"Die Reihen der Macht wanken"
Ein Gespräch mit Gerhard Simon über
die Proteste in der Ukraine und ausländische
Interessen
Auch nach dem Misstrauensvotum des ukrainischen
Parlamentes gegen die Regierung von Viktor Janukowitsch und den
Entscheidungen des obersten Gerichtes bleibt die Situation im Land
angespannt. Im Gespräch mit Prof. Dr. Gerhard Simon, der am
Seminar für Politische Wissenschaft der Universität Bonn
lehrt, werden diese Aspekte deutlich. Er ist Autor der
Standardwerkes "Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der
Sowjetunion" (Nomos 1986) und Herausgeber des Bandes "Die neue
Ukraine" (Böhlau 2002). Er ist Vorstandsmitglied der Deutschen
Assoziation der Ukrainisten und einer der weltweit besten Kenner
der politischen Entwicklung in der Ukraine.
Das Parlament
Was sind die Gründe für die
politische Krise in der Ukraine?
Gerhard Simon Von Stalin stammt der
Ausspruch, es kommt nicht darauf an, wie gewählt wird, sondern
wie gezählt wird. Das Prinzip funktionierte nicht nur in
Stalins Sowjetunion, sondern bislang auch in der
postkommunistischen Ukraine und besonders erfolgreich in Belarus.
Aber auf einmal sind die Bürger der Ukraine nicht mehr bereit
hinzunehmen, dass Ihre Stimme am Wahltag nichts gelten soll, dass
ihre politische Willensäußerung in das Gegenteil verkehrt
wird: Sie haben mehrheitlich für den Machtwechsel, das
heißt für Juschtschenko gestimmt, statt dessen wird
Janukowitsch, der Fortsetzer des Regimes Kutschma, zum Wahlsieger
erklärt. Natürlich haben die massenhaften und plumpen,
sogar offenen Wahlfälschungen den Protest der Millionen
ausgelöst. Aber dahinter steht mehr: Zwar hat Kutschma ein
autoritäres Präsi-dialregime errichtet, aber es ist ihm
zu keiner Zeit gelungen - anders als Putin in Russland - die
Opposition völlig auszuschalten. Es hat im Parlament, in
einigen Medien und in den westlichen und zentralen Regionen des
Landes stets eine Opposition gegeben. Sie hat sogar eine relative
Mehrheit bei den Parlamentswahlen 2002 errungen, um die sie dann
durch Manipulation und Korruption betrugen wurde. Gerade diese
Erfahrung erklärt die Härte und Radikalität heute:
Die Opposition will nicht noch einmal ausgetrickst werden. Etwas
anderes kommt hinzu: Es gibt in allen Schichten der
Bevölkerung eine weit verbreitete Stimmung, dass das Land von
kriminellen Elementen regiert wird, dass Wirtschaftswachstum nur
wenigen zugute kommt und dass es so nicht weitergehen kann. Die
Ukrainer sehen sich als das ärmste Land Europas -
tatsächlich beträgt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nur
etwa ein Drittel des russischen -, dessen natürlicher Reichtum
von Oligarchen-Klans, die auch die politische Macht in den
Händen halten, ausgebeutet wird. Dennoch: Die jetzige
friedliche Protestbewegung der Bürger kann nur begrenzt
"erklärt" werden; da ist viel Spontanes. Niemand hat die
Kraft, den Optimismus, den Durchhaltewillen dieser
Massenmobilisierung vorausgesehen. Jedenfalls lehren uns die
Ukrainer, was die vielbeschworene europäische
Wertegemeinschaft bedeutet.
Das Parlament
Oppositionsführer Viktor Juschtschenko
war aber selbst ein Glied des "Systems Kutschma", er war unter ihm
Ministerpräsident. Wie glaubwürdig ist er als
Demokrat?
