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Rationierung der klinischen Versorgung von alten
Menschen
Interview mit der Soziologin und
Gesundheitsforscherin Hilke Brockmann
Das Parlament
Vor einem Jahr machte Herr Mißfelder von der Jungen Union
Furore, als er öffentlich darüber nachdachte, ob alte
Menschen künftig noch ein neues Hüftgelenk
benötigen. Damit hat er viel Kritik auf sich gezogen. Ist das
Zukunftsmusik oder gehört die Rationierung von Leistungen
längst zum medizinischen Alltag?
Hilke Brockmann Das ist ein umstrittenes Thema, das sachlicher
angegangen werden sollte. Rationierung gibt es natürlich in
jedem System, das nicht unbegrenzte Mittel zur Verfügung hat.
Wollen wir stabile Beiträge, dann deckeln wir die Kosten, was
dazu führt, dass bestimmte Geräte nicht gekauft,
bestimmte Therapien nicht angeboten oder bestimmte Medikamente
nicht verschrieben werden. Man muss offen darüber diskutieren,
wie viel Geld uns Gesundheit wert ist und was an Gesundheit wir
haben wollen, und schließlich, was davon solidarisch bezahlt
werden kann.
Das Parlament
Ihre Untersuchung hat aber ergeben, dass ältere Menschen
von der Rationierung besonders betroffen sind?
Hilke Brockmann Die von mir erhobenen Daten aus dem Krankenhaus
zeigen, dass Rationierung auch ein alterspezifisches Phänomen
ist: Mit dem Alter sinken die Aufwendungen in der klinischen
Versorgung, soweit man sie auf ein individuelles Lebensjahr bezieht
und zwischen versterbenden und überlebenden Patienten
unterscheidet. Generell sind Patienten in ihrem letzten Lebensjahr
immer teurer, die Todesnähe ist also eine entscheidendere
Determinante für die Krankheitskosten als das chronologische
Alter. Patienten, die im Krankenhaus versterben - und das sind
immerhin auch heute noch fast 50 Prozent - kosten in jungen Jahren
sehr viel. Mit steigendem Alter, ab 60 Jahren etwa, sinken die
Kosten linear. Bei überlebenden Patienten steigen die Kosten
bis zu einem Alter von etwa Mitte 70 an und fallen dann ab. Ich
habe mir diese Patientengruppe noch einmal genauer angeschaut und
sie mit weiteren Variablen, die sich auf die Kosten auswirken
können - zum Beispiel Geschlecht, die Art des Krankenhauses
oder die Art der Erkrankung - ins Verhältnis gesetzt. Auch
dann gibt es immer noch einen deutlichen Zusammenhang zwischen
steigendem Alter und sinkenden Kosten.
Das Parlament
Aber es gibt geschlechtsspezifische Verteilungen?
Hilke Brockmann Geschlechtsspezifische Effekte werden insofern
deutlich, weil Frauen durchschnittlich sechs Jahre älter
werden als Männer und sie an anderen Krankheiten leiden. Sie
leben im hohen Alter zunehmend allein und haben immer seltener
pflegende Familienangehörige in der Nähe. Deshalb werden
ältere Frauen häufiger ins Krankenhaus eingewiesen und
verursachen so höhere Kosten.
Das Parlament
In der Literatur wird sarkastisch vermerkt, es sei besser, jung
an Krebs zu erkranken als alt an Demenz, wenn man klinisch gut
versorgt sein wolle.
Hilke Brockmann Ich glaube, so kann man es nicht sagen. Wer will
schon jung an Krebs sterben? Wie gut die Versorgungsqualität
von Demenzkranken ist, kann ich aufgrund meiner Daten nicht
aufschlüsseln, ich kann nur sehen, wie viel Aufwand betrieben
wird und wie teuer eine Behandlung ist. Wahrscheinlich wird bei
einem jungen Krebspatienten eine ganze Menge unternommen und werden
auch teure, invasive Therapien eingesetzt, um sein Leben zu
retten.
Das Parlament
Aber es gibt doch einen Zusammenhang zwischen Kostenkurve, der
Art der Erkrankung und Alter?
Hilke Brockmann Jüngere Patienten sterben häufiger an
Krebs als hochaltrige Patienten, die vor allem an
Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden und auch relativ oft an den
Folgen von Unfällen und Stürzen sterben. Das hat
Auswirkungen auf die Kostenhöhe.
Das Parlament
Müssen wir annehmen, dass Ärzte und Ärztinnen
älteren Patienten bewusst oder unbewusst aufwändige
Behandlungen vorenthalten?
