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Debatte
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Wortlaut der Reden

Wolfgang Lüder, FDP Ingrid Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU >>

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bemühungen um einen Konsens, die bis gestern abend anhielten, waren meines Erachtens vor allem deswegen so schwierig, weil es hier nicht um eine Frage von zwei Regionen, von zwei Städten oder gar darum geht, wer welche Region vor welcher Belastung schützen soll. Es geht um verantwortliches Handeln für unsere Republik; es geht um die Dimension der deutschen Einheit, nicht regional, sondern historisch, politisch und menschlich.

Meine Damen und Herren, wir sollten uns dessen bewußt sein, daß es auch manche Gemeinsamkeit zwischen Bonn und Berlin gibt. Gerade wenn wir an die deutsche Vergangenheit denken, sollten wir uns dessen bewußt bleiben, daß die Nazis weder in Bonn noch in Berlin in parlamentarischen Wahlen jemals die Mehrheit bekommen haben. Es geht um zwei Städte, die sich als demokratisch erwiesen, als seinerzeit andere deutsche Städte versagt hatten.

Wir haben die deutsche Einheit nicht deswegen erreicht, weil Bonn der westdeutsche Arbeitsplatz der Politik war, sondern deswegen, weil die Demokraten der damaligen DDR die Revolution friedlich durchgesetzt haben. Dabei ist mehr geschehen als der Sturz eines Unrechtsregimes. Die Vollendung der Einheit Deutschlands, wie sie die alte Präambel des Grundgesetzes schlicht und zwingend forderte, kann sich aber nicht darin erschöpfen, daß ein Drittel Deutschlands am 3. Oktober letzten Jahres der westdeutschen Republik schlicht beigetreten wäre wie das Saarland zu Adenauers Regierungszeit. Hier ist doch etwas Neues entstanden; hier kann man doch nicht einfach westdeutsch weitermachen wie bisher.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD sowie vereinzelt bei der CDU/CSU)

Der Bundeskanzler hat vorhin mit Recht darauf hingewiesen, daß sich das Zentrum Deutschlands und das Zentrum Europas mit der deutschen Einheit und der Öffnung Europas verlagert hat. Nicht mehr ausschließlich die Westorientierung darf dominieren. Deutsche Politik muß aus dem Zentrum des neuen Europa gestaltet werden, und sie muß für die Staaten Ost- und Mitteleuropas, für die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft Zeichen setzen. Berlin ist dafür wie kein anderer Ort geeignet.

Es ist viel über die Stadt gesprochen worden. Ich möchte an etwas erinnern, was noch nicht gesagt worden ist: Der Westteil Berlins wuchs durch die Integration in die Bundesrepublik, und der Ostteil trug mit an der Last der Teilung Deutschlands und Europas.

(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Richtig!)

Nur in Berlin verschmelzen beide Teile zu einem neuen Ganzen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

Deswegen ist Berlin wie keine andere Stadt berufen und geeignet dazu, die Hauptstadtfunktion des geeinten Deutschlands in der Mitte Europas zu erfüllen.

Wer sich jemals mit Megastädten in der Welt beschäftigt hat und sie mit der 3,5-Millionen-Stadt Berlin vergleicht, der weiß, daß die Drohung mit der Megastadt hier absolut fehl am Platze ist. Der Blick, Herr Blüm, geht schief. Wer die Probleme in den Megastädten Europas und der Dritten

Welt beobachtet, weiß, daß es absolut falsch wäre, die Stadt Berlin als Megastadt zu diffamieren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands endete die Nachkriegszeit. Die Nachkriegszeit begann nicht erst mit der Gründung der Bundesrepublik. Sie begann 1945 mit den ersten Wiederaufbaubemühungen der Demokratie. Es waren die Berliner, und es war Berlin, die der Welt zeigten, daß sie den materiellen Versuchungen widerstanden, weil nur so Freiheit zu bewahren war.

Der Kollege Schäuble hat vorhin daran erinnert, was die Luftbrücke bedeutete. Ich möchte daran erinnern, daß der Luftbrücke das freiwillige Ja der Berliner zu Hunger und Not, wenn nur so Freiheit und Recht zu wahren waren, vorausging. Der Ostsektor hatte Lebensmittelkarten angeboten; der Ostsektor hatte Brot und Spiele und Wärme angeboten, und die Berliner haben gesagt: Nein, wir wollen Freiheit und Recht haben. So wurde die Westbindung der Bundesrepublik begründet. Das wird auch in einem treffenden Zitat gesagt: »In Berlin ist die Bundesrepublik gewissermaßen moralisch gegründet worden.«

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Berlin und die Berliner verkörperten in den 45 Jahren der Nachkriegszeit die Werte, denen die Bundesrepublik in den 40 Jahren der Teilung verpflichtet blieb: Einheit, Recht und Freiheit. Es ist an den 17. Juni erinnert worden, es ist an den Mauerbau erinnert worden.

