Wortlaut der Reden
Dr. Heiner Geißler, CDU/CSU | Otto Schily, SPD >> |
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Antrag, den ich vertrete, haben erfahrene Parlamentarier mit jahrzehntelanger Praxis der parlamentarischen Arbeit unterschrieben, die sich das gesunde Urteil über die Frage, ob dieser Antrag mit der Arbeit des Parlaments zu vereinbaren ist oder nicht, nicht absprechen lassen. Es sind Parlamentarier, die nicht wollen, daß wir bei dieser wichtigen Abstimmung zu dem, was die Vertreter von Bonn und Berlin vorgelegt haben, ohne eine Alternative bleiben. Ich habe viele Urteile gehört, Leitartikel, aber auch Aussagen aus dem Ausland. Es hieß zum Teil, schlimme Urteile über das zur Kenntnis nehmen zu müssen, was wir in den letzten Wochen hier gezeigt haben. Aber ich habe diese Urteile nie geteilt, und zwar deswegen, weil man im Ausland vielleicht nicht begreifen kann, daß wir hier in einer ganz neuen Situation sind, und weil wir -- das ist der Irrtum, der vielleicht auch bei vielen von uns vorhanden ist -- vor anderthalb Jahren keine Wende gehabt haben, sondern eine friedliche Revolution in einem über Jahrzehnte geteilten Land, wobei bis in die Debatte des heutigen Tages auch noch die erste Teilung der Deutschen 1848 ihre Spuren hinterläßt. Wir fällen diese Entscheidung in einem Zeitabschnitt, in dem unsere Geschichte wieder Wirklichkeit wird: 47 Jahre Kaiserreich, Preußen, Zweiter Weltkrieg, Weimar, Kataklysma des Nazireiches, 60 Millionen Kriegstote, Flucht und Vertreibung und 17 Millionen Deutsche nahtlos von der braunen Diktatur in die rote Diktatur.Und im Westen: die Demokratie, die längste Zeit freiheitlicher Geschichte, mit dem Namen Bonns verbunden, mit dem Föderalismus, der unser Staatswesen überlegen gemacht hat, eine neue Demokratie, Soziale Marktwirtschaft, Adenauer, Schumacher, Heuss, Europa und die Westbindung -- und gleichzeitig Berlin, die Hauptstadt der Freiheit, die Hauptstadt gegen den Anspruch der Usurpation der roten Zaren, Symbol der Menschenrechte und Signal der Freiheit und Hoffnung für Hunderte von Millionen von Menschen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, vieles ist gesagt worden: über Preußen, über die Vielfalt unserer Geschichte. Das alles ist vergangen. Gegenwart ist der 3. Oktober, ist Brandenburg und sind die neuen Länder mit den Ängsten und Hoffnungen von Millionen von Menschen, die für die Freiheit, für die Gleichheit und die Brüderlichkeit auf die Straße gegangen sind, genauso wie die Polen und die Tschechen, wie Lech Walesa für die Polen bei der Einweihung des Denkmals der Arbeiter gesagt hat, die 1970 beim Aufstand zusammengeschossen wurden. Diese Menschen haben jetzt die Freiheit und die Einheit, aber sie haben noch keine brüderliche Gesellschaft. Das ist die komplexe deutsche Wirklichkeit, die Vielfalt, wie sie sich uns darstellt. Jetzt frage ich Sie -- und das ist das, was uns bewegt, die diesen Antrag gestellt haben --: Wollen wir diese komplexe deutsche Wirklichkeit, die sich auch in der Hauptstadtfrage -- in Bonn und in Berlin -- symbolisiert, beantworten mit einem Entweder-Oder, mit einem Alles-oder-Nichts? Dies ist nämlich die Wahrheit. Herr Müntefering hat gestern zu mir gesagt, man soll nicht vom Schaden reden, der entsteht, wenn man diese Alles-oder-Nichts-Entscheidung fällt. Ich kann ihm hier nicht folgen. Auch der Herr Bundesratspräsident hat von einem Schaden gesprochen, den wir vermeiden sollten, einem Schaden, der tiefe Wirkungen haben kann. Deswegen kann ich nichts zur Beruhigung der Gewissen oder zu einem Scheinfrieden beitragen. Diese beiden Anträge -- der Bonner Antrag und der Berliner Antrag -- liegen nicht nahe beieinander, wie immer wieder getan wird, sondern sie liegen auseinander. Bundestag -- das ist die entscheidende Frage; denn der Sitz des Parlaments entscheidet über die Hauptstadtfrage. Und Berlin ist die Hauptstadt und nicht Bonn. So steht es im Einigungsvertrag. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE) Wir können diese Frage nicht dahin beantworten, lieber Norbert Blüm, daß wir die Hauptstadtfrage dadurch lösen, daß der Bundestag in Berlin einige herausgehobene Sitzungen in unregelmäßigen Abständen abhält. Das geht nicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE) Aber es geht auch nicht, daß alles nach Berlin geht. Auch wenn der Berliner Antrag eine zeitliche Streckung erhält, er geht davon aus, daß endgültig Parlaments- und Regierungssitz beieinander sind. Was antworten wir eigentlich Millionen von Menschen in den neuen Bundesländern? Aber, was antworten wir auch, wenn wir Alles-oder-Nichts machen, auf die Fragen nach den Existenzgrundlagen von Zehntausenden von Menschen hier in diesem Raum? Wenn 4 000 Stahlarbeiter in Rheinhausen auf Kurzarbeit gesetzt werden, dann zittert die halbe Nation, und wir treten in Ruhr- und Regierungskonferenzen zusammen. Aber wir wollen uns anmaßen, innerhalb weniger Minuten die Fragen nach der Existenz von hunderttausend