Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Home  |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > Blickpunkt Bundestag > Blickpunkt Bundestag - Jahresübersicht 1999 > Deutscher Bundestag - Blickpunkt 10/99 Inhaltsverzeichnis >
November 10/1999
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

forum

Aufbau Ost bleibt eine Daueraufgabe

Vieles hat sich positiv verändert in den neuen Ländern. Aber der Aufbau Ost ist langwieriger und teurer, als die meisten erwartet hatten. Er bleibt deshalb eine Daueraufgabe. 1,35 Billionen Mark sind, einschliesslich gesetzlicher Sozialleistungen, netto zwischen 1991 und 1999 in den Osten geflossen. Sie haben entscheidend dazu beigetragen, die marode Wirtschaft und Infrastruktur zu verbessern und die Arbeitslosigkeit zu begrenzen.

Dennoch besteht ein erheblicher Nachholbedarf gegenüber dem Westen. Wenige Zahlen verdeutlichen das: Das Bruttoinlandsprodukt stieg zwar um 45 Prozent, aber die Wirtschafts-leistung je Einwohner erreicht (1998) erst 56 Prozent des Westniveaus. Die Finanzkraft der ostdeutschen Länder beträgt nur ein gutes Drittel der des Westens. Es wird nur halb so viel exportiert, die Arbeitslosigkeit ist fast doppelt so hoch, obwohl im Osten deutlich mehr Frauen als im Westen erwerbstätig sind.

Das kann die Erfolge nicht verdecken: Sie reichen vom Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur (Telefon, Strassenbau) und Verwaltung sowie der Übertragung des gesamten Sozialsystems einschliesslich der Gesundheitsversorgung über das boomende Handwerk und den spürbaren Aufschwung im industriellen Sektor bis hin zur Privatisierung und Modernisierung der Wirtschaftsunternehmen. Der Dienstleistungssektor und der Mittelstand insgesamt entwickeln sich stetig.

Die Vertreter der Bundestagsfraktionen betonen die Aspekte der wirtschaftlichen Entwicklung der neuen Länder unterschiedlich. Sie nehmen im Forum von Blickpunkt Bundestag Stellung.

Sabine Kaspereit, SPD

Sabine Kaspereit

Tatkraft und Solidarität bringen Einheit voran

Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, in neun Jahren staatlicher Einheit unseres Landes ist auf dem Weg zur wirtschaftlichen und sozialen Einheit vieles erreicht - dank der Tatkraft der Ostdeutschen und der Solidarität der Westdeutschen. Noch können wir aber nicht sagen, wir seien am Ziel, die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Ost und West angeglichen, die immense Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern auf ein erträgliches Maß abgebaut, die Wirtschaft auf eine sichere Basis gestellt.

Anstrengung darf nicht nachlassen

Dennoch scheint die Zahl derer zu wachsen, die die Anstrengungen für den Aufbau in den neuen Ländern nun als abgeschlossen betrachten. Die Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessen stellen den solidarischen Finanzausgleich zwischen den alten und neuen Ländern durch einen Gang zum Bundesverfassungsgericht in Frage. Andere Länderminister schielen auf die Mittel für die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit. Die F.D.P. trägt den Stammtischdiskussionen über den Solidarbeitrag Rechnung, der übrigens von den Steuerzahlern in West und Ost gezahlt wird, was im Westen offenbar weitgehend unbekannt ist. Die Krankenkassen sträuben sich derzeit, die Allgemeinen Ortskrankenkassen im Osten in ihrer schwierigen Lage zu unterstützen.

Wir Ostler stehen diesen Diskussionen ein bisschen hilflos gegenüber. Wir wissen die von den Westdeutschen geleistete Solidarität wohl zu würdigen, ebenso die ungeheure Leistung meiner Landsleute im Osten. Dennoch können wir nicht sagen, weitere Solidarleistungen würden nicht mehr gebraucht. Die Wirtschaft kann trotz aller bisher geleisteten Förderung noch immer weder die eigene Bevölkerung versorgen noch in nennenswertem Umfang zum Export beitragen. Die überproportional hohe Arbeitslosigkeit führt zu verminderten Einnahmen und zu höheren Ausgaben der sozialen Sicherungssysteme und schwächt die Steuerkraft der neuen Länder. Die immer noch lückenhafte Infrastruktur wirkt sich negativ auf die Ansiedlung von Unternehmen und die Entwicklung des Tourismus aus und behindert den Zuzug von Fach- und Führungskräften. Junge, gut ausgebildete und hoch qualifizierte Menschen, die wir für die Zukunft dringend als die nicht verzichtbaren Leistungsträger brauchen, wandern ab, weil ihnen die ostdeutschen Lebensverhältnisse weniger Chancen bieten als die westdeutschen. All das ist bekannt und kann in den Analysen und Problembeschreibungen der Wirtschaftsforschungsinstitute nachgelesen werden.

Aufbau Ost ist Chefsache

Nun lässt es sich über den besten Weg für die neuen Länder und über die notwendigen Förderinstrumente trefflich streiten - über eines jedoch nicht: Die gesamtdeutsche Solidarität mit dem Osten ist mittelfristig unverzichtbar, weil wir nicht das bereits Geleistete in Frage stellen dürfen. Wenn wir auf halbem Wege stehen bleiben, hängen die Folgen der vierzigjährigen Teilung im Osten dem ganzen Deutschland wie ein Klotz am Bein: Dem Osten bleibt der Fortschritt verwehrt, und der Westen muss auf Dauer eine auf äußere Unterstützung angewiesene Region mitschleppen. Das kann niemandes Interesse sein.

Die Bundesregierung und die SPD-Bundestagsfraktion wissen, wie wichtig es ist, den Aufholprozess im Osten neu anzuregen und nach Kräften zu fördern. In allen Bereichen ihrer Arbeit, von der Sozial- und Gesundheitspolitik über die Wirtschafts- und Strukturförderung bis hin zu europäischen Fragen ist die Rücksicht auf die besonderen Belange der neuen Länder eine Selbstverständlichkeit. Auch für unsere Fraktion gilt: Der "Aufbau Ost" ist "Chefsache".

Michael Luther, CDU/CSU

Michael Luther

Ein verlorenes Jahr für den Aufbau Ost

Über den Aufbau Ost, seinen Sinn, seinen Nutzen wird seit langer Zeit räsoniert. Weshalb tun wir das eigentlich, weshalb ste-cken wir die schönen Milliarden Deutscher Mark in dieses Fass ohne Boden, fragt sich mancher. Worum geht es also eigentlich? Es geht beim Aufbau Ost um nicht weniger, aber auch nicht mehr als die Beseitigung der teilungsbedingten Lasten der neuen Länder. Es geht um die Beseitigung des schweren Erbes der zweiten deutschen Diktatur, des Erbes des SED-Regimes. Es geht darum, den Menschen in den neuen Ländern eine reelle Chance zu geben, auf eigenen Füßen zu stehen. Auf diesem Weg ist in den vergangenen Jahren sehr viel erreicht worden. Wer heute mit offenen Augen durch die neuen Länder