|
|
Andreas Riemer
US-Außenpolitik: Marrakesch bis
Bangladesh
Der Broader Middle East - ein Brennpunkt der
zweiten Amtszeit von George W. Bush
Der Broader Middle East - die Region vom
nordafrikanischen Krisenbogen bis in den Mittleren Osten (manche
meinen von Marrakesch bis Bangladesh) - kristallisierte sich binnen
weniger Wochen zu einem Kernpunkt der Außenpolitik der USA in
der zweiten Amtszeit von George W. Bush heraus. Die komplexe
Situation im Irak, der Tod von Yassir Arafat, die
Gaza-Abzugspläne Israels und die Präsidentschaftswahlen
in den USA haben für die äußerst fragile Region ein
neues "window of opportunity" eröffnet. Präsident Bush
kündigte jetzt mit Tony Blair in Washington an, einen neuen
Anlauf zur Lösung des Israelisch-Palästinensischen
Konflikts Anfang 2005 zu starten. Ein unabhängiger
Palästinensischer Staat gilt als fixe Größe in
seinen Überlegungen.
Bush wird in dieser Region aktiv werden
müssen. Er kann den Konfliktbogen nicht mehr sich selbst
überlassen, wie teilweise in seiner ersten Amtszeit. Er wird
gezwungen sein, den Broader Middle East als Gesamtregion anzugehen,
wenn er nachhaltigen Erfolg haben will. Dabei hat er bereits
brauchbare Konzepte zur Hand, wenngleich es sich um
Langzeitprojekte handelt, deren Erfolg stark davon abhängt,
inwieweit es ihm gelingt, Betroffene zu Beteiligten zu machen und
Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.
Es gibt kaum eine Region, die derart vom
globalen Wirtschaftssystem abgeschnitten ist wie der Broader Middle
East. Eckdaten verdeutlichen die Problematik: Im Jahr 2001 lag der
Anteil der Region am Weltexportvolumen bei fünf Prozent,
ausländische Direktinvestitionen lagen bei einem Prozent.
Strukturelle Beschränkungen, Korruption,
Bürokratisierung, ein hohes Defizit im Exportbereich und hohe
Arbeitslosigkeit (besonders bei Jugendlichen bis 20 Jahre)
charakterisieren das Bild der Region. So erwirtschafteten alle
arabischen Staaten 1999 ein Bruttoinlandsprodukt von 531 Millionen
Dollar - dies ist weniger, als Spanien allein erzielte.
BIP-Wachstum, Investitionen und die Produktivität sanken in
nahezu allen Staaten dieser Region in den vergangenen 20 bis 30
Jahren. Die Weltbank schätzt, dass dort bis 2020 100 Millionen
neue Arbeitsplätze geschaffen werden müssen, um mit dem
Bevölkerungswachstum Schritt zu halten. Trotz
Ressourcenreichtum und relativer Energieunabhängigkeit ist man
seit Jahrzehnten nicht in der Lage, daraus Kapital zu schlagen. Man
findet kaum polarisiertere Gesellschaften, höhere Einkommens-
und Bildungsunterschiede wie im Broader Middle East. Die
aussichtslose Situation hat zu einer weit verbreiteten
Hoffnungslosigkeit vor allem unter jungen Menschen geführt.
Sie wurden dadurch für radikale Gruppen und
religiös-fundamentalistische Propaganda anfällig. Neben
den wirtschaftlichen Defiziten, einer ausgeprägten
Geschichtsgeschlagenheit, einem tief sitzenden Gefühl der
Unterlegenheit gegenüber dem Westen, einer Unfähigkeit,
aus den vorhandenen Möglichkeiten Vorteile zu ziehen, ist es
die systemimmanente passive Haltung, die zur aktuellen Situation
führte und deren Konsequenzen weit über die Region
hinausgehen.
Bemerkenswert ist, dass radikale Elemente von
einer wachsenden Gruppe an Menschen überlagert werden, die
sich der Problematik bewusst und die auch bereit sind konsequent zu
agieren - so lange man ihnen den erforderlichen Respekt
entgegenbringt und sie nicht in kolonialer Manier dominiert. Dieser
Eindruck mag im Frühjahr 2004 entstanden sein, als die von den
USA lancierte Broader Middle East Initiative primär in
arabischen Medien heftig debattiert wurde.
