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Christoph Oellers
Heutzutage bringt Golo Mann sie um ihre
Nachtruhe
Lebensabend in einer Frauen-WG: Mit Männern
gäbe es nur ein Durcheinander
Zackige Ursula, geschwungene A Schmedemann, runde Christine,
gerade-klare Siglinde Falkenberg, kantige Bärbel Dymke:
Nachgestickte Unterschriften zieren die mühlradgroße
Tischdecke im Gemeinschaftsraum der ersten Münchner Alten-WG.
Sie stammen von Frauen, die dort wohnen, die dort wohnten oder die
dafür gekämpft haben, dass dort, in einem Neubau im
Stadtteil Pasing, acht ältere Damen wohnen können. Die
ersten sieben Jahre waren im vergangenen Sommer vorbei. Über
ein Jahrzehnt hatte die Gruppe, die aus der evangelischen
Vereinigung "Frau im Beruf" entstanden ist, Paragrafen und
Behörden getrotzt, die eigene Landeskirche bezirzt, nach
Baugebieten und Geldgebern Ausschau gehalten.
"Wir sind einfach dran geblieben", sagt Siglinde Falkenberg. Die
Stimme der 78-Jährigen klingt frisch, noch nicht belegt vom
Tau des fortgeschrittenen Alters. Sie ist Sprecherin der Gruppe,
einzige Verbliebene, die den Weg von Anfang an mitgegangen ist.
"Ohne, dass ich damals wusste, dass ich da einziehen würde."
Reiner Idealismus. Ihr gefiel Mitte der 80er-Jahre die Idee, eine
Alternative zu finden zum stationären Dahinfristen im
Altenheim oder zum anonymen Alleinsein in der zu groß
gewordenen Wohnung. 1980 hatte sie nach 27 Ehejahren der Mann
verlassen - einer Schlagersängerin wegen. "Die passen auch
besser zusammen." Sie guckt dabei so gefasst, als ob sie sich mit
dem Gedanken beruhigt, dass wenigstens ihr Mann seine Liebe
gefunden hat. Siglinde Falkenberg erscheint als Frau, die sehr auf
Contenance in jeder Lebenslage bedacht ist. Sie arbeitete noch als
Bildredakteurin, als sie, die Katholikin, zum evangelischen
Bildungswerk stieß und sich zu engagieren begann.
Bei den Frauen, welche die Lebensabend-Alternative WG planten,
herrschte immer Klarheit darüber, dass sie unter einem Dach,
nicht aber an einem Herd zusammenfinden, dass jede für jede da
sein sollte, aber jede eine eigene Wohnung mit Küche und Bad
sowie ihren Habseligkeiten hat. WG als Wohngruppe, nicht als
Wohngemeinschaft.
"Wann ich ins Bett gehe, wann ich aufstehe, soll meine
Privatsache bleiben", sagt Bärbel Dymke. "Und jeder Student,
wenn er das Geld hätte, würde doch auch lieber so
wohnen." Die 70-Jährige ist promovierte Skandinavistin. Sie
schlurft in ihren Birkenstocks verspätet in den
Gemeinschaftsraum. Golo Mann habe sie abgehalten, nicht etwa
süße Träume. Sie ist keine Frau, die freudestrahlend
auf jemanden zugeht, ihre Grundhaltung ist eine reservierte.
Käme sie aus Bayern, würde man vielleicht von einer
Grantlerin sprechen. Obwohl sie seit 1961 in München lebt, hat
sie ihren Duisburger Ruhrgebietstonfall behalten, der so ganz auf
ihre Erscheinung abfärbt, auf einen ganz und gar uneitlen
Habitus. Vielleicht hat der auch etwas damit zu tun, dass sie nie
verheiratet war.
In der Wohngruppe geht es darum, die Balance zwischen
Eigenständigkeit und füreinander Dasein zu halten:
zwischen seine Sachen machen, den alten Freundeskreis bewahren und
gelegentlichem Kochen für alle (Dymke: "Rehfleisch mache ich
schon mal") sowie den anderen helfen, wenn es ihnen nicht gut geht.
Im Sommer erkrankte Frau Schwedemann schwer, die Frau, welche die
Tischdecke im Gemeinschaftsraum nähte und bestickte. Die
anderen besuchten sie, brachten Blumen, lasen ihr vor - Tag
für Tag, bis sie starb.
