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Birgit Johannsmeyer
Der große Drang nach Westen
Irland und England werben um lettische
Arbeitskräfte
Auf dem Busbahnhof in Riga stehen die Leute samstags schon in
aller Frühe nach ihren Tickets an. Die meisten haben nur ein
kleines Handgepäck dabei, denn sie wollen bei ihren Verwandten
auf dem Land für ein paar Stunden dem hektischen Leben in der
lettischen Hauptstadt entfliehen. Umso mehr fallen jene Reisenden
auf, die sich mit großen Koffern und riesigen Taschen am neuen
Bussteig versammelt haben. "Ich fahre nach Irland, um zu arbeiten",
sagt der 25-jährige Viktors. "Bei uns auf dem Land gibt es
keine Jobs. In Dublin hoffe ich auf 525 Euro in der Woche, in
Lettgallen könnte ich höchstens 150 Euro im Monat
verdienen." Die 40-jährige Maja will nach London fahren.
"Meine Freundin arbeitet dort in einer Fabrik und hat mich
angerufen, weil es eine freie Stelle gibt. Es gibt bei uns auch
Agenturen, die Arbeit vermitteln. Aber sie verlangten 1.200 Euro,
wie soll ich das bezahlen?" Etwas günstiger vermittelt Karina
Bozdniakowa lettische Arbeitssuchende ins Ausland. Die
23-Jährige ist nicht die einzige, die im Mai 2004 eine private
Agentur eröffnet hat: Seitenweise füllen die Anzeigen mit
Angeboten für ungelernte Arbeiter, Näherinnen, Tischler
und Mechaniker die lettischen Tageszeitungen: Vor allem in England
und Irland werden sie gesucht. Denn seit Lettland Mitglied in der
Europäischen Union geworden ist, sind bürokratische
Hürden gefallen, erklärt Karina Bozdniakowa: "Unsere
Leute dürfen in England, Irland und Schweden ohne
Arbeitserlaubnis einen Job annehmen. In allen anderen
EU-Ländern ist das verboten." Das Interesse sei natürlich
riesig, jeder wolle dahin, aber nicht jeder sei qualifiziert oder
spreche englisch, erzählt die Maklerin. "Wir suchen zum
Beispiel dringend Fahrer mit EU-tauglichen Zeugnissen und gutem
Englisch, aber diese Leute haben auch hier gut-bezahlte Jobs und
wollen nicht weg."
Roberts Klotins ist eine von den Ausnahmen, die ein
hervorragendes Englisch sprechen. Als Assistenzarzt ist der
34-Jährige zudem hochqualifiziert. Nur leben kann er davon in
Lettland nicht. Nach sechs Jahren Studium verdient der Psychiater
100 Euro im Monat, darum jobbt er nebenbei auch noch in einem
Versandhaus. Doch jetzt hat Roberts Klotins einen Ausreiseantrag
bei der lettischen Ärztekammer gestellt. "Ich möchte
meine Assistenzzeit in Grossbritannien fortsetzen. Dort
beträgt der Durchschittslohn 4.500 Euro im Monat, damit komme
ich sogar in London aus. Ich muss nicht an andere Jobs denken,
sondern kann mich auf meine medizinische Forschung
konzentrieren."
Die Jobs im Ausland sind begehrt. Und Roberts Klotins weiss,
dass mindestens 60 seiner Kollegen Lettland den Rücken kehren
wollen. Darum ruft er in der Ärztekammer zum Kampf um
Lohnerhöhungen auf. An der Debatte beteiligt sich auch der
Vorsitzende Viesturs Boka. Er sorgt sich um die Existenz des
lettischen Gesundheitswesens. "Wenn das Parlament die Gehälter
um fünf bis zehn Prozent anhebt, dann sehen die jungen
Ärzte, dass die Politik sie ernst nimmt, und sie werden
vielleicht bleiben. Ansonsten müssen wir uns bald selbst nach
Ärzten umschauen. Vielleicht kommen die dann aus Russland,
Weißrussland oder aus der Ukraine zu uns."
Auf dem Busbahnhof in Riga fließen ein paar Tränen,
als die Reisenden Abschied von ihren Familien nehmen. Dabei wollen
die meisten nach einem Jahr wieder zurück. Das weiß auch
Gunta Zarina vom lettischen Arbeitsamt. Im Gegensatz zur
Ärztekammer freut sich die Vermittlerin über die neue
Auswanderungswelle, denn sie selbst hat viel zu wenig
Arbeitsplätze für die Arbeitssuchenden. "Lettland ist ein
sehr kleines Land, und wir haben all die Jahre sehr isoliert
gelebt. Darum freue ich mich, dass unsere Leute die
Möglichkeit haben, im Ausland ihren Horizont zu erweitern.
Wenn sie wieder zurückkommen, haben sie gute Sprachkenntnisse
und Toleranz erworben. Und das ist genau das, was Lettland
braucht."
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