Hilke Brockmann Mit meinen Massendaten konnte ich die
Einzelentscheidungen der Ärzte natürlich nicht
rekonstruieren. Genauer habe ich mir das beim Herzinfarkt
angeschaut, also eine akute Erkrankung, bei der der Arzt schnell
reagieren muss und der Patient so stark in Mitleidenschaft gezogen
ist, dass er bei der Therapieentscheidung nicht wirklich aktiv
mitwirken kann. Und hier ist ein alters- und übrigens auch
geschlechtsspezifischer Unterschied festzustellen: Ältere
Patienten und auch Frauen erhalten eine weniger aufwändige
Therapie als Männer. Das ist für mich ein Indikator, dass
Ärzte ganz deutlich nach Alter und Geschlecht unterscheiden.
Internationale Studien belegen, dass Medizinstudenten, denen
identische Krankenakten, die nur in Bezug auf Alter und Geschlecht
variieren, vorgelegt werden, unterschiedlich entscheiden.
Andererseits ist Alter auch ein Faktor für eine gewisse
Fragilität, die Ärzte davon absehen lässt, stark
invasive Therapien einzusetzen.
Das Parlament
Könnte es auch sein, dass ältere und alte Patienten
einfach nur bescheidener in ihren Forderungen sind oder sich im
medizinischen Betrieb nicht durchsetzen können?
Hilke Brockmann Es gibt tatsächlich auch Hinweise
dafür, dass Patienten selbst rationierend entscheiden, indem
sie eine aggressive Therapie ablehnen. In Patientenverfügungen
machen ja auch viele davon Gebrauch und legen fest, welche Therapie
sie unter bestimmten Umständen haben wollen und welche nicht.
Dennoch fällt der behandelnde Arzt die Therapieentscheidung.
Denn nur er kann diese näheren Umstände, also die
Krankheit des Patienten beurteilen. Dadurch hat er die
Möglichkeit, den Patienten auch auf eine Therapie
einzustimmen, die er, der Patient, vielleicht aber nicht für
richtig hält.
Das Parlament
Sie haben ausschließlich den Kostenverlauf im Krankenhaus
untersucht. Lassen sich daraus Rückschlüsse auch für
die ambulante Versorgung ziehen? Gleichen sich hier die Ausgaben
wieder aus, weil alte Menschen häufiger zum Arzt gehen und
mehr Medikamente benötigen?
Hilke Brockmann Das ist schwer zu sagen, dafür fehlen die
Daten. Ich würde das gerne miteinander vernetzen, doch die
Kassenärztlichen Vereinigungen geben individuenbezogene Daten
nicht heraus. Sicher ist es möglich, dass sich ältere
Patienten, wenn sie aus dem Krankenhaus kommen, im ambulanten
Sektor Hilfe suchen. Es gibt Studien, die besagen, dass sie
öfters den Arzt aufsuchen. Es gibt aber auch Hinweise
dafür, dass hochaltrige Leute eine gewisse Robustheit erreicht
haben, die es ihnen erlaubt, den Arzt zu meiden.
Das Parlament
Welche Konsequenzen würden Sie aus Ihrer Untersuchung
ableiten?
Hilke Brockmann Zunächst benötigen wir mehr
längsschnittbezogene Daten, um Gesundheitsverläufe zu
analysieren, weil diese viel aufschlussreicher sind als
Querschnittsuntersuchungen, auf denen gewöhnlich Prognosen
beruhen. Wenn sich dabei nun zeigen würde, dass das
chronologische Alter für die Gesundheitsausgaben nicht so
durchschlagend ist, dann würde das der Diskussion um die
älter werdende Gesellschaft die Dramatik nehmen. Wir
würden sehen, dass auch 95-Jährige nicht zwingend
multi-morbid sind und deshalb viel kosten. Zum zweiten zeigt die
Studie, dass die letzte Lebenszeit sehr viel kostet. Das
heißt, wir müssen uns überlegen, ob wir im
Krankenhaus sterben wollen, wie es momentan der Fall ist. Wir, die
Patienten und Finanzierer des Systems, müssen darüber
diskutieren, wohin unsere Gesundheitsversorgung gehen soll, wie wir
unsere Sterbenden versorgen wollen. Also: Wir müssen
darüber nachdenken, was das demographische Altern bedeutet und
wie Gesundheitspolitik für ältere Patienten
zukünftig aussehen soll.
Das Gespräch führte Ulrike Baureithel.
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