|
|
Eine Stimmung wie vor dem Mord an Rabin
Interview mit Johannes Gerster, dem
Landesbeauftragten der Konrad-Adenauer-Stiftung in
Israel
Das Parlament
Wie nimmt die israelische Bevölkerung den Plan von Ariel
Scharon auf, in einem einseitigen Schritt aus dem Gazastreifen
abziehen zu wollen? Wie werden seine mutmaßlichen oder
tatsächlichen Beweggründe bewertet?
Johannes Gerster Der Scharon-Plan wird in Israel aus zwei
Richtungen hart und unversöhnlich bekämpft. Die Rechten,
Religiösen und Siedler sehen darin den Anfang vom Ende
Israels, das schrittweise zerlegt werde. Die Linken unterstellen,
dass mit dem einseitigen Rückzug aus dem Gazastreifen der
Verhandlungsweg mit den Palästinensern und die Schaffung eines
Palästinenserstaats verhindert werden soll. Selbst 17 von 40
Knessetabgeordneten seiner eigenen Partei haben den Scharon-Plan
abgelehnt. Auf der anderen Seite unterstützen über 60
Prozent der Bevölkerung den einseitigen Rückzug aus dem
Gaza-Streifen. Ebenso viele treten nach vier Jahren Intifada und
über 4.500 Todesopfern für einen eigenständigen
Palästinenserstaat ein. Leider kommt diese oft schweigende
Mehrheit zu kurz in den öffentlichen Diskussionen. Die
radikalen Stimmen sind lauter.
Das Parlament
In Israel wird wohl immer noch bezweifelt, dass Scharon es ernst
meint. Wie stark sind die Kräfte, die einen Abzug der Siedler
trotz der zugesagten hohen Entschädigungen um jeden Preis
verhindern wollen? Und könnte eine aufgeheizte Lage entstehen,
die der vor der Ermordung von Ministerpräsident Rabin vor neun
Jahren gleichen würde?
Johannes Gerster Scharon ist es ernst mit dem einseitigen
Rückzugsplan aus Gaza. In der Knesset hat er überdeutlich
gemacht, dass Israelis auf Dauer nicht über eine
palästinensische Mehrheit regieren können. Ich weiß
aus Gesprächen, dass er dies so meint. Er erhielt in der
Knesset eine Mehrheit von 67 zu 45 Stimmen für seinen Plan.
Die Stimmung in Israel ist emotional aufgeladen. Das rechte Lager
mobilisiert die Straße. Die Morddrohungen gegen Scharon nehmen
zu. Viele betonen, es herrsche die gleiche Stimmung wie vor dem
Mord an Rabin. Selbst in der Knesset wird Scharon ständig von
sechs Sicherheitsbeamten begleitet. Im ganzen Land herrscht
höchste Alarmstufe. Gewalt im Innern von extremen Rechten, vor
allem gegen den Premierminister, und Gewalt von außen durch
extremistische Palästinenser. Das ist das Schreckensszenario,
unter dem die Israelis derzeit leiden. Auch deshalb drängt
Sharon auf einen raschen Rückzug und gegen eine
Verzögerung durch eine Volksabstimmung. Er möchte auf
keinen Fall den Ultrarechten und Demagogen ein breites,
öffentliches Forum in einer wahlkampfähnlichen "Schlacht"
bieten. Um handlungsfähig zu werden, setzt er auf die
Arbeitspartei, die zum Eintritt in die derzeitige
Minderheitsregierung eingeladen oder zumindest zur
Unterstützung der Regierung aufgefordert ist. Ob dies gelingt,
entscheidet sich bereits bei den bevorstehenden
Haushaltsberatungen. Versagt sich die Arbeitspartei, wird es zu
vorgezogenen Neuwahlen kommen. Damit würde der
Rückzugsplan auf die lange Bank geschoben und sein Vollzug
unter dem Trommelfeuer seiner Gegner eventuell noch unmöglich
gemacht.
Das Parlament
Zwar sieht der angekündigte Abzug wie ein Schritt in
Richtung Frieden aus, doch könnte es die Situation nicht noch
verschärfen, wenn zugleich die Siedlungspolitik im
Westjordanland forciert wird?
Johannes Gerster Der Tod Arafats hat bei der PLO
große Führungsprobleme ausgelöst, trotz aller
gegenteiligen Behauptungen. Zumindest sind derzeit Verhandlungen
ergebnisoffen. Der einseitige Rückzug ist besser als
Stillstand. Mit dem Einzug der Arbeitspartei in die Regierung
könnte jeder Versuch, die Westbank noch stärker zu
besiedeln, gestoppt werden. Von der Arbeitspartei hängt
derzeit vieles ab. Sie ist gegen Scharon und für seinen
Rückzugsplan. Sie muss sich zwischen Parteiinteressen und
Landesinteresse entscheiden. Ich traue ihr zu, dass sie sich
für das Land entscheidet. Dann allerdings muss der Likud
Abspaltungstendenzen überwinden. Schon heute drohen einzelne
Likudabgeordnete mit der Gründung einer neuen Rechtspartei.
Allerdings wird in Nahost doch nicht alles so heiß gegessen,
wie es gekocht wird. Die Lage ist kompliziert, aber nicht
hoffnungslos.
Das Parlament
Wie bewerten Sie die Äußerung von Scharons
Büroleiter, Dov Weisglas: "Wir haben den einseitigen
Abzugsplan aus Gaza initiiert, um den politischen Prozess im Nahen
Osten unbegrenzt einzufrieren. Damit verhindert man die Entstehung
eines palästinensischen Staates."?
Johannes Gerster Die Äußerung von Dov Weisglas
diente dem erfolglosen Versuch, den rechten Flügel des Likuds
zur Zustimmung zum Scharon-Plan zu bewegen. Man kann die Sache
drehen, wie man will, nach dem Gaza-Rückzug wird es weitere
Rückzüge aus der Westbank geben müssen. Ob es zu
einem funktionierenden palästinensischen Staat kommt,
hängt dann von den Palästinensern selbst ab. Dort muss
die Machtfrage glaubhaft und dauerhaft entschieden werden. Dies
wird das weitere Vorgehen der Israelis entscheidend beeinflussen.
Positiv oder negativ. Alle müssen mitspielen. Die
Regierungskoalition, die Arbeitspartei, die Palästinenser.
Wenn einer aussteigt, droht eine neue Gewaltwelle in Nahost.
Das Parlament
Würde nicht im Gegenteil bei einem israelischen Abzug der
Gazastreifen so etwas wie ein palästinensischer Staat im
Kleinen?
Johannes Gerster Zuerst müssen die
Palästinenser die politische Gestaltung des Gazastreifens in
die eigenen Hände nehmen. Dazu gehört die Unterbindung
der Raketenangriffe und des Bombenterrors in Israel. Je eher dies
gelingt, desto sicherer muss Israel sich aus der Westbank
zurückziehen. Das bedeutet, dass die meisten Siedlungen
aufgegeben und für verbleibende Siedlungen ein Landtausch
ausgehandelt werden muss. Arafat wird dabei keine Rolle mehr
spielen. Der Rückzug versperrt den Weg zu einem
palästinensischen Staat nicht. Nach dem ersten Beschluss der
Knesset seit 37 Jahren, sich aus palästinensischen Gebieten
zurückzuziehen, ist die Chance, den gordischen Knoten zu
durchschlagen, größer geworden.
Das Gespräch mit Johannes Gerster, seit 1997
Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel,
führte Robert Luchs.
Zurück zur
Übersicht
|