Die historische Genese der Initiative ist von
einigen Auf- und Abbewegungen sowie Vorwärts- und
Rück-schritten gekennzeichnet. Sie ist ein sehr gutes Abbild
der Verhältnisse in der Großregion: Zwischen großen
Hoffnungen und tiefster Enttäuschung ist alles möglich.
So ist auch nicht verwunderlich, dass die Initiative im Februar
2004 nach einer heftigen Debatte in der arabischen Welt eine von
der U.S.-Administration nicht erwünschte negative
Aufmerksamkeit erregte. Dabei lief nichts geheim oder hinter den
politischen Kulissen ab. Die Initiative wurde bereits im Dezember
2002 unter dem Titel Middle East Partnership Initiative von Richard
N. Haas, Director des Policy Planning Staff, State Department, in
einer Rede vor dem Council of Foreign Relations vorgestellt. Auch
Außenminister Colin Powell erwähnte im Dezember 2002 in
einer Rede vor der Heritage Foundation die Initiative. Ein knappes
Jahr später bezog sich auch US-Präsident Bush auf die
Initiative in seiner Rede vor der National Endowment for Democracy
(eingebettet in seine "forward strategy of freedom", ein Konzept,
das den Frieden und die Sicherheit im Nahen Osten fördern
soll, indem es die Etablierung von Freiheit, die Förderung von
Demokratie und Menschenrechten propagiert und konkret
unterstützt). Es folgten weitere Referenzen in diversen Reden,
so zum Beispiel in der State of the Union Address vom Januar 2004
oder seitens Dick Cheneys vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos
wenige Tage danach. Auch im Zuge zahlreicher transatlantischer
Kontakte wurde die Wichtigkeit der Stabilisierung und
Demokratisierung des Greater Middle East (es handelt sich um die
gleiche Region unter verschiedenen Begriffen) betont.
Nach den teilweise überzogenen
Reaktionen und der nicht eben geglückten Veröffentlichung
wurde die Initiative zurückgestellt und überarbeitet. Im
Rahmen des G-8 Gipfels von Sea Island Anfang Juni gelang es, den
Schaden zu begrenzen und eine Partnership for Progress and a Common
Future with the Region of the Broader Middle East and North Africa
ins Leben zu rufen, die auf beachtliche Unterstützung
stieß.
Die Partnerschaft bezieht sich in der
Struktur auf die Helsinki Beschlüsse von 1975 und auf die von
der EU lancierte MEDA-Initiative. Die inhaltliche Basis bilden der
UNDP Arab Human Development Report aus dem Jahr 2002 (und sein
Update von 2003). Der Report ist bemerkenswert, weil Wissenschafter
und Experten aus betroffenen Staaten sehr kritisch den Istzustand
beschreiben und Lösungsvorschläge unterbreiten.
Bemerkenswert ist auch, dass der Report ein wachsendes Bewusstsein
für die Bedeutung der katalytischen Rolle der Wirtschaft in
der Region brachte. Das US-Arab Economic Forum in Detroit im
September 2003 ist in diesem Kontext zu sehen.
Die Kerninhalte der Initiative sind folgende
drei Schlüsselbereiche:
- Förderung von good
governance
- Etablierung einer wissensbasierten
Gesellschaft
- Ausweitung wirtschaftlicher
Möglichkeiten
Damit sind drei große Defizitbereiche
angesprochen: Der ökonomische Bereich, in dem es neben
strukturellen auch soziale Defizite auszugleichen gilt. Dabei geht
es primär um die Förderung von Reformen, zum Beispiel um
die Schaffung von rechtlichen Rahmenbedingungen, die eine global
wettbewerbsfähige Wirtschaft ermöglichen und um die
Neustrukturierung des privaten und des öffentlichen Sektors.
Der politische Bereich, in dem es um den Ausgleich von teils
gravierenden Defiziten in den individuellen Freiheiten und in den
persönlichen Grundrechten geht. Ziel ist die Entwicklung einer
"arabischen Zivilgesellschaft". Ferner sollen Medienentwicklung,
die Partizipation am politischen Leben und die Förderung der
Frauenrechte in Angriff genommen werden.
Der Erziehungs- und Bildungsbereich, wo neben
dem Mangel an adäquaten Ausbildungsstätten besonders
große Lücken in der Ausbildung junger Menschen zu
konstatieren sind. Die Defizite haben in den vergangenen
Jahrzehnten zu Frustration und Orientierungslosigkeit der immer
stärker wachsenden Bevölkerung in arabischen Staaten
geführt.
