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Das Parlament
Nr. 48 / 22.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Christoph Oellers

Heutzutage bringt Golo Mann sie um ihre Nachtruhe

Lebensabend in einer Frauen-WG: Mit Männern gäbe es nur ein Durcheinander

Zackige Ursula, geschwungene A Schmedemann, runde Christine, gerade-klare Siglinde Falkenberg, kantige Bärbel Dymke: Nachgestickte Unterschriften zieren die mühlradgroße Tischdecke im Gemeinschaftsraum der ersten Münchner Alten-WG. Sie stammen von Frauen, die dort wohnen, die dort wohnten oder die dafür gekämpft haben, dass dort, in einem Neubau im Stadtteil Pasing, acht ältere Damen wohnen können. Die ersten sieben Jahre waren im vergangenen Sommer vorbei. Über ein Jahrzehnt hatte die Gruppe, die aus der evangelischen Vereinigung "Frau im Beruf" entstanden ist, Paragrafen und Behörden getrotzt, die eigene Landeskirche bezirzt, nach Baugebieten und Geldgebern Ausschau gehalten.

"Wir sind einfach dran geblieben", sagt Siglinde Falkenberg. Die Stimme der 78-Jährigen klingt frisch, noch nicht belegt vom Tau des fortgeschrittenen Alters. Sie ist Sprecherin der Gruppe, einzige Verbliebene, die den Weg von Anfang an mitgegangen ist. "Ohne, dass ich damals wusste, dass ich da einziehen würde." Reiner Idealismus. Ihr gefiel Mitte der 80er-Jahre die Idee, eine Alternative zu finden zum stationären Dahinfristen im Altenheim oder zum anonymen Alleinsein in der zu groß gewordenen Wohnung. 1980 hatte sie nach 27 Ehejahren der Mann verlassen - einer Schlagersängerin wegen. "Die passen auch besser zusammen." Sie guckt dabei so gefasst, als ob sie sich mit dem Gedanken beruhigt, dass wenigstens ihr Mann seine Liebe gefunden hat. Siglinde Falkenberg erscheint als Frau, die sehr auf Contenance in jeder Lebenslage bedacht ist. Sie arbeitete noch als Bildredakteurin, als sie, die Katholikin, zum evangelischen Bildungswerk stieß und sich zu engagieren begann.

Bei den Frauen, welche die Lebensabend-Alternative WG planten, herrschte immer Klarheit darüber, dass sie unter einem Dach, nicht aber an einem Herd zusammenfinden, dass jede für jede da sein sollte, aber jede eine eigene Wohnung mit Küche und Bad sowie ihren Habseligkeiten hat. WG als Wohngruppe, nicht als Wohngemeinschaft.

"Wann ich ins Bett gehe, wann ich aufstehe, soll meine Privatsache bleiben", sagt Bärbel Dymke. "Und jeder Student, wenn er das Geld hätte, würde doch auch lieber so wohnen." Die 70-Jährige ist promovierte Skandinavistin. Sie schlurft in ihren Birkenstocks verspätet in den Gemeinschaftsraum. Golo Mann habe sie abgehalten, nicht etwa süße Träume. Sie ist keine Frau, die freudestrahlend auf jemanden zugeht, ihre Grundhaltung ist eine reservierte. Käme sie aus Bayern, würde man vielleicht von einer Grantlerin sprechen. Obwohl sie seit 1961 in München lebt, hat sie ihren Duisburger Ruhrgebietstonfall behalten, der so ganz auf ihre Erscheinung abfärbt, auf einen ganz und gar uneitlen Habitus. Vielleicht hat der auch etwas damit zu tun, dass sie nie verheiratet war.

In der Wohngruppe geht es darum, die Balance zwischen Eigenständigkeit und füreinander Dasein zu halten: zwischen seine Sachen machen, den alten Freundeskreis bewahren und gelegentlichem Kochen für alle (Dymke: "Rehfleisch mache ich schon mal") sowie den anderen helfen, wenn es ihnen nicht gut geht. Im Sommer erkrankte Frau Schwedemann schwer, die Frau, welche die Tischdecke im Gemeinschaftsraum nähte und bestickte. Die anderen besuchten sie, brachten Blumen, lasen ihr vor - Tag für Tag, bis sie starb.

