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Barbara Minderjahn
Mit der Nadel kam das HIV
Hohe AIDS-Rate in Estland
Estland hat eine der höchsten AIDS-Raten Europas. Experten
schätzen die Zahl der HIV-Erkrankungen in dem kleinen, rund
1,4 Millionen Einwohner zählenden Land auf fast 15.000, mehr
als ein Prozent der Bevölkerung. Dennoch glauben viele Esten
nicht daran sich anzustecken. Ein 20-jähriger Mann
erklärt: "Ich benutze keine Kondome. Ich habe ja keinen
häufig wechselnden Geschlechtsverkehr mit
Drogenabhängigen und ich spende auch kein Blut mehr, damit ich
mich nicht zufällig anstecke. Ich bin also sicher." Als der
Virus vor einigen Jahren begann, sich in dem ehemaligen
Ostblockland auszubreiten, griff die Epidemie tatsächlich vor
allem bei Drogenabhängigen um sich. Besonders betroffen war
die russischsprachige Minderheit. An den Rand der Gesellschaft
gedrängt, ohne Arbeit und ohne die Chance, an den politischen
Veränderungen des Landes teilzuhaben, versuchten viele, ihre
Hoffnungslosigkeit im Drogenrausch zu verdrängen. Mit der
Nadel kam auch HIV. Viele Esten sind bis heute der Meinung, AIDS
betreffe nur Fixer. Mittlerweile hat der Erreger die Risikogruppe
verlassen. Über die Hälfte der neu Erkrankten dieses
Jahres waren nicht drogenabhängig.
Trotzdem ist "safer sex" für die meisten weiterhin ein
Tabuthema. Nur die estnische Schwulenszene geht mit dem Problem
bewusster um. So wird man im Chill-out, einer kleinen Schwulenbar
am Rande der Talliner Altstadt, nicht wie in anderen Kneipen
belächelt, wenn man nach Kondomen fragt. "Ja, ich mache safer
sex", gesteht Rein, einer der Gäste. "Ich versuche, mein
Sexleben sicher zu gestalten. Die Heteros in Estland denken nicht
an die Verantwortung, die sie tragen. Sie lassen sich noch nicht
einmal testen."
Zu Zeiten der Sowjetunion war schwul sein verboten. Die
Betroffenen blieben unter sich. Um dennoch nicht ganz von der
Umwelt abgeschnitten zu leben, las man, ebenfalls im Verborgenen,
ausländische Schwulenmagazine. Dort erfuhr man von HIV und
AIDS, lange bevor der Erreger den Osten Europas erreichte. "Ich
erinnere mich noch ganz genau an die ganzen Geschichten",
erzählt Rein. "Und dann die Krankheit und der Tod von Freddie
Mercury. Das hat uns alle sehr bewegt und es hat uns auch die Augen
geöffnet, wie ernst das Thema ist."
Schwule werden im estnischen Alltag auch heute noch
diskriminiert. Um sich zu schützen, bilden sie nach wie vor
eine eingeschworene Gemeinschaft, was für die
AIDS-Aufklärung ein unschätzbarer Vorteil ist.
Mitarbeiter des Schwulen- und Lesbeninfocenters legen in Kneipen,
Saunaclubs und anderen Treffpunkten der Homoszene darüber
hinaus regelmäßig Kondome und Informationsbroschüren
aus. "Die Kondompack-lungen kosten nichts. Unsere Gäste nehmen
eigentlich immer welche mit", bestätigt der Barkeeper des
Chill-out den Erfolg der Aktion.
Auch das estnische Sozialministerium betreibt seit einigen
Jahren AIDS-Aufklärungskampagnen. Doch sie sind nicht so
lebensnah wie die selbstorganisierten Aktionen in der Homoszene und
sprechen die gefährdeten Gruppen nicht genügend an. Eine
Mitarbeiterin des Ministeriums erklärt den Misserfolg vor
allem mit finanziellen Problemen: "Damit solche Kampagnen
erfolgreich sind, darf man sie nicht nur einmal durchführen.
Man muss die Botschaft nach einer Weile wiederholen. Unser Problem
ist: Wir haben immer nur genug Geld für einen Durchgang. Wir
suchen nach Wegen, langfristige Finanzierungen zu bekommen."
Doch die Erkenntnis, wie wichtig die AIDS-Bekämpfung ist,
setzt sich in dem von neoliberalen jungen Menschen besetzten
Finanzministerium erst langsam durch. "Viele hier denken: lass die
Drogenabhängigen doch an AIDS sterben. Sie sterben ja sowieso
irgendwann, ob an Drogen oder an AIDS. Aber sie begreifen nicht,
dass wir, wenn wir nichts gegen AIDS tun, in fünf bis zehn
Jahren eine AIDS-Epidemie haben", klagt der Biotechnologieprofessor
Mart Ustav.
Die Zahl der gemeldeten HIV-Fälle ist in den vergangenen
Jahren drastisch gestiegen. Zwischen 1999 und 2002 hat die
Ausbreitung der Krankheit, mit Wachstumsraten von rund 400 Prozent,
sogar schon einmal epidemische Ausmaße erreicht. Derzeit
bleibt die Zahl der Neuerkrankungen konstant. Einen Grund für
Entwarnung sieht Mart Ustav darin dennoch nicht: "Es sind vor allem
die jungen Leute, die AIDS bekommen. Aber die Kinder, ihre
Fähigkeiten und ihr Wissen sind der größte Schatz,
den eine Gesellschaft hat. Können Sie sich vorstellen, wie
unsere Gesellschaft in zehn Jahren aussieht, wenn ein großer
Teil unserer jungen Bevölkerung wegstirbt?"
Doch wie lässt sich das nötige Problembewusstsein bei
der Bevölkerung und den Politikern schaffen? Auf sich allein
gestellt können die Mitarbeiter des Sozialministeriums nicht
viel ausrichten. "Ich bin schon manchmal frustriert", erzählt
eine Mitarbeiterin, "weil ich denke, dass das Problem von vielen
ernster genommen werden müsste". Auch auf lokaler Ebene, also
dort, wo die Verantwortlichen mit den Sorgen der Bevölkerung
konfrontiert sind, versuchen die Bürokraten das Aidsproblem zu
verdrängen. Selbst die einfachsten Vorsorgemaßnahmen wie
Nadeltauschaktionen oder Methadonprogramme für
Drogenabhängige lehnen sie ab. Die Mitarbeitern erzählt:
"Wir wollen neue Behandlungszentren für die
Drogenabhängigen einrichten. Im Osten Estlands, im Kreis
Virumaa, in der Nähe der russischen Grenze, wo die meisten
Betroffenen leben, klappt das ganz gut. Aber wir verhandeln im
Moment auch mit Tartu, der zweitgrößten Stadt Estlands.
Wir haben es bislang nicht geschafft, die Verantwortlichen von der
Notwendigkeit eines solchen Zentrums zu überzeugen. Die
Behörden haben Angst, dass plötzlich alle
Drogenabhängigen nach Tartu kommen, wenn es dort ein solches
Zentrum gibt."
Schützenhilfe erhoffen sich die Gesundheitsexperten vom
Ausland.Wenn die Politiker sähen, dass das Thema dort ernst
genommen werde, würde sich vielleicht ihre Einstellung dazu
verändern. Es sei dem Druck der EU zu verdanken, dass in
Estland etwas für die AIDS-Aufklärung getan werde,
bestätigt Mart Ustav, wenn auch zu wenig.
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