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Pascale Hugues
Tintenblaue Venen unter pergamentener Haut
Hingabe in Würde: Die Sehnsucht nach dem
Alter, wie es früher war / Von Pascale Hugues
Mit den Händen fing alles an. Eines
schönen Tages begannen sich auf der immer feiner und immer
weicher werdenden Haut von Leas Händen anarchische Formationen
aus kleinen, kastanienbraunen Punkten abzuzeichnen. Zum ersten Mal
fiel ihr dieses pointillistische Muster auf, als sie gerade aus dem
Urlaub zurück kam. Zunächst glaubte sie an
Sommersprossen. Dann verblasste die Sonnenbräune, der Herbst
kam, aber die braunen Flecken blieben. Wer sich liften lässt,
kann in ein paar Stunden ein paar Jahre aus seinem Gesicht
verschwinden lassen. Wer sich Botox spritzen lässt, kann
schlaffen Lippen mit ein paar Injektionen ihren sinnlichen Schwung
zurückgeben. Make-up und Cremes können dem Teint ein
frühlingshaftes Strahlen verleihen. Aber es gibt keinen
Kunstgriff, der die Hände verjüngen könnte.
Hände können nicht lügen. Sie verraten das Alter,
das der Rest des Körpers zu verbergen versucht.
Lea hat sich damit abgefunden. "Ich habe zwar
jede Menge schöner Ringe", sagt sie, "aber die werde ich nicht
mehr tragen. Zu diesen Händen passt kein Schmuck mehr." Lea
sagt das ohne Verbitterung, ohne Bedauern, ohne Traurigkeit. Es ist
eine ruhige Feststellung. Sie legt ihre schönen, starken
Hände flach auf den Tisch. Tintenblaue Venen pulsieren unter
der durchscheinenden Haut. Dutzende von kleinen Flecken zeichnen
den Handrücken wie die Oberfläche einer Eierschale. Man
kann darin jene Jahre der Büroarbeit lesen, als Lea die
Abteilung Finanz- und Rechnungswesen eines großen Berliner
Unternehmens leitete. "Das sind Schreibtischtäterhände",
lacht Lea. "Die rechte Hand hat mehr Venen als die linke. Das war
die, die den Bleistift hielt." Man kann in Leas Händen den
Krieg lesen, die Bombenattacken, die Geburt des Sohnes, den Tod des
Mannes. Man kann die Turbulenzen und Freuden eines sehr langen
Lebens darin erkennen. Im nächsten März wird Lea 80 Jahre
alt.
"Es gibt einen Moment, in dem Du im Alter
ankommst. Nur geht das sehr weich vonstatten, man merkt es nicht
sofort. Und eines Tages ist es dann plötzlich da, das Alter,
und lässt Dich nie mehr allein." Für Lea wurden die
Hände zum Indikator. Für andere ist es das Telefonbuch,
das sich plötzlich nicht mehr ohne Brille entziffern
lässt. Für wieder andere die Treppenstufen, die man mit
immer größerer Mühe erklimmt. Oder der Schlaf, der
sich zunehmend rar macht. Knochen, die beim kleinsten Sturz
brechen. Der Rücken, der immer krummer wird. Namen, die man
sich nicht mehr merken kann, Daten, die man durcheinander wirft.
Oder der Tod der eigenen Eltern, der einem klar macht, dass man der
nächste ist auf der Liste des Abschiednehmens. Das Altern: Es
besteht aus diesen kleinen, unvermeidlichen
Bankrotterklärungen des Körpers und der
Erinnerung.
Heute Nachmittag hat sich Lea einen
Kindheitstraum erfüllt: Sie ist auf die Bühne gestiegen,
um Theater zu spielen. Lea gehört zu den
"Spätzündern", einer Wandertheatergruppe für alte
Damen, die keine Lust haben, aufzugeben. Apathie, Isolation,
Frustration, übermäßiger Fernsehkonsum - das sind
die angsteinflößenden Begleiterscheinungen des Alterns,
vor denen die "Spätzünder" flüchten. Sie wollen
aktiv und körperlich fit bleiben, wollen ihren Lebensabend
fest integriert in eine kleine Gemeinschaft verbringen. Das neueste
Stück der "Spätzünder" ist die Bühnenversion
einer apokalyptischen Parodie, die davon handelt, was das Altern in
Zeiten des Jugendwahns bedeutet: "Man kann durchaus 20 Jahre lang
40 sein", versichert dort eine Fitness-Trainerin einer Gruppe von
alten, atemlosen Damen. "Mit meinen 65 Jahren darf ich doch wohl
alt werden!", antwortet ihr eine Rebellin, die das Recht
einfordert, zerbrechlich, krumm und zittrig zu sein. All jene
Alten, die unfähig sind, den Fitness-Test zu bestehen, werden
in der Inszenierung der "Spätzünder" bis zu ihrem Tod in
einem Container verstaut: eine Hölle à la Orwell. Was
dort auf der Bühne geschieht, versinnbildlicht den Druck,
dessen Opfer die Alten im wirklichen Leben sind. Selbst mit 80 soll
man heutzutage dynamisch, sportlich und faltenfrei sein. Die Alten
werden dazu angehalten, sich als Junge zu verkleiden. Das Altern
ist keine normale Konsequenz des Lebens mehr, sondern ein Makel,
den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt.