Arbeitnehmern so zu beantworten? (Werner Schulz [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE]: Das machen Sie bereits!) Ich bin nicht der Auffassung, daß wir dies tun können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte in aller Ruhe sagen: Es ist viel spekuliert worden, wie diese Entscheidung ausgeht. Aber möglicherweise oder mit Sicherheit wird sie knapp sein. Jeder, der einem Kompromiß nicht zustimmt, muß wissen, was er riskiert. Er riskiert eben die Frage der Arbeitsplätze und der Existenzgrundlagen, und er riskiert z. B. auch die Kostenfrage, Herr Thierse, die wir nicht geringachten dürfen. Kosten, die entstehen würden, wenn es zu einem Totalumzug, vor allem der Regierung, nach Berlin käme. Aber wir riskieren auch -- und ich bekenne mich dazu -- die Glaubwürdigkeit gegenüber Millionen Menschen, die uns glauben, daß wir es ernst meinen mit einer brüderlichen Gesellschaft und mit dem, was wir in der Vergangenheit gesagt haben. Wir alle sollten zu diesem Kompromiß nicht fähig sein, im Grunde genommen allein weil unsere Vorstellungskraft offenbar nicht ausreicht, noch nicht ausreicht, für das Jahr 2000 -- darum handelt es sich doch in Wirklichkeit -- das Miteinander und Gegeneinander von Regierung und Parlament in einem modernen Land zu gestalten? Natürlich, wenn der Bundestag in Berlin ist, müssen die Kabinettssitzungen in der Sitzungswoche in Berlin sein. Der Antrag geht davon aus, daß die Regierung Außenstellen in Berlin hat. Es ist die Frage der Gewaltenteilung aufgeworfen worden und die Frage, ob das Parlament in der Lage wäre, die Regierung zu kontrollieren. Gehen wir doch einmal auf die verfassungspolitischen Aufgaben ein. Die Regierung wird doch nicht dadurch kontrolliert -- das wissen wir aus unserer eigenen Praxis --, daß die Abgeordneten in den Ministerien die Büros kontrollieren und nachsehen, ob die Beamten arbeiten, sondern die Kontrolle der Regierung funktioniert durch die Gesetze, durch die Aufstellung der Haushaltspläne, durch den Haushaltsausschuß, durch Regierungsanfragen, Kleine und Große Anfragen, durch den Bundesrechnungshof als Kontrollinstrument des Parlaments und durch Untersuchungsausschüsse. Das ist das Instrument der Kontrolle der Regierung. Bleibt die Frage der Kommunikation. Beantworten wir diese Frage in einer neuen Situation, in der wir uns befinden, wo wir sicher nicht alles optimal gestalten können, wenn wir einen Kompromiß wollen, doch nicht so, als ob wir nicht im Zeitalter der Kommunikation, der Information und der Mobilität lebten! Wir selbst haben im Deutschen Bundestag durch unsere Gesetze die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß unseren Institutionen und Unternehmen oder Verbänden durch die Nutzung modernster Kommunikationstechniken Standortvorteile verschafft werden. Wir haben deswegen nicht den geringsten Grund, nun selber dem Parlament diese Mittel nicht ebenfalls zur Verfügung zu stellen. Ich habe in der Diskussion einen seltsamen Begriff gehört: »Verzahnung der Gewalten«. Wir haben nach unserer Verfassung keine Verzahnung der Gewalten, sondern eine Teilung der Gewalten. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Damen und Herren, was die Kommunikationsfragen anbelangt, wenn wir dem Vorschlag der einen oder anderen Seite folgen: Ich bin dafür, daß das Parlament als wichtigstes Organ in Berlin eben nicht den Wanderzirkus beginnt. Wenn sich jemand bewegt, dann sollen sich vielmehr die Beamten und die Regierung von Bonn nach Berlin bewegen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dies ist auch möglich und finanziell tragbar. Ich habe einmal ausrechnen lassen: Die Umzugskosten, die wir einsparen, würden es uns erlauben, bis zum Jahre 2400 in jeder Sitzungswoche drei Tage lang 500 Beamte in Berlin im Hotel Kempinski zu beherbergen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU -- Peter Conradi [SPD]: Toll!) -- Es soll mir niemand mit den Umzugskosten kommen. Ich nehme das Argument der Regierungskontrolle ernst. Aber es geht nicht um die Frage, ob etwas verträglich oder unverträglich ist, es geht nicht um die Frage, ob die Verfassung tangiert ist oder nicht, sondern um die Frage, ob wir bereit sind, im Sinne der deutschen Einheit und in der Verantwortung gegenüber unserer Geschichte als Abgeordnete einige Opfer zu bringen, aber Opfer auch den Beamten und der Regierung zuzumuten. Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Lassen Sie uns die Denkblockaden, die Dogmen der Bequemlichkeit überwinden! Muten wir uns selber und unserer Regierung und den Beamten einige wenige Opfer zu, was uns ermöglicht, glaubwürdig zu bleiben, der Einheit unseres Vaterlandes zu dienen und gleichzeitig die Chancen auch für eine Erneuerung des Parlaments zu ergreifen. Deswegen bitte ich Sie herzlich, diesem Kompromiß zuzustimmen, der unsere Frage -- davon bin ich überzeugt -- im Sinne der Einheit aller Deutschen zu lösen in der Lage ist. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Otto Schily. |