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Astrid Thomsen
Vom Militärpiloten zum Fermer: "Es geht
alles, wenn man nur will"
Kaliningrader Landwirte als
Überlebenskünstler
"Etwas mehr Beachtung durch die Politik", das ist stets die
Antwort, wenn Kaliningrader Landwirte nach einem Wunsch für
die Zukunft befragt werden. Sie müssen ohne Tier- und
Flächenprämien auskommen, falls es Beihilfen geben soll,
etwa für den Kauf von Dünger, ist kein Verlass auf diese
Zahlungen. Langfristige Kredite gibt es nicht, höchstens in
Form von Naturalien, zum Beispiel ein Mähdrescher gegen
Ablieferung der Ernte der nächsten Jahre. Die heutigen
landwirtschaftlichen Betriebsformen lassen sich in drei Typen
unterscheiden: Fermer, Hauswirtschaften und die Großbetriebe,
die aus den staatlichen Kolchosen und Sowchosen hervorgegangen
sind.
Wer aus dem westlichen Europa in das Kaliningrader Gebiet
fährt, um sich über Landwirtschaft zu informieren, wird
in den ersten Tagen den Gedanken "Das ist ja furchtbar, wie kann
man nur so leben!" nicht los. Auf den ersten Blick viel Armut, die
auch vor der Landwirtschaft nicht halt gemacht hat. Brachland und
weite Flächen, die unter Wasser stehen. Äcker, auf denen
mehr Unkraut als Getreide wächst. Manche Ställe sehen
aus, als hätten dort Bomben eingeschlagen. Abgemagertes
Milchvieh steht auf den Weiden.
Wenn der Kulturschock überstanden ist, fallen
landwirtschaftliche Flächen auf, die hervorragend bearbeitet
sind, Traktoren und Mähdrescher, die gepflegt aussehen, und
Betriebsleiter, die stolz auf ihre Leistungen und ihre Mitarbeiter
sind.
Alexander Poprov ist einer von ihnen und gehört zu der
Gruppe von Fermern. Das sind Personen, die selbstständig einen
neuen Betrieb gegründet haben und mehr als acht Hektar
besitzen. Diese Betriebsform entstand nach dem Ende der
Planwirtschaft in Russland, als 1990 die Kolchosen und Sowchosen
umstrukturiert wurden. Poprovs Betrieb in der Nähe von
Gwardejsk gehört mit 2.000 Hektar zu den größten in
dieser Kategorie und wirkt wie ein weitläufiges Dorf. Sein
Wohnhaus ist mit einem hohen Zaun gesichert.
Die Unterhaltung über seinen Werdegang ist schwierig. Er
hat eine Botschaft, die er unbedingt anbringen will: "Geht alles,
wenn man nur will!" Dabei lässt er sich ungern unterbrechen.
Poprov ist von Beruf Militärpilot und hat zehn Jahre in diesem
Beruf im Norden der Sowjetunion gearbeitet. Nach dieser Zeit hatte
er Anspruch auf Rente und freie Wahl des Wohnortes in der
Sowjetunion. 1989 kam er nach Kaliningrad, um ein Sommerhaus zu
kaufen. Er ist verheiratet und hat drei adoptierte Kinder. Als nach
dem Zerfall der Sowjetunion die Inflation stieg, verlor er seine
Ersparnisse und musste wieder bei Null beginnen. Er fing als Fermer
an, dafür musste er bei der Landwirtschaftsverwaltung sein
Haus und sein Grundstück registrieren lassen und bekam etwas
Land zugeteilt. Die Familie hat die ersten Jahre in großer
Armut gelebt. Es war kein Bargeld vorhanden, selbst das Busgeld
für die Kinder fehlte. Sie gingen viele Kilometer zu Fuß
zur Schule. Dann machte er eine halbjährige Ausbildung in
einem landwirtschaftlichen Fortbildungsinstitut in Kaliningrad.
Dies war als Voraussetzung nötig, um später mehr Land zu
bekommen. 1995 wurden vom Staat die landwirtschaftlichen
Flächen neu verteilt. Poprov bekam 15 Hektar und fing wieder
von vorne an. Er hatte jetzt zwei Kühe, zehn Jungtiere und 15
Hektar Kartoffeln. Mit einem Kredit kaufte er zwei Traktoren. Er
baute sein Haus aus und konnte mit dem Verdienst aus dem
Kartoffelanbau den Kredit zurückzahlen. "Jeder Rubel ist
zurückgegeben!" Das ist ihm wichtig. Dann wurde ein
Hühnerstall gebaut und 1997 eine Lagerhalle für
Getreide.
Zu diesem Zeitpunkt wurde in der Nähe eine Kolchose wegen
Überschuldung aufgelöst. Die Landwirtschaftsverwaltung
fragte ihn, ob er den Betrieb übernehmen wolle. Dies lehnte er
ab, bot aber an, die Arbeitskräfte zu übernehmen, wenn
sie ihre Bodenanteile einbringen. Von den 350 Arbeitskräften
der Kolchose blieben am Ende Prozent, um mitzuarbeiten. Allerdings
wurden ihm 90 Prozent des Bodens der Kolchose zur Nutzung
überlassen. Heute sind es 2000 Hektara, die ihm nicht
gehören, die er aber bewirtschaftet. Er übernahm noch
einen Traktor, 30 Schweine und 100 "hungrige Kühe".
Poprov hat auf seinem heutigen Betrieb verschiedene Standbeine.