Die acht Frauen sind auf Hilfe von außen angewiesen. Eine Supervisorin, die eine diplomierte Sozialpädagogin oder Psychologin sein sollte, schob zwei Jahre vor dem Einzug das Kennenlernen an und beugt Konflikten vor. Der Verein "Nachbarschaftlich Leben für Frauen im Alter" gibt der WG-Idee eine Grundlage. Er ist ein Förderverein, diskutiert aber auch die Möglichkeiten des Zusammenwohnens ständig neu und denkt weiter. Seine Mitglieder treffen sich wenigstens einmal im Monat.

Der Verein hat inzwischen über 50 Mitglieder, aus denen sich eine zweite Wohngruppe gebildet hat. Wieder ging es darum, an bezahlbare und altersgemäße Mietwohnungen für Frauen zu kommen. Die evangelische Kirche konnte nicht mehr einspringen, dafür fand die Gruppe dank der Förderung durch die Stadt ("München-Modell") einen Bauträger, der Miete von unter zehn Euro den Quadratmeter gewährt sowie ein Bleiberecht von mindestens 15 Jahren. Auch diesmal werden es voraussichtlich acht Frauen sein.

"Acht ist ideal", sagt die Vereinsvorsitzende Christa Lippmann. Stürbe jemand und könnte der Platz nicht sofort neu besetzt werden, "ist die Gruppe noch immer stabil." Zehn hingegen rufe Grüppchenbildung hervor. Die promovierte Psychologin favorisiert Singles, die sich bestenfalls erst im Förderverein kennengelernt haben. "Unterkonstellationen müssen vermieden werden." Männern steht sie skeptisch gegenüber. "Das gäbe ein Durcheinander." Männer würden überwiegend erwarten, dass für sie gekocht werde. Das haben viele Frauen aber ein halbes Leben lang gemacht und sind mitunter froh, im Alter von dieser Fürsorgepflicht befreit zu sein. Außerdem sind vier Fünftel der Männer über 60 verheiratet, 85 Prozent der gleichaltrigen Frauen stehen hingegen allein da.

In zwei bis zweieinhalb Jahren wird das Haus bezugsfertig sein, in das die acht Damen der zweiten Wohngruppe ihren Ruhestand verbringen wollen. Die Grundrisse ihrer Wohnungen liegen vor, die Frauen können aber noch beeinflussen, dass Schiebetüren installiert werden, der Duschbereich ohne Kante auskommt, der Toilettenthron erhöht ist. Eine von den acht wird Hildegard Grüneschild sein. Die 71-Jährige Seniorentanzleiterin will "Hilfe geben und nehmen können." Ein klassisches Altenheim kam und kommt für sie überhaupt nicht in Frage. "Das ist eine Beleidigung. Da gehe ich nicht rein." Edith Hiber fühlt sich nach dem Tod ihrer Lebenspartnerin nicht mehr wohl allein in anonymer Nachbarschaft. "Bei acht wird man immer jemanden finden, mit dem man kann."

In 20 Jahren wird jeder zweite Bundesbürger über 50, in 25 jeder dritte über 60 Jahre alt sein, andererseits wird nur noch ein Sechstel die 20 nicht überschritten haben. Angesichts der auf den Kopf wandernden Lebenspyramide setzt sich der fünfte Altenbericht der Bundesregierung, der nächstes Jahr erscheint, mit dem Potential der Älteren auseinander, ihrer Aufgabe beim generationenübergreifenden Zusam- menhalt, und er empfiehlt, dass Selbstständigkeit alter Menschen möglichst lang gefördert werden soll.

Annette Arand ist 35 Jahre jung. Sie setzt sich für Menschen ein, die nicht mehr selbstständig sein können, deren Hirn nach und nach ausfällt, ehe sie nach acht bis zehn Jahren sterben. Sie will mit ihrem Verein "Wohlbedacht" eine WG für sechs bis sieben Demenzkranke gründen. Statistisch gesehen nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Demenz ab dem 80. Lebensjahr rapide zu. Sie liegt bei 20 Prozent. Da sich die Bevölkerungsgruppe der über 80-Jährigen bis zur Jahrhunderthälfte verdreifachen wird, muss man bundesweit mit über zwei Millionen Demenzkranken rechnen. Das entspricht etwa der heutigen Bevölkerung Hamburgs. Das Problem bei Menschen, die unter diesem schleichenden Verlust ihrer kognitiven Fähigkeiten leiden, liegt daran, dass sie intensiver individueller Pflege bedürfen. Sie laufen weg, sie haben Phasen, in denen sie ein halbes Jahr vornehmlich schreien oder nicht schlucken können und inkontinent sind. Zudem hängt ihr Wohlbefinden sehr von einer intakten Gemeinschaft ab. Altenheime sind überfordert und setzen die Kranken häufig mit hochdosierten Medikamenten still.