Die acht Frauen sind auf Hilfe von außen angewiesen. Eine
Supervisorin, die eine diplomierte Sozialpädagogin oder
Psychologin sein sollte, schob zwei Jahre vor dem Einzug das
Kennenlernen an und beugt Konflikten vor. Der Verein
"Nachbarschaftlich Leben für Frauen im Alter" gibt der WG-Idee
eine Grundlage. Er ist ein Förderverein, diskutiert aber auch
die Möglichkeiten des Zusammenwohnens ständig neu und
denkt weiter. Seine Mitglieder treffen sich wenigstens einmal im
Monat.
Der Verein hat inzwischen über 50 Mitglieder, aus denen
sich eine zweite Wohngruppe gebildet hat. Wieder ging es darum, an
bezahlbare und altersgemäße Mietwohnungen für Frauen
zu kommen. Die evangelische Kirche konnte nicht mehr einspringen,
dafür fand die Gruppe dank der Förderung durch die Stadt
("München-Modell") einen Bauträger, der Miete von unter
zehn Euro den Quadratmeter gewährt sowie ein Bleiberecht von
mindestens 15 Jahren. Auch diesmal werden es voraussichtlich acht
Frauen sein.
"Acht ist ideal", sagt die Vereinsvorsitzende Christa Lippmann.
Stürbe jemand und könnte der Platz nicht sofort neu
besetzt werden, "ist die Gruppe noch immer stabil." Zehn hingegen
rufe Grüppchenbildung hervor. Die promovierte Psychologin
favorisiert Singles, die sich bestenfalls erst im Förderverein
kennengelernt haben. "Unterkonstellationen müssen vermieden
werden." Männern steht sie skeptisch gegenüber. "Das
gäbe ein Durcheinander." Männer würden
überwiegend erwarten, dass für sie gekocht werde. Das
haben viele Frauen aber ein halbes Leben lang gemacht und sind
mitunter froh, im Alter von dieser Fürsorgepflicht befreit zu
sein. Außerdem sind vier Fünftel der Männer
über 60 verheiratet, 85 Prozent der gleichaltrigen Frauen
stehen hingegen allein da.
In zwei bis zweieinhalb Jahren wird das Haus bezugsfertig sein,
in das die acht Damen der zweiten Wohngruppe ihren Ruhestand
verbringen wollen. Die Grundrisse ihrer Wohnungen liegen vor, die
Frauen können aber noch beeinflussen, dass Schiebetüren
installiert werden, der Duschbereich ohne Kante auskommt, der
Toilettenthron erhöht ist. Eine von den acht wird Hildegard
Grüneschild sein. Die 71-Jährige Seniorentanzleiterin
will "Hilfe geben und nehmen können." Ein klassisches
Altenheim kam und kommt für sie überhaupt nicht in Frage.
"Das ist eine Beleidigung. Da gehe ich nicht rein." Edith Hiber
fühlt sich nach dem Tod ihrer Lebenspartnerin nicht mehr wohl
allein in anonymer Nachbarschaft. "Bei acht wird man immer jemanden
finden, mit dem man kann."
In 20 Jahren wird jeder zweite Bundesbürger über 50,
in 25 jeder dritte über 60 Jahre alt sein, andererseits wird
nur noch ein Sechstel die 20 nicht überschritten haben.
Angesichts der auf den Kopf wandernden Lebenspyramide setzt sich
der fünfte Altenbericht der Bundesregierung, der nächstes
Jahr erscheint, mit dem Potential der Älteren auseinander,
ihrer Aufgabe beim generationenübergreifenden Zusam- menhalt,
und er empfiehlt, dass Selbstständigkeit alter Menschen
möglichst lang gefördert werden soll.
Annette Arand ist 35 Jahre jung. Sie setzt sich für
Menschen ein, die nicht mehr selbstständig sein können,
deren Hirn nach und nach ausfällt, ehe sie nach acht bis zehn
Jahren sterben. Sie will mit ihrem Verein "Wohlbedacht" eine WG
für sechs bis sieben Demenzkranke gründen. Statistisch
gesehen nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Demenz ab dem 80.
Lebensjahr rapide zu. Sie liegt bei 20 Prozent. Da sich die
Bevölkerungsgruppe der über 80-Jährigen bis zur
Jahrhunderthälfte verdreifachen wird, muss man bundesweit mit
über zwei Millionen Demenzkranken rechnen. Das entspricht etwa
der heutigen Bevölkerung Hamburgs. Das Problem bei Menschen,
die unter diesem schleichenden Verlust ihrer kognitiven
Fähigkeiten leiden, liegt daran, dass sie intensiver
individueller Pflege bedürfen. Sie laufen weg, sie haben
Phasen, in denen sie ein halbes Jahr vornehmlich schreien oder
nicht schlucken können und inkontinent sind. Zudem hängt
ihr Wohlbefinden sehr von einer intakten Gemeinschaft ab.