Er hält es für einen großen Vorteil der Fermer, dass
sie wesentlich flexibler arbeiten und reagieren können als
Großbetriebe, bei denen häufig Mehrheitsbeschlüsse
nötig sind, um Entscheidungen treffen zu können. Heute
hat er 200 Milchkühe und 500 Schweine. Er baut Futtergetreide,
Brotweizen, Raps und Rüben an. Der Futterbedarf seiner Tiere
wird mit dem eigenen Anbau gedeckt. In guten Erntejahren kann er
noch Futtergetreide verkaufen, eine Seltenheit im Kaliningrader
Gebiet, Futtermangel im Frühjahr ist völlig normal.
Zur Maschinenausstattung gehören 14 Traktoren und zwei
Mähdrescher. Er hat gute Kontakte ins Ausland, kauft dort ab
und zu gebrauchte Maschinen. Auf seinem Betrieb werden Seminare
für Interessenten abgehalten, die in die Kaliningrader
Landwirtschaft investieren möchten.
Als weiteren Betriebszweig gibt es auf diesem Hof den
Tourismusbereich mit Kunden aus Russland. Es finden geführte
Jagdausflüge mit Übernachtung und Verpflegung statt.
Für die Gäste steht ein sehr komfortabel eingerichtetes
Haus zur Verfügung. Hier hängen über dem gewaltigen
Esstisch Geweihe, teilweise noch aus Sibirien, und Fotos von
fröhlichen Jagdgesellschaften. Die Gästezahl nimmt von
Jahr zu Jahr zu. Alexander Poprov ist heute Vorsitzender des
Kaliningrader Fermervereins, der für Beratung, Fortbildung und
Kreditvergabe zuständig ist.
Mehr im Verborgenen, aber mit großem Erfolg arbeiten die so
genannten Hauswirtschaften. Das sind Betriebe unter acht Hektar,
sie bestanden schon zu Zeiten der Planwirtschaft und gehörten
den Angestellten der Staatsbetriebe. Hauswirtschaften produzieren
heute einen Großteil der Kartoffeln, des Gemüses und der
Milch, die im Gebiet benötigt werden. Getreide wird kaum
angebaut, weil die nötigen Maschinen fehlen. Diese
Betriebsform ist in keinem Verein organisiert, erhält keine
Kredite, keine Fördermaßnahmen, zahlt aber auch keine
Steuern. Allerdings hat der russische Staat die wirtschaftliche
Kraft dieser Höfe entdeckt, will sie jetzt registrieren und
mit allen Rechten und Pflichten ausstatten. Das bedeutet unter
anderem: Steuern zu zahlen aber auch Fortbildungen zu erhalten.
Der Betrieb von Leonid und Matrjoschka Kapitan ist eine
Hauswirtschaft, die von Jahr zu Jahr erweitert wird. Besucher
werden mit russischer Gastfreundschaft verwöhnt. An einem
Küchentisch, der sich unter blitzschnell aufgetragenem Essen
biegt, erzählen beide von der Entstehung ihrer Wirtschaft, die
zur Sowchose Romanow im Samland, nordwestlich von Kaliningrad,
gehörte. Die Sowchose gibt es nicht mehr, sie wurde komplett
aufgelöst. Ein Teil der Flächen wird von anderen
Besitzern bewirtschaftet. Leonid Kapitan war dort als Traktorist
und Maschinist tätig. Die Familie musste häufig ohne
Bargeld auskommen, da der Lohn in Naturalien bezahlt wurde. Sie
lebte in einer winzigen Wohnung eines düsteren Blocks. Kapitan
ist stolz auf seine frühere Arbeit und die Leistungen der
Sowchose: "Wir wurden von Jahr zu Jahr besser." Aber seine Frau
sagt: "Früher bekam mein Mann Erholungsreisen und Orden. Heute
haben wir ein Haus und Bargeld." Matrjoschka Kapitan arbeitete bei
der Post und bezieht heute Rente. Ihr Mann bekommt 800 Rubel (28 US
Dollar) Rente im Monat. Er hat 35 Jahre auf der Sowchose
gearbeitet.
Jedes Mitglied der Sowchose bekam bei der Auflösung sechs
Hektar Land zur persönlichen Nutzung. Viele haben ihr Land
verkauft. Das Ehepaar Kapitan kann sich ein Leben ohne
Landwirtschaft nicht vorstellen. Sie konnten ein herunter
gekommenes Haus kaufen, das unmittelbar neben ihrer früheren
Wohnung liegt. Sie haben es renoviert, zum Haus gehören auch
Ställe. Die persönliche Nebenwirtschaft ist mit einer
Urkunde dokumentiert und umfasst 5,6 Hektar Land. Es wäre
möglich gewesen, mehr Anbaufläche zu bekommen, das
wollten sie nicht, weil Fermer Steuern zahlen müssen, was sie
sich wirtschaftlich nicht zutrauen.
Die Milch wird von der Molkerei OAO Moloko nach Kaliningrad
gebracht, Kartoffeln werden ab Hof verkauft. Für deren Anbau
gibt es zwei Traktoren und Geräte (20 Jahre alt), sie konnten
von der Sowchose übernommen werden. Das Ehepaar Kapitan hat
sich in Eigenleistung einen Kartoffelkeller gebaut, um die
Kartoffeln im Frühjahr zu einem besseren Preis verkaufen zu
können. Die Pflanzkartoffeln wurden in Polen und im
Kaliningrader Gebiet gekauft. Dünger wird etwas verwendet,
Pflanzenschutzmittel aus Kostengründen nicht. Beide betonen,
dass sie sich langsam voran arbeiten möchten Zum Thema
Verschuldung meint Matrjoschka Kapitan: "Einen Kredit? Niemals!"
Allerdings würden sie unter besseren Bedingungen gerne Fermer
sein, sehen aber gegenwärtig keine Möglichkeit, an die
nötige Technik für die Bearbeitung größerer
Flächen zu gelangen.
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