Gerhard Simon Zwei Dinge gehörten
zu den Voraussetzungen für den jetzigen Erfolg der Opposition:
dass sie einen klar sichtbaren Führer hatte und dass sie nicht
nur von unten, sondern zugleich von oben kam. Juschtschenko hat
lange gezögert, diese Rolle zu übernehmen. Er ist von
seinem Temperament her eher ein Gemäßigter, der sich
anfangs weigerte, gegen Kutschma anzutreten, unter dem er in die
höchsten Ämter aufgestiegen ist. Die Verknöcherung
des alten Regimes, die Intransparenz von Politik und Wirtschaft,
die zunehmende Kriminalisierung haben Juschtschenko die Rolle als
Oppositionsführer aufgedrängt. In einem Land ohne
demokratische Traditionen, ohne ein funktionierendes
Institutionengefüge hat eine Opposition ausschließlich
von unten keine Chance. Nur wenn die alte regierende Elite sich
spaltet und ein Teil übertritt, kann es zu einem Machtwechsel
kommen. In ähnlicher Weise wurde das kommunistische Regime von
desillusionierten Kommunisten gestürzt.
Das Parlament
Einige Personen aus der Umgebung von
Juschtschenko sind Oligarchen, gehören zur Finanzelite. Werden
sie eine demokratische Ukraine aufbauen?
Gerhard Simon Es gibt in der Ukraine
keine lupenreine alternative Elite, deren demokratische und
moralische Reputation unangreifbar wäre. Aber es gibt die
Bereitschaft zum Wandel und die wachsende Überzeugung, dass
nur durch den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher
Strukturen die Zukunft für das Land gewonnen werden kann.
Sonst würde die Ukraine auf den Weg von Belarus abgleiten, das
heißt eine Diktatur unter dem Schutz Moskaus. Eine andere
Gefahr ist nicht von der Hand zuweisen: Die Reihen der Macht
wanken, und immer mehr Amtsträger gehen zur Opposition
über. Die "Wendehälse" könnten nach dem Machtwechsel
zu einer erheblichen Belastung für eine Regierung unter
Juschtschenko werden.
Das Parlament
Die Opposition stellte Präsident
Kutschma ein Ultimatum und drohte ihm mit der Einschränkung
seiner Bewegungsfreiheit. Im Osten des Landes wird von der
"Autonomisierung" und Abgrenzung von Kiew gesprochen. Haben wir es
in der Ukraine mit einer Revolution zu tun?
Gerhard Simon Teile der Verfassung
sind de facto außer Kraft gesetzt. Die Blockade von
Regierungsgebäuden oder ein Beschluss zur Abhaltung eines
Referendums über Autonomie in einzelnen Regionen widersprechen
der Verfassung. Insofern findet in der Ukraine eine Revolution
statt. Es gehört zur Definition von Revolution, dass sie das
bestehende Machtgefüge und die geltende Verfassung teilweise
aufhebt, weil ein Machtwechsel innerhalb des bestehenden Rahmens
nicht möglich ist. Andererseits funktionieren zentrale
Elemente der Verfassung im wesentlichen: das Parlament tagt, der
Präsident amtiert uneingeschränkt, das Oberste Gericht
hält Sitzungen ab, um über die Wahlanfechtungsklage der
Opposition zu entscheiden. Vor allem aber ist es bisher nicht zu
Gewaltanwendung gekommen, und damit ist ein zentraler Grundsatz
jeder Verfassungsordnung gewahrt. Bei früheren Revolutionen in
Europa verloren Könige und Zaren ihr Leben. Jetzt ist eine
Revolution ausgebrochen, weil Bürger frei und ungehindert
wählen wollen und das mit friedlichen Mitteln und
Nötigung der Staatsorgane durchsetzen. Vielleicht gibt es doch
so etwas wie Fortschritt in der Geschichte.
Das Parlament
Könnte es zum Bürgerkrieg
kommen?
Gerhard Simon Ich schließe das
aus. Seit zwei Wochen demonstrieren Hunderttausende in vielen
Städten, oft begegnen sich die Demonstranten beider Lager in
der gleichen Straße. Man geht mit Sprechchören
aufeinander los, selten kommt es zu Rangeleien. Am 29. November
wurde aus Luhansk im Osten der Angriff von Schlägern auf eine
kleine Gruppe von Juschtschenko-Demonstranten gemeldet, es gab
Verletzte. Aber mit Bürgerkrieg hat all dies gottlob nichts zu
tun. Die Ukrainer sind ein ausgesprochen friedliches Volk und
unterscheiden sich darin etwa von den Völkern des Kaukasus.
Außerdem: die Armee hat glaubwürdig ihre Entschlossenheit
erklärt, nicht in den Konflikt einzugreifen, und große
Teile der Sicherheitskräfte einschließlich mehrerer
Generale haben sich öffentlich auf die Seite der Opposition
gestellt. Wer sollte also gegen wen Bürgerkrieg
führen?