Die Förderung dieses "interdependenten
Dreiecks an Variablen" ist ein Langzeitprojekt der
US-Administration und geht weit über die Bekämpfung des
Terrorismus und auch über die zweite Amtszeit von George W.
Bush hinaus. Es handelt sich um ein umfassendes Projekt zur
Integration eines Krisenbogens in jene Bereiche, die am meisten von
der Globalisierung und vom Fortschritt profitierten. Nur wenn die
Integration des bisher nichtintegrierten Bereichs gelingt, werden
die Profiteure der Globalisierung in ihrem Gebiet sicher sein. Die
Integration ist ein Export von Sicherheit aus Eigennutz.
Ergänzend dazu ist auch die im Zuge des
NATO-Gipfels in Istanbul im Juni 2004 lancierte Istanbul
Cooperative Initiative (ICI) zu sehen, in der ein stärkeres
Engagement des nordatlantischen Paktes für diese strategisch
bedeutenden Regionen angemahnt wird. Mit sieben Ländern
Nordafrikas wie des Nahen Ostens soll ein Dialog verstärkt
werden, der zu einer genuinen Partnerschaft führen soll.
Ähnlich war auch eine Rede von NATO-Generalsekretär Jaap
Hoop de Scheffer zu interpretieren, die er im November 2004
anlässlich seines Besuches in Wien an der
Landesverteidigungsakademie hielt. Die Istanbul Cooperative
Initiative ist neben der seit dem G-8-Gipfel in Sea Island
vereinbarten Partnerschaft ein wesentliches Element zur Befriedung
der Großregion und genießt die volle Unterstützung
der USA, da es so gelingt, auch kritische Staaten in die Pflicht zu
nehmen. Die ICI umfasst unter anderem die Zusammenarbeit in der
Terrorbekämpfung, der Bekämpfung von
Massenvernichtungswaffen und der organisierten Kriminalität,
aber auch die Vorbereitung für Katastropheneinsätze,
Training und Ausbildung und Teilnahme an NATO-Übungen. Die
Initiative ergänzt als mittelfristiges Konzept die Vorhaben
der G-8 und transatlantische Aktivitäten. Zusätzlich
wurde der Mittelmeerdialog aus dem Jahr 1994 reaktiviert und
erweitert.
Die von den USA lancierte Partnerschaft wurde
vor allem aufgrund der nicht geglückten Präsentation, der
sehr auf den Irak fokussierten Nahostpolitik in der ersten Amtszeit
von Präsident Bush, dem Scheitern der Road Map und der
für viele enttäuschend verlaufenden Pazifizierung des
Irak sehr zurückhaltend in den betroffenen Staaten, aber auch
in Europa aufgenommen. Auch ist die regionale Eingrenzung nicht
ganz präzise, was zusätzlich zu Verstimmungen
führte. Manche sahen in der Initiative einen weiteren Schritt
der umfassenden Amerikanisierung und der Oktroyierung
vordergründig universeller Werte. Andere klassifizierten sie
ob des geringen Budgets als einen "Tropfen auf den heißen
Stein" (29 Millionen Dollar in der Anfangsphase und danach eine
Milliarde, die aus einer Umschichtung des Budgets gewonnen werden
soll, das ursprünglich für Israel vorgesehen
war).
Nicht nur der relativ geringe budgetäre
Umfang, sondern auch die Art der Präsentation, das schlechte
Marketing (mit der mehrfachen Umbenennung) und der Eindruck, dass
von "außen in einer unsensiblen Art" Werte und Ideen
oktroyiert werden, gaben dem Unterfangen einen schlechten
Start.
Wenn es gelingt, rasch eine wohl
überlegte Initiative im Nahostkonflikt als Herz der
Partnerschaft zu starten, könnte das Programm neben einer
Pazifizierung globaler Dimension das Image der USA gewaltig
aufbessern und wieder stärker in Richtung Friedenspolitik
rücken. Denn eines ist klar: Die Lösung des
Israelisch-Palästinensischen Konfliktes ist der Weg zur
Stabilisierung der Großregion. Die Folgen würden weit
über seine Amtszeit und auch über die USA und die
Befriedigung ihres ureigensten Sicherheitsbedürfnisses
hinausreichen. Nun liegt es an Bush, die Fäden
tatsächlich in die Hand zu nehmen und konkrete Akzente im
Broader Middle East zu setzen.
Zurück zur Übersicht
|