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Christoph Oellers
Sterben in der Einsamkeit
Der Tod ist aus dem Alltag
entschwunden
Tod ist wie Liebe unfassbar, unerklärlich, unbegreifbar.
Mors definiri nequit. Mensch kann von ihm sowenig berichten wie vom
Lebensbeginn. Früher war der Tod jung. Säuglinge starben
im Wöchnerinnenbett, Soldaten ließen zu Millionen ihr
Leben. Früher gehörte der Tod zum Alltag. Die Menschen
starben zu Hause im Familienkreis, das größte Zimmer
wurde leer geräumt, und der aufgebahrte Leichnam lag im
Sonntagsstaat, Freunde wie Bekannte kamen vorbei für einen
letzten Blick. Süßliche Verwesung belegte den Raum, bis
die Glocke der Friedhofskapelle läutete.
Der Tod erlöst im christlichen Glauben vom irdischen
Sündenpfuhl und bedeutet den Übergang in die Ewigkeit.
Noch vor 50 Jahren starben zwei Drittel der Bundesbürger
daheim, heutzutage erlebt jeder zweite sein Ende im Krankenhaus.
Immer mehr Menschen haben noch nie einen Toten gesehen.
In den Jahren 1968 und folgende hat das Sterben den Sex als
gesellschaftliches Tabu abgelöst. Tabu im aufgelockerten Sinn:
nicht, dass Reden über Sterben ungehörig gewesen sei,
vielmehr dass es in der bundesrepublikanischen
70er-Jahre-Gesellschaft keinen Platz hatte. Sterben und Tod
verschwanden aus dem Alltag, die marktwirtschaftliche
Zentralvokabel hieß und heißt Wachstum, kollektive Werte
verabschiedeten sich zugunsten individueller wie
Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Dieser
Säkularisationsprozess erodierte den Glauben vom Weiterleben
nach dem Tod. Das narzisstische Ich, sagt Sigmund Freud, kann sich
einen Tod nicht vorstellen. Der Tod war nicht mehr nur als
unbegriffener ein latent unheimlicher, sondern er war der
Einbildungskraft entzogen. Für Freud sind diese Ichs nicht in
der Lage, zum Realismus einer Endlichkeit vorzudringen.
Und auch die Ärzte, die Priester der aufgeklärten
Demokratie, verstummten, wenn es ums Sterben ging. Eine positive
Krebsdiagnose blieb bis zum Paradigmenwechsel in den 80er-Jahren
("patientenzentrierte Aufklärung") ihr Geheimnis. Der
medizinische Fortschritt hat andererseits das Weiterleben nach dem
Tod auf die Erde geholt. Beatmungsgeräte und Medikamente
können ein Leben verlängern, obgleich der Mensch nach
traditionellem Empfinden als tot gilt: Ohne Maschine würde
sein Herz still stehen, sein Atem aufhören. Dadurch kann der
Abschied von einem geliebten Menschen ins Diesseits verlegt werden,
und der seiner jenseitigen Einbildungskraft beraubte Hinterbliebene
kann sich auf das ihm eigentlich Unvorstellbare vorbereiten - wie
etwa bei Jassir Arafat, dessen Sterben nicht ein paar Stunden,
sondern ein paar Tage währte.
Der Sex schien den Tod ins gesellschaftliche Bewusstsein
zurückzubringen. AIDS galt als Seuche, als Pest des
späten 20. Jahrhunderts. Pfarrer geißelten den Hedonismus
vergangener Jahre und predigten Treue und Enthaltsamkeit.
Gesundheitsministerien inszenierten Kampagnen, verteilten Kondome
wie Kamelle unters Volk, boten den kostenlosen Test an. Der Tod
blieb fern und unwirklich. Er betraf schillernd-schwule
Bühnenfiguren wie Rock Hudson oder Freddy Mercury und
wütete im afrikanischen Busch, aber doch nicht im
bürgerlichen, ganz normal heterosexuellen Mitteleuropa. Und
das nicht trotz Rockkonzerten, Benefizveranstaltungen mit
höchstmöglicher Prominentenverdichtung, dem Welt-Aidstag
am 1. Dezember und der passenden Schleife, sondern wegen. Der Tod
blieb virtuell und abstrakt.
Zudem versprach der medizinische Fortschritt, die geeigneten
Mittel zu finden. Und dann hieß es ja auch: man könne mit
dem Erreger leben, weiter leben. Weiterleben trotz Todesurteil. Der
Basketballer "Magic" Eavin Johnson schien ein gutes Beispiel zu
sein.
