Wortlaut der Reden
Dr. Theodor Waigel, CDU/CSU | Dr. Wolfgang Ullmann, Bündnis 90/GRÜNE >> |
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte als Abgeordneter sprechen, obwohl man selbstverständlich nicht leugnen kann, welche Funktion man zu dem Zeitpunkt ausübt. Bei den Verhandlungen über den Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und bei der Mitwirkung am Einigungsvertrag haben wir uns und habe ich mich mit Ihnen von dem Auftrag leiten lassen, eine Politik des Augenmaßes zu betreiben. Wir hatten bei der Wiederherstellung der Einheit in politischer, rechtlicher und ökonomischer Hinsicht Prioritäten festzustellen und danach zu handeln. Das waren die gesamtwirtschaftliche Vertretbarkeit, die haushaltspolitische Machbarkeit, der Vorrang der Menschen, was ihre Arbeitsplätze und ihre soziale Situation anbelangt, die Infrastruktur und der soziale Ausgleich. Wenn man diese Dinge in den Vordergrund rückt, dann geben sie wenig Ansatzpunkte für Pathos, für verständliche Emotionen. Ich hätte mir gewünscht, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß bei dieser Debatte auch nicht unterschwellig etwas gegen den anderen Standort, gegen die andere Stadt gesagt worden wäre. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Verehrter Herr Kollege Brandt, Sie wissen, daß ich Sie schätze. Der Vergleich mit Vichy, auch wenn er so nicht gemeint war, hat nicht gepaßt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD -- Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Unglaublich!) Seien Sie mir nicht böse, wenn ich das als Jüngerer zum Älteren sage. Schnelle Entscheidungen waren notwendig: bei der Währungsunion und beim Einigungsvertrag. Es waren Geschwindigkeiten erforderlich, die über das ökonomisch eigentlich Zumutbare, Gebotene und Richtige hinausgingen. Wir mußten sie im Interesse der Menschen treffen. Ich meine, diese Entscheidungen waren wichtiger als die gegenwärtige Entscheidung über die Frage des Regierungssitzes. (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Die Entscheidung von heute -- das ist meine persönliche Meinung -- mußte nicht jetzt und nicht in dieser Form getroffen werden. Ich teile die Meinung, sie hätte noch einer eingehenderen Vorbereitung bedurft, und eine solche wäre auch möglich gewesen. Ich habe mich von Anfang an für eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn ausgesprochen. Ich habe mich von Anfang an für eine Fortentwicklung der Elemente des Vorschlags von Bundesratspräsident Voscherau ausgesprochen. Trotz mancher Bedenken und anderer Meinungen auch in meiner eigenen Partei ist mir der Vorschlag des Kollegen Geißler lieber als ein Entweder-Oder. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die heutige Entscheidung wird Ausgangspunkt für weitere Beratungen über das Schicksal beider Städte sein. Wer meint, dies sei heute mit dieser Debatte und mit einer Entscheidung für immer abgeschlossen, der irrt. Und doch bin ich dafür, daß der Bundestag diese Entscheidung fällt und daß sie nicht durch einen Volksentscheid getroffen wird. Denn ein Volksentscheid hätte uns noch viel größere und schwerwiegendere Probleme in der politischen Willensbildung gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Die Bekenntnisse zu Berlin haben Gewicht, und niemand ist unbeeindruckt von dem, was der Kollege Schäuble, der Kollege Thierse und der Kollege Brandt dazu gesagt haben. Aber es muß auch ein Hinweis auf die vielfach wechselnden Hauptstädte in Deutschland erlaubt sein. Jeder geschichtliche Abschnitt war zumindest mit einer, zum Teil auch mit mehreren Hauptstädten verbunden: (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: So ist es!) von Aachen und den übrigen Kaiserpfalzen über die mittelalterlichen Reichstagsorte, Frankfurt als Sitz der Bundesversammlung bis hin zu Berlin. Es gibt auch keinen Widerspruch zwischen historischer Kontinuität und neuer Tradition; denn das wiedervereinigte Deutschland 1990 umschließt eine