Die andere Möglichkeit, die seit der Pflegeversicherung verstärkt genutzt wird, den Kranken zu Hause zu pflegen, führt oft zu außergewöhnlichen Belastungen in der Familie. "Da kommt es zu regelrechten Burn-outs", sagt Christiana Lüers vom Münchner Sozialreferat. Sie begrüßt die Bemühungen von Frau Arand. Schließlich plant die Stadt bis 2015, 600 Pflegeplätze außerhalb der klassischen Altenheim-Struktur zu schaffen. Bei Arands Konzept will die Stadt weiter testen, wie sich eine Kooperation mit privaten Trägern gestalten kann. Allerdings tut sich Arands Verein trotz behördlicher Unterstützung schwer, das Konzept umzusetzen. "Finden Sie mal eine bezahlbare Wohnung mit 250 Quadratmetern in München." Im Idealfall sollen es zwei Wohnungen sein. Arand schwebt eine Wohngemeinschaft vor, in der sechs Erkrankte professionell betreut werden, aber auf vertrautes Umfeld nicht verzichten müssen, das Gefühl von Geborgenheit haben und maßgeblich von Verwandten unterstützt werden. Solche Wohngemeinschaften gibt es in Berlin schon über 100. "Die haben ja den Wohnraum", sagt Arand. Sie klagt über den Paragraphen-dschungel, in dem sich die Behörden selbst verheddern: dass die geplante Wohngemeinschaft nicht als stationäre, sondern als ambulante Einrichtung zählt, dass sie also nicht unter das Heimgesetz fällt. Dessen strenge Bau-, Hygiene- und Brandschutzvorschriften sind nicht nur kaum zu erfüllen, sondern auch widersinnig. "Danach dürften sich die Bewohner zum Beispiel nicht in der Küche aufhalten."

In München hat sich seit vier Jahren die Rothenfußer-WG als Pilot-Projekt bewährt. Wie mitunter in einer normalen Wohngemeinschaft werden neue Mitbewohner mit großer Sorgfalt ausgesucht. Die Angehörigen der Bewohner entscheiden in einem Gremium, dem zentralen Organ der Wohngemeinschaft. Die Pfleger verstehen sich lediglich als Dienstleister für unzumutbare Aufgaben. Pächter der Wohnung ist wiederum ein eigener Verein, der die Zimmer an die Bewohner untervermietet. "Das ist eine Form, die ganz gut funktioniert", sagt Ulrike Reder, die das Projekt zwei Jahre gegenüber dem bayerischen Sozialministerium hat durchsetzen müssen. "Am Anfang waren wir die Schmuddelkinder. Jetzt ist man stolz auf uns." Nächstes Jahr zieht die Rothenfußer-WG in einen Neubau um, in dem zwei Wohngemeinschaften Platz finden werden.

Alzheimer ist für Siglinde Falkenberg eine Horrorvorstellung: keine Orientierung mehr zu haben, kein Buch mehr lesen, nicht mehr seine Sinne beherrschen zu können. Ihr Wunsch ist es, in der Pasinger Gemeinschaft zu sterben. Sie ist Realistin genug, um zu sehen, was kommen könnte, wenn die Knochen und Sinne dem eigenständigen Anspruch nicht mehr genügen. Ein paar Straßenzüge weiter hat sie sich schon mal das Pflegeheim angeguckt.

Auch Bärbel Dymke weiß, dass sie nicht mehr das Weite suchen wird, obgleich sie in den 43 Jahren Bayern "immer nur weg" wollte; in den Norden, ans Meer, nach Island. Wenn sie träumt, dann von einem Zweitwohnsitz an Ost- oder Nordsee.

Ja, das könnte sie sein, so wie sie dasitzt an der Tischdecke mit den nachgestickten Unterschriften - "kantige Dymke": ein mächtiger Stein, der weise dem Wechsel der Gezeiten zusieht.

Christoph Oellers lebt in München und ist freier Journalist.

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