Sie
habe gemerkt, dass sie "in diesen Keller nicht steigen will."
Leicht fällt es in der Praxis nicht, sich nah auf einen
fremden Menschen einzulassen. Und in dieser Fremdheit sieht Mareike
Luchter auch die Bruchstelle zwischen Wunsch und Wirklichkeit: "Man
muss den Rucksack von den anderen erst einmal kennen lernen, bevor
man ihn mittragen kann." Immerhin: Nachdem die Gruppe zusammen
gewachsen war, hat sich das soziale Netzwerk oft als stabil
erwiesen. Wenn eine der Frauen mal ins Krankenhaus muss, dann
stellen die anderen einen Dienstplan auf, kümmern sich um
Einkäufe, das Essen, die Wäsche, die Pflege und die
Unterhaltung. Das Projekt soll schließlich nicht nur eine
Wohn-, sondern auch eine Lebensgemeinschaft sein.
Deshalb sind die vier Wohnungen auf den
einzelnen Etagen auch mit jeweils einer Loggia verbunden. Auf
einigen Etagen ist der gläserne Vorraum ein zweites
Wohnzimmer, auf anderen ein Durchgangsraum. Einige der Frauen sind
eng befreundet, mit anderen ist der Kontakt eher lose. Einmal die
Woche treffen sich alle im Gemeinschaftsraum und erzählen in
der "Befindlichkeitsrunde", wie es ihnen geht. Der anfängliche
Anspruch, alles zusammen zu machen, erzählt Mareike Luchter,
habe sich mit der Zeit verflüchtigt.
"Manche Menschen sind im Alter schon
festgefahren wie alte Bremsscheiben", sagt Anita Kusmanoff. Die
Übersetzerin lebt mit ihrer behinderten Tochter im "Bunten
Haus" und sieht das Graue-Wohnprojekt von der Seite der anderen
Generation - obwohl sie selber auch schon 60 ist - nämlich als
Mutter, die auf Betreuung für ihr Kind angewiesen war. Anfangs
hatte der Tauschhandel auch reibungslos funktioniert: Du betreust
meine Tochter, ich gehe für dich einkaufen oder fahre dich zum
Arzt. Allerdings räumt sie ein, dass sie trotz des sozialen
Ansatzes des Projektes viel Eigeninitiative mitbringen musste: "Ich
bin auf die Leute mit meinen Angeboten zugegangen." Heute hat sie
zu fünf Menschen im "Bunten Haus" eine enge Beziehung, die
anderen sind eben Nachbarn - wie in jedem anderen Mietshaus. Und
wie in jedem anderen Mietshaus, in dem alte und junge Menschen
zusammen leben, gibt es auch Krach: Wenn die Kinder nachmittags auf
dem Spielplatz lärmen, fühlt sich eine ältere
Bewohnerin im Mittagsschlaf gestört. Und dann war da die
betreute WG mit den Mädchen im Alter von 13 bis 15, die jede
Menge Verehrer hatten, die jede Menge Kippen in die Gegend und auch
mal Urin im Keller ließen. Da sei sie halt zu denen
hingegangen und habe mit denen geredet, sagt Anita Kusmanoff,
solche Zwischenfälle passierten eben, das sei
normal.
Traurig dagegen findet Anita Kusmanoff, "dass
sich das Besondere im 'Bunten Haus' entzaubert hat", der
Zusammenhalt nicht mehr so da ist. Immer mehr Bewohner leben
einfach vor sich hin, ohne nach den Nachbarn rechts und links zu
gucken. Woran das liegt? Erst einmal an der Hausverwaltung, sagt
Anita Kusmanoff. Denn die habe den später Eingezogenen die
besondere Idee des Hauses nicht mehr kommuniziert. Und wenn die
komplizierte Balance zwischen Geben und Nehmen, schon bei denen
schnell aus dem Gleichgewicht gerät, die sie suchen, dann
lässt sie sich bei denen, die sie nicht suchen, oft gar nicht
herstellen. Und schlussendlich ist auch ein soziales Projekt
denselben Entwicklungsprozessen unterworfen wie jedes
Neubauviertel, in das junge Eltern ziehen: Die Kinder sind klein
und verbinden. Wenn sie erwachsen werden, schlagen alle eigene Wege
ein.
Aber das "Bunte Haus" wäre wohl ein Haus
wie jedes andere, wenn einige der Bewohner solchen Entwicklungen
nicht auch nach Kräften entgegen steuern würden. "Wir
planen jetzt wieder mehr Gemeinschaftsaktionen wie zum Beispiel
Sommerfeste", sagt Anita Kusmanoff, aber letztlich dräut auch
dabei die Erkenntnis: "Es sind doch immer dieselben, die sich
engagieren." Trotzdem glaubt sie daran, dass sich die Menschen
nicht anpassen, sondern in der Mitte treffen
müssen.
Mit anderen eine Schnittmenge zu finden,
darin sieht auch Mareike Luchter den größten Gewinn des
grauen Wohnprojektes: "Das miteinander Leben ist die
größte Ermutigung selbstständig zu bleiben, denn das
größte Problem im Alter ist doch die Einsamkeit." Dass
sie ihren Alterswohnsitz nun vorzeitig verlassen wird, hat für
sie nichts mit Scheitern zu tun: "Das kommt in den besten Ehen
vor." Und sie ist auch nicht die Erste, die noch einmal den Kurs
wechselt: Von den 15 Anfangsbewohnerinnen sind noch elf übrig.
Wenn die Wohnungen neu belegt werden, dann muss die Gemeinschaft
darauf achten, dass jüngere Frauen einziehen. "Eine
75-Jährige kann keine 85-Jährige im Bett umdrehen", sagt
Mareike Luchter. Einfach die Alten zusammen zu schmeißen, so
einfach ist die Sache mit dem gemeinschaftlichen Altern nicht. Aber
trotzdem eine echte Alternative zu Altenheim, Servicewohnen und
mobilen Pflegediensten, glaubt Mareike Luchter. Sie ist zu dem
Schluss gekommen, dass das Experiment, in dem sie die letzten acht
Jahre gelebt hat, ein gelungenes ist.
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