Aber ist das Altern heute nicht auch
gleichzeitig leichter geworden? "Unsere armen Mütter, was die
für Klamotten tragen mussten!", erinnert sich Lea. "Ab einem
bestimmten Alter kleidete man sich nur noch in Schwarz und Grau.
Wir dagegen rennen heute oft in Jeans durch die Gegend. Damals war
Schwarz die Farbe des Todes. Heute tragen alte Damen Schwarz, weil
es eine Modefarbe ist." Der Takt der Zeit hat sich gewandelt.
Für Balzac war eine 30-Jährige eine verblühte Frau.
"Tausche eine 40-Jährige gegen zwei 20-Jährige!" Der
Witz, der bei den Stammtischbanketten unserer Großväter
zirkulierte, hat heute deutlich an Biss verloren. Im Jahre 1801
betrug die mittlere Lebenserwartung gerade mal 30 Jahre. Ein halbes
Jahrhundert später lag sie bei 38 Jahren für Männer
und 41 Jahren für Frauen. 1913 wurden Männer im Schnitt
48, Frauen immerhin schon 52 Jahre alt. Heute sind die Altersheime
von 100-Jährigen bevölkert, und auf den Fahrradwegen
wimmelt es nur so von 80-jährigen Rentnern, die in bester
körperlicher Verfassung mit dem Rad durch die Gegend
düsen.
Die Medizin und die plastische Chirurgie sind
so leistungsfähig geworden, dass man sich heute leicht in der
Illusion wiegt, die Jugend sei beliebig ausdehnbar. Doch weder
Schneewittchens Stiefmutter noch irgendein Anti-Aging-Präparat
können verhindern, dass junge Mädchen schöner und
frischer sind als ihre alternden Mütter. Und wo sich der
mystische Jungbrunnen verbirgt, hat bislang niemand herausgefunden.
Lea ist sich dessen vollkommen bewusst: "Diesen ganzen Jugendwahn
finde ich über alle Maßen albern. Ich bin jetzt fast 80.
Da will ich mich doch nicht mehr auf die Figur einer
30-Jährigen herunterhungern!" Keine Hormone, kein Lifting -
das ist nicht zuletzt eine Frage der Würde. Als ich letzte
Woche an der Terrasse eines schicken Kudamm-Cafés vorbeilief,
fiel mir an einem der Tische eine Dame auf, deren Gesicht
dermaßen geliftet und gepudert war, dass ich sofort an eine
Barbiepuppe denken musste. An ihrer Seite saß ein Herr, der
trotz seines reichlich vorgerückten Alters Lederhose und
Cowboystiefel trug. Ich konnte sie förmlich ahnen, die
Viagraschachtel in der Tasche des Rockers und den Push-Up-BH unter
der Bluse seiner Barbie. Ein grotesker Anblick, und ein schrecklich
trauriger zugleich.
Weil wir versuchen, alle Spuren des Alterns
auszuradieren, ist das Altsein ein widerliches Tabu geworden, das
es um jeden Preis zu verheimlichen gilt. Ganz zu schweigen vom
Alltag der Altersheiminsassen, oder von jenen
Krankenhausabteilungen für Alte, die schamhaft
"Langzeitstationen" genannt werden und nichts anderes als Vorzimmer
des Todes sind. Inkontinenz und Alzheimer, Windeln und Gebisse.
Spaziergänge, die im Schneckentempo durch lange, keimfreie
Korridore führen. Lange Tage, die gefüllt sind mit nichts
als Warten, auf Mahlzeiten, die nicht mehr schmecken, und Besuche,
die nicht mehr kommen. Ein totgeschwiegener Lebensabschnitt, der
nichts gemein hat mit dem idyllischen Bild, das uns die Werbung
vorsetzt. Und jeder von uns kennt das furchteinflößende
Gefühl, die magenschnürende Angst, die sich unfehlbar
beim Besuch eines Altersheims einstellt: Da müssen wir alle
durch, und Gott allein weiß, ob wir das Glück haben
werden, unseren Kopf und unsere Beine dann noch benutzen zu
können.
Wäre es nicht viel leichter und viel
würdevoller, den prometheischen Traum von der Beherrschung der
Zeit aufzugeben und das Unausweichliche zu akzeptieren? Warum muss
der körperliche Niedergang so ein Drama sein? Warum lässt
man sich nicht demütig vom Fluss des Lebens treiben, anstatt
mit aller Macht gegen den Strom anzuschwimmen? Claude Olivenstein,
französischer Psychiater und Autor des Buches "Die Geburt des
Alters", hat das Paradox unserer Epoche erkannt: "Mit jedem Tag
drängt die Wissenschaft den Zeitpunkt unseres Todes ein
Stück weiter zurück. Mitleidige Gespräche über
die Alten sind Teil unserer Alltagsliturgie. Und gleichzeitig
werden die Instrumente, die dem Alter Würde verleihen - das
Wissen, die Macht - immer stumpfer."