Der Einigungsvertrag gibt uns das Recht, jetzt im 12. Deutschen Bundestag anders zu entscheiden. Allen Bonn-Befürwortern sage ich: Es ist nicht die Rechtsfrage, um die es hier geht. Sie haben das Recht, entgegen dem zu entscheiden, was in 40jähriger Kontinuität hier gesagt wurde. Aber jeder von uns, der an diesen Bekundungen bis in die letzte Legislaturperiode hinein mitgewirkt hat, der hat nicht nur das Recht, sein Versprechen nicht zu halten, er steht dann auch in der Verantwortung zu begründen, warum er sich jetzt von seinem Wort löst, das er Berlin und zugleich allen Bürgern dieses Landes gegeben hat.

Da reicht mir die Begründung vom Kollegen Pflüger eben nicht aus, wenn er sagt: Nur weil jetzt möglich ist, was wir erwartet hatten, deswegen wollen wir das nicht mehr erfüllen. -- Es hat sich nichts verändert außer einem: Die Situation ist da, die Einheit ist da, und nun können wir das tun, was wir immer gesagt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Das gilt insbesondere für Sie, Kollege Blüm und auch Kollege Baum, die Sie hier in diesem Hause waren, als in Anwesenheit des Bundespräsidenten Karl Carstens und des Altbundespräsidenten Walter Scheel am

12. September 1979 anläßlich des 30jährigen Bestehens des Bundestages und im Hinblick auf die Neubauten, die gestern einige von uns zum erstenmal sehen durften, der Präsident des Deutschen Bundestages erklärt hat -- das Protokoll weist aus: Beifall aller Seiten --:

. . . Berlin wird eines Tages auch wieder voll seine alte Hauptstadtfunktion erfüllen.

Wer damals Beifall geklatscht hat, der muß heute begründen, warum er jetzt sein Wort zurückzieht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD -- Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Der Einigungsvertrag macht es möglich, Herr Kollege!)

-- Liebe Frau Kollegin Fuchs, der Einheitsvertrag macht es möglich, der Einheitsvertrag macht es nicht nötig.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD] -- Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Doch!)

Ich habe Ärger in meiner Fraktion dadurch bekommen, daß ich überspitzt formuliert habe, was ich jetzt hier wiederhole: Sie haben das Recht zum Wortbruch, aber Sie haben die Möglichkeit, Wort zu halten -- politisch gesprochen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD -- Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Dann war der Einigungsvertrag ein Wortbruch!)

Hier geht es nicht um Rezentralisierung

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Doch!)

-- nein --, hier geht es darum, das zu tun, was gerade die Föderalisten wollen.

Herr Kollege Glotz, Sie konnten damals hier im Bundestag nicht mitstimmen,

(Dr. Peter Glotz [SPD]: Weil wir beide in Berlin waren!)

weil wir beide zusammen in Berlin uns um Stärkung des Landes bemüht haben. Sie als Wissenschaftssenator wußten zur gleichen Zeit, als der Bundestag sagte: Wir kommen nach Berlin, wenn die Einheit da ist, daß wir auf diese Einheit hinarbeiten und daß wir die Länder stärken wollen, mit der Zentrale in Berlin und nicht mit dem Absterben irgendwelcher Föderalismusideen.

Nein, wir sollten auch nicht Vormund für 12 Landtage oder Landesregierungen sein wollen. Wenn wir Föderalismus ernst nehmen, dann haben wir zu respektieren, was die Föderalisten in den Ländern sagen, und nicht zu sagen: Wir wissen es besser, nur weil wir hier im Ersatzplenarsaal in Bonn darüber diskutieren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Heute tagt im Reichstag die erste Konferenz des Außenministerrats der KSZE.

Übrigens habe nicht nur ich erstaunt festgestellt, daß man im Reichstag richtig tagen kann und daß der Service offenbar auch richtig läuft, wenn es andere machen. Aber dies nur am Rande.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU -- Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Aber erstaunt waren Sie? -- Dr. Franz Möller [CDU/CSU]: Es ist aber auch ein Unterschied, ob es 30 Außenminister oder 662 Abgeordnete sind!)

Es liegt offenbar nicht an der Baulichkeit.

Ich sagte, heute tagt die Außenministerkonferenz der KSZE. Der Kalte Krieg ist überwunden, der Frieden in Europa gesichert; die Freiheit hat in ganz Europa wieder eine Chance. Über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa -- lassen Sie mich das deutlich sagen -- wird heute im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in der Bundeshauptstadt gesprochen, während wir hier im Ersatzplenarsaal darüber diskutieren, ob wir unseren Sitz in die Hauptstadt unseres Staates verlegen.

Meine Damen und Herren, die politische Dimension der Einheit Deutschlands muß uns veranlassen, diesem Beispiel Europas zu folgen. Der Reichstag wurde durch Bundestagsbeschluß für das deutsche Parlament wieder aufgebaut, für 680 Abgeordnete. Jetzt sind wir 662.

(Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Das langt!)

Wir sollten rübergehen nach Berlin.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/

CSU und der SPD)

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehrten Damen und Herren, die nächste Rednerin ist Frau Abgeordnete Ingrid Roitzsch.

Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_019
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