Altenheime sind überfordert und setzen die Kranken häufig
mit hochdosierten Medikamenten still.
Die andere Möglichkeit, die seit der Pflegeversicherung
verstärkt genutzt wird, den Kranken zu Hause zu pflegen,
führt oft zu außergewöhnlichen Belastungen in der
Familie. "Da kommt es zu regelrechten Burn-outs", sagt Christiana
Lüers vom Münchner Sozialreferat. Sie begrüßt
die Bemühungen von Frau Arand. Schließlich plant die
Stadt bis 2015, 600 Pflegeplätze außerhalb der
klassischen Altenheim-Struktur zu schaffen. Bei Arands Konzept will
die Stadt weiter testen, wie sich eine Kooperation mit privaten
Trägern gestalten kann. Allerdings tut sich Arands Verein
trotz behördlicher Unterstützung schwer, das Konzept
umzusetzen. "Finden Sie mal eine bezahlbare Wohnung mit 250
Quadratmetern in München." Im Idealfall sollen es zwei
Wohnungen sein. Arand schwebt eine Wohngemeinschaft vor, in der
sechs Erkrankte professionell betreut werden, aber auf vertrautes
Umfeld nicht verzichten müssen, das Gefühl von
Geborgenheit haben und maßgeblich von Verwandten
unterstützt werden. Solche Wohngemeinschaften gibt es in
Berlin schon über 100. "Die haben ja den Wohnraum", sagt
Arand. Sie klagt über den Paragraphen-dschungel, in dem sich
die Behörden selbst verheddern: dass die geplante
Wohngemeinschaft nicht als stationäre, sondern als ambulante
Einrichtung zählt, dass sie also nicht unter das Heimgesetz
fällt. Dessen strenge Bau-, Hygiene- und
Brandschutzvorschriften sind nicht nur kaum zu erfüllen,
sondern auch widersinnig. "Danach dürften sich die Bewohner
zum Beispiel nicht in der Küche aufhalten."
In München hat sich seit vier Jahren die
Rothenfußer-WG als Pilot-Projekt bewährt. Wie mitunter in
einer normalen Wohngemeinschaft werden neue Mitbewohner mit
großer Sorgfalt ausgesucht. Die Angehörigen der Bewohner
entscheiden in einem Gremium, dem zentralen Organ der
Wohngemeinschaft. Die Pfleger verstehen sich lediglich als
Dienstleister für unzumutbare Aufgaben. Pächter der
Wohnung ist wiederum ein eigener Verein, der die Zimmer an die
Bewohner untervermietet. "Das ist eine Form, die ganz gut
funktioniert", sagt Ulrike Reder, die das Projekt zwei Jahre
gegenüber dem bayerischen Sozialministerium hat durchsetzen
müssen. "Am Anfang waren wir die Schmuddelkinder. Jetzt ist
man stolz auf uns." Nächstes Jahr zieht die
Rothenfußer-WG in einen Neubau um, in dem zwei
Wohngemeinschaften Platz finden werden.
Alzheimer ist für Siglinde Falkenberg eine
Horrorvorstellung: keine Orientierung mehr zu haben, kein Buch mehr
lesen, nicht mehr seine Sinne beherrschen zu können. Ihr
Wunsch ist es, in der Pasinger Gemeinschaft zu sterben. Sie ist
Realistin genug, um zu sehen, was kommen könnte, wenn die
Knochen und Sinne dem eigenständigen Anspruch nicht mehr
genügen. Ein paar Straßenzüge weiter hat sie sich
schon mal das Pflegeheim angeguckt.
Auch Bärbel Dymke weiß, dass sie nicht mehr das Weite
suchen wird, obgleich sie in den 43 Jahren Bayern "immer nur weg"
wollte; in den Norden, ans Meer, nach Island. Wenn sie träumt,
dann von einem Zweitwohnsitz an Ost- oder Nordsee.
Ja, das könnte sie sein, so wie sie dasitzt an der
Tischdecke mit den nachgestickten Unterschriften - "kantige Dymke":
ein mächtiger Stein, der weise dem Wechsel der Gezeiten
zusieht.
Christoph Oellers lebt in München und ist freier
Journalist.
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