Und wenn das Altern nun insgeheim im Begriff
stünde, ganz neu bewertet zu werden? Eine Art Nostalgie
für den Lebensabschnitt der Weisheit und Erfahrung spürt
man inzwischen sogar in der glatten Welt der Werbung. Wie viele
Waschmittelmarken und Konfitüresorten werden dort von
wohlwollenden Großmüttern mit weißen Haaren
angepriesen? Wie viele Lebensversicherungen und
Bausparverträge von vorausschauenden Großvätern mit
grauen Schläfen? Wenn Frank Schirrmachers Buch über das
Altern Stufe für Stufe die Bestsellerlisten erklommen hat,
dann liegt das vielleicht daran, dass - Jugendwahn hin oder her -
ein reelles und nachhaltiges Bedürfnis besteht, das Alter,
dieses letzte Kapitel des Lebens, neu zu bewerten. In Frankreich
hat Régis Debray, 62, linker Schriftsteller und alter
Weggefährte von Che Guevara, die Feder ergriffen, um "unsere
Gesellschaft wieder mit sich selbst ins Reine zu bringen. Um die
Schicht der ?betagten Menschen' wieder zum Teil der Nation werden
zu lassen. Um die Schiffbrüchigen wieder auf den Radar zu
bringen." In seinem Pamphlet, das diesen Monat veröffentlicht
wird, zieht der alte Linke Debray die gleichen Schlüsse wie
der junge Konservative Schirrmacher: "In unserer Gesellschaft, in
der jeder oben sein soll und in sein soll, in der jeder dynamisch
und leistungsfähig sein muss, soll das Alter nicht sichtbar
sein, es soll nicht einmal ausgesprochen werden. Das Altern ist
kein Reifungsprozess mehr. Es ist ein Sturz, eine Katastrophe. Und
noch dazu eine Katastrophe, die die Allgemeinheit teuer zu stehen
kommt." Debray rehabilitiert die Alten: Sie haben Geschichten zu
erzählen, und weil sie sich weder um ihr Image noch um ihre
Karriere mehr sorgen, entwickeln sie eine unkonventionelle
Autonomie des Denkens. "Heute", schreibt Debray, "ist unter den so
genannten ?has beens' mehr Bereitschaft zur Dissidenz zu finden als
unter den Jungen, die tendenziell konforme Kopien des dominanten
Modells sind!"
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich
die Altersflecken auf den Händen meiner Großmutter jemals
abgestoßen hätten. Ich erinnere mich nicht einmal daran,
sie überhaupt bemerkt zu haben. Aber ich erinnere mich mit
Liebe an die Geschichten, die sie mir erzählte. Und an die
Ratschläge, die sie mir gab. Die Alten haben so viel gesehen!
Einen, vielleicht zwei Weltkriege, die ersten Flugzeuge. Moden,
Trauerfälle und verlorene Lieben. Sie beherrschen die Kunst
des Relativierens, können Abstand gewinnen von Schmerzen, die
uns unüberwindlich scheinen. Wer mit ihnen spricht, versteht,
wie klein große Probleme sein können. Während die
Haut an Spannung und die Sehkraft an Schärfe verliert, gewinnt
man im Alter eine innere Ruhe, eine Freiheit des Denkens, gewinnt
Einfallsreichtum und Leichtigkeit. Nicht jeder hat das Glück,
in Frieden zu altern. Nicht jeder hat das Glück, Krankheit und
Verbitterung zu entkommen. "Das Alter", sagt Lea, "will gut
vorbereitet sein. Es ist wichtig, sein Leben so zu bejahen, wie es
war, dieses innere Glücksgefühl zu erreichen." Seien Sie
ehrlich: Wären Sie wirklich gerne noch mal 20 Jahre alt? Ist
es nicht oft viel belebender, eine Stunde mit einer alten Dame zu
verbringen, deren Hände voller Flecken sind, als mit einem
Trendsetter im Trainingsanzug oder einem alternden Rocker, der auf
der Terrasse eines Kudamm-Cafés Marlon Brando mimt? Das Alter
misst sich nicht an runden Geburtstagen, die irgendein
Küchenkalender vermerkt. "Man kann mit 30 alt und angepasst
sein", sagt Lea. Genau das ist es, was die Werbung zu sagen
vergisst, wenn sie uns eine strahlende Jugend vorgaukelt. Und man
kann jung sein, so jung und voller Leben wie Lea mit ihren 80
Jahren.
(Aus dem Französischen von Jens
Mühling)
Pascale Hugues lebt in Berlin und ist
Korrespondentin des französischen Wochenmagazins "Le Point".
Sie schreibt für zahlreiche Tageszeitungen wie die "taz" und
den "Tagesspiegel".
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