Vielzahl historischer Vermächtnisse und neu begründeter Traditionen. Es ist nicht kleinkariert, meine Damen und Herren, wenn man sagt, daß neben der historischen Dimension auch die Funktionsfähigkeit der Regierung und der Verwaltung und die Finanzierbarkeit aller Maßnahmen in den nächsten zehn Jahren hier in der Diskussion eine Rolle spielen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Ich habe mich hier nicht zum Apologeten irgendwelcher grob geschätzter Zahlen gemacht. Es war auch nicht möglich, als Finanzminister von mir aus, ohne das die Regierung als Ganzes dazu Stellung genommen hätte, diese Diskussion zu bestimmen; das wäre nicht fair und nicht gut gewesen. Dennoch kommt niemand daran vorbei, daß es Zahlenschätzungen in der Größenordnung von 30 bis 40 Milliarden DM gibt. Andere sprechen davon, daß es im Zeithorizont das Doppelte oder noch mehr sein wird. Dann bin ich verpflichtet, darüber nachzudenken, ob es richtig ist, in anderen Bereichen zu dieser oder jener Frage nein zu sagen, zu dieser oder jener Hilfe im sozialpolitischen Bereich nein zu sagen oder für diese oder jene Sanierung nicht die notwendigen Mittel zu geben, während auf der anderen Seite so kostenträchtige Entscheidungen fallen. Meine Damen und Herren, ich habe über die Notwendigkeit der Funktionsfähigkeit der Verwaltung das Nötige gesagt. Wir sollten auch jetzt noch versuchen, Chancen für die Erprobung einer örtlichen Trennung von Verfassungsorganen zu nutzen. Bundespräsident und Bundesrat, obwohl wir hier über den Bundesrat nicht zu verfügen haben, könnten kurzfristig nach Berlin umziehen. Das wäre ein wichtiges Zeichen, das schnell und nicht erst in einer Zeitachse von 10 oder 15 Jahren gesetzt werden könnte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dazu gehört selbstverständlich auch, daß der Reichstag funktionsfähig ausgebaut werden muß und daß bedeutsame Sitzungen in Berlin stattzufinden haben. Meine Damen und Herren, es muß hier auch die Rolle des Föderalismus gesehen werden. Ein gefestigter Föderalismus ist für die Bundesrepublik Deutschland unverzichtbar. Wir müssen die Vielfalt der Ballungsräume und der Zentren sehen und entwickeln. Wir wollen nicht nur eine Metropole, wie es in anderen Ländern der Fall ist. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter Waigel, Sie haben soeben dankenswerterweise darauf hingewiesen, daß Sie nicht in Ihrer Funktion als Bundesminister sprechen. Um so leichter fällt es mir, nun darauf hinzuweisen, daß Sie die Redezeit, die Ihnen zugemessen worden ist, auch einhalten müssen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Ich bedanke mich sehr, Herr Präsident, für den Hinweis. Bei dieser Frage übersieht man mitunter Redezeitbegrenzungen. Ich gebe das gerne zu. Trotz vieler Bedenken sage ich in der ersten Abstimmung ja zu dem Vorschlag des Kollegen Geißler, weil er nichts verbaut. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn er abgelehnt wird, spreche ich mich für die »Bundesstaatslösung« in Drucksache 12/814 aus, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) weil damit sichergestellt ist, daß zwei Verfassungsorgane sogleich ihren Sitz in Berlin nehmen können. Wir stehen heute bei dieser Entscheidung vor der Frage: Was ist ethisch verantwortliches Handeln in der Politik? Ich als Abgeordneter, als Parteivorsitzender und auch als Finanzminister halte mich an das, was der Münchener Philosoph Spaemann dazu sagt: »Ethisch verantwortliches Handeln in der Politik heißt, das bonum commune sehen und unter gegebenen Umständen, die man sich nicht aussuchen kann, das unter diesen Umständen Bestmögliche und damit Richtige zu tun.« -- In dieser schwierigen Abwägungsfrage sprechen die gewichtigeren Gründe für die bundesstaatliche Lösung. Das heißt, auch danach alles zu tun, um zu einem Konsens in dieser Frage zu gelangen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der SPD) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ullmann. |