Das Parlament
Ist die Spaltung des Landes zu
überwinden? Wäre eine Föderalisierung der Ukraine
die Lösung?
Gerhard Simon Die Verfassung von 1996
definiert die Ukraine dezidiert als Einheitsstaat. Es herrschte
nach dem Fall des Kommunismus weitgehend Konsens, dass dies
notwendig sei, um die in der Tat starken regionalen
Eigenständigkeiten nicht durch eine Föderalisierung
außer Kontrolle geraten zu lassen. Das Beispiel Russland mit
seiner wilden Föderalisierung Anfang der 90er-Jahre wirkte
zusätzlich abschreckend. Kutschma ist seit zehn Jahren
Präsident, und die Bilanz seiner Ära ist wenig
rühmlich. Aber es ist sein Verdienst, dass die Ukraine eben
nicht auseinandergebrochen ist, wie 1994 viele erwartet hatten. Er
hat die separatistischen Bestrebungen auf der Krim Anfang der
90er-Jahre durch eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche unter
Kontrolle gebracht. Die territoriale Integrität der Ukraine
gegen Bedrohungen von innen und außen verteidigt zu haben, ist
das politische Lebenswerk von Kutschma. Deshalb ging er auf Distanz
zu seinem Wunschnachfolger Janukowitsch, als der sich seit dem 27.
November den "Autonomisten" im Osten anschloss. Der Kreml schickte
den Moskauer Bürgermeister Luschkow, um die Autonomisten in
ihrem Anti-Kiew-Kurs zu unterstützen. Das ließ in Kiew
bei allen, keineswegs nur bei der Opposition, die Alarmglocken
schrillen, denn Luschkow war schon Anfang der 90er-Jahre Reisender
in Sachen Krimseparatismus gewesen. Es ist eine kaum zu
überbietende Instinktlosigkeit russischer Politik,
ausgerechnet Luschkow aufzubieten, der für alle Lager in der
Ukraine die Symbolfigur für die Infragestellung der
territorialen Unversehrtheit seitens Russlands ist. Am Ende
dürfte diese Politik zur Festigung der ukrainischen
Staatlichkeit beitragen, wie zu Beginn der 90er-Jahre.
Das Parlament
Wird der Machtwechsel die Ukraine aus der
wirtschaftlichen Krise herausführen?
Gerhard Simon Juschtschenko hat als
Ministerpräsident 2000/2001 eine reformorientierte
Wirtschaftspolitik betrieben, den Oligarchen manche Privilegien
verweigert, das Staatsbudget in Ordnung gebracht und erstmals seit
dem Ende des Kommunismus Wachstum initiiert, das bis heute
anhält. Man darf davon ausgehen, dass unter seiner
Präsidentschaft Maßnahmen gegen die Schattenwirtschaft
und mangelnde Transparenz durchgesetzt werden. Allerdings stellen
die ungelösten sozialen Fragen und die Armut eine schwere
Belastung dar. Juschtschenko hat im Wahlkampf große und
populistische Versprechungen gemacht. Sie werden ihn
einholen.
Das Parlament
Die Ukraine ist fast doppelt so groß wie
Deutschland und hat 48 Millionen Einwohner. Wird die EU bereit
sein, das Land zu sanieren?
Gerhard Simon Niemand wird die Ukraine
sanieren, wenn nicht die Ukrainer selbst. Dennoch kann das Land
darauf rechnen, dass unter einem Präsidenten Juschtschenko
sowohl die EU als auch die USA zu Hilfe bereit sein werden.
Voraussetzung sind allerdings überzeugende Anstrengungen im
Kampf gegen die Korruption, Gewährleistung von Konkurrenz und
Markt sowie geordnete Staatsfinanzen.
Das Parlament
Viele Diktatoren "schmücken" sich mit
Scheinwahlen und geben sich als demokratisch legitimierte
Präsidenten aus. Die EU und die USA sind normalerweise
zurückhaltend in ihrer Beurteilung. Wieso ist der Westen
hinsichtlich der Ukraine so kritisch?
Gerhard Simon Dies ist
ausschließlich den Menschen in der Ukraine zu verdanken. Weil
sie ihren Protest millionenfach zum Ausdruck brachten, haben sie
den Westen zum Handeln gezwungen. Denn es geht um eines der
vornehmsten Grundrechte der Demokratie: die Achtung vor dem
Wähler.