Nun scheint der Tod wirklich zurückzukehren. Als
Einzelgänger. Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, die
1968 und folgende dem Sex die Fesseln nahmen, werden nun für
den Tod reklamiert. Der Staat ist nicht mehr Richter über
Leben und Tod, sondern der Einzelne. Die stetig steigenden
Fälle von Selbsttötung - sie übertreffen
mittlerweile die der Verkehrstoten - sind nur ein bedingt
taugliches Indiz. Manifest aber sind die Debatten um Abtreibung und
seit jüngster Zeit verstärkt um die Euthanasie, um den
"schönen Tod". Wie jetzt der Gesetzentwurf des
Justizministeriums zeigt, geht es neben der Frage, wo die Grenze
zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe liegt, zunächst
darum, ob ein Menschenleben unter Einsatz aller Mittel
verlängert werden soll, wenn die Lage aussichtslos erscheint
und der Patient nicht befragt werden kann, weil er ohne Bewusstsein
ist. Die Niederlande haben vor drei Jahren eine Karte
eingeführt, auf der die Bürger ihren Sterbewunsch
vermerken können. Nur ist fraglich, ob eine solche
Patientenverfügung etwas mit Selbstbestimmung zu tun hat, ob
sie nicht, einmal gesetzlich verankert, unter dem "sanften Druck"
der Verwandten und überhaupt herrschender gesellschaftlicher
Meinung zustande kommt, weil man es ja so macht. Der Sterbende will
ja niemandem zur Last fallen, nicht ein Bett belegen, das andere
nötiger haben, nicht die Kosten unnötig in die Höhe
treiben. Siebenmillionenfach soll in der Bundesrepublik jetzt schon
über den eigenen Tod verfügt worden sein.
Es gehört zur Entwick-lung einer aufgeklärten
Gesellschaft, alles in Regeln zu gießen, selbst das
Nichtorganisierbare zu organisieren. Sterbeversicherung,
Sterbevorsorge, Sterbebegleitung, Trauerseminare sind ja Angebote,
die es vor wenigen Jahrzehnten noch gar nicht gab, gar nicht zu
geben brauchte.
Hinter der Bürokratisierung verbirgt sich keine
Enttabuisierung des Todes. Sie versucht dem Unheimlichen etwas von
seinem Ungewissen zu nehmen. Aber eigentlich bleibt er fern. Wie
auch anders, wenn eine Lebenserwartung von 90, 100 und noch mehr
Jahren zum Alltag gehört, wenn im gentechnischen Zusammenhang
spekuliert wird, dass ewiges Leben möglich sei, vielleicht
noch in diesem Jahrhundert.
Die Menschen heutzutage wollen schnell und ohne Schmerzen
sterben. Ein eigener Zweig der Medizin hat sich begründet, die
Palliativmedizin, die dem Tod geweihten Patienten Schmerzen, wenn
nicht zu nehmen, so doch zu lindern verspricht: psychisch und
physisch. Der Morphiumverbrauch ist seit 1985 um das Zwanzigfache
gestiegen.
Früher galt es als tugendhaft, mit Haltung zu sterben, das
Leid zu ertragen - so wie Jesus am Kreuz. Früher gab es Riten,
die sich an die überlieferte Tradition der Kirche hielten.
Heute, da der Scheitelpunkt der Säkularisierung des Lebens
durchschritten scheint, ist es Sache des Einzelnen, wie er mit den
letzten Dingen verfährt, wie er auch mit der Rolle als
Hinterbliebener umgeht. Wie die Erinnerung an jemanden gewahrt, wie
seiner gedacht wird, ist eine Frage von Liebe und Zuneigung.
Bezeichnend auch hier, dass immer weniger der reale Friedhof als
denkmalerischer Ort angesehen wird, sondern der Bildschirm. Ein
Friedhofsplatz im Internet kostet für zwei Jahre bei
"memoria.de" zwischen 110 und 140 Euro.
Der Tod erscheint heute ferner gerückt denn je. Der Tod
wird ja nur geregelt, um dann weggeschoben werden zu können in
eine Unwirklichkeit. Eine Gesellschaft, in der nicht versucht wird,
sich offen dem Tod zu stellen, die nicht versucht, den Tod zu
bejahen, zu akzeptieren und ihn dadurch besiegt, ist geistig eine
macht- und zahnlose, eine arme, welche die Fähigkeit verliert,
Konflikte zu benennen und zu ertragen. Der sich selbst bestimmt
gebende Einzelmensch müsste sich massenhaft zu einem
weiterentwickeln, der Eigenständigkeit über
Auseinandersetzung mit dem anderen erlangt: Beschäftigung mit
dem Tod, dem äußerst anderen, als Grundvoraussetzung
für das eigene Leben. Das bedeutete aber, sich vom Gedanken zu
verabschieden, dass das Leben ein Privatbesitz sei.
Christoph Oellers ist freier Journalist und lebt in
München.
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