Das Parlament
Russlands Parlamentspräsident Gryslow
sprach von der Spaltung der Ukraine oder von Blutvergießen.
Ist das eine Drohung aus Moskau?
Gerhard Simon Ich habe den Verdacht,
dass solche Horrorszenarien künstlich geschaffen werden, um
Öl ins Feuer zu gießen. Danach könnten diejenigen,
die legitime Interessen in der Ukraine haben, ihre Hilfe und ihr
Eingreifen rechtfertigen, das selbstverständlich nur den Zweck
hätte, noch Schlimmeres zu verhüten. Wenn man den
Ukrainern die Möglichkeit lässt, ihre Probleme selbst zu
lösen, wird es weder zu einer Spaltung des Landes noch zu
Blutvergießen kommen.
Das Parlament
Warum ist Präsident Putin so
beunruhigt?
Gerhard Simon Putin hat seit einem
halben Jahr auf Janukowitsch als neuen Präsidenten der Ukraine
gesetzt. In seinem verfrühten Glückwunschschreiben zu
dessen "Wahl" hat er unzweideutig seine Erwartung zum Ausdruck
gebracht, dass nun die russisch-ukrainischen Beziehungen auf eine
neue Ebene gehoben würden. Das heißt im Klartext, eine
neue Stufe der wirtschaftlichen, politischen und
sicherheitspolitischen Durchdringung der Ukraine durch seinen
großen Nachbarn. Putins Ziel ist nicht die "Liquidierung" der
ukrainischen Unabhängigkeit, sondern die Hegemonie über
den kleineren Nachbarn, die nach Form und Inhalt unterschiedliche
Gestalt annehmen kann. Die Zurückweisung der Ukraine seitens
der EU hat der russischen Politik in den vergangenen Jahren einen
weiten Spielraum eröffnet. Die von Putin erhoffte "neue Ebene"
in den Beziehungen wird mit einem Präsidenten Juschtschenko
kaum zu erreichen sein, der schon aufgrund seiner demokratischen
Legitimation unabhängiger sein wird als ein durch russische
Polittechnologie ins Amt gekommener Präsident in Kiew. Das
heißt keineswegs, dass Juschtschenko eine antirussische
Politik betreiben wird. Jeder ukrainische Präsident ist auf
gute Nachbarschaft mit Russland angewiesen. Aber Juschtschenko
dürfte ukrainische nationale Interessen in größerer
Distanz zu Moskau definieren als die heutige
Führung.
Das Parlament
Befürchtet Moskau, die Ukraine
könnte unter einem anderen Präsidenten NATO-Mitglied
werden?
Gerhard Simon Bis vor wenigen Monaten
galt die Mitgliedschaft in der NATO auch unter Kutschma offiziell
als Ziel ukrainischer Politik. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass
ein frei gewählter Präsident dieses Ziel wieder aufnimmt.
Die Zusammenarbeit mit der NATO hat in den vergangenen Jahren auch
unter der jetzigen Regierung eine große Dichte erreicht -
anders als mit der EU. Kürzlich wurde erstmals ein
ukrainischer Absolvent der Führungsakademie der Bundeswehr in
Hamburg zum General ernannt. Die Armee hält sich in der Krise
strikt im Hintergrund, das ist wohl auch die Folge eines neuen
zivilen Geistes, der durch die Zusammenarbeit mit der NATO
gefördert worden ist.
Das Parlament
Ist die "Schlacht um Kiew" eine Wiederkehr
des Ost- West- Konfliktes?
Gerhard Simon Nein. Russland ist nicht
die Sowjetunion und kein Partner auf gleicher Augenhöhe mit
den USA. Einfluss auf die Ukraine ist zwar wichtig für
Russland, und der Fall Janukowitsch ist eine herbe Niederlage
für die russische Politik. Aber Russland kann und wird nicht
das in den vergangenen Jahren erreichte Niveau der Zusammenarbeit
und Partnerschaft mit dem Westen aufs Spiel setzen, nur um seinen
Wunschkandidaten als Präsidenten in der Ukraine durchzusetzen.
Putin hat erkannt, dass Russland von der Kooperation mit dem Westen
nur gewinnen und bei einer Konfrontation nur verlieren
kann.
Das Gespräch führte Aschot
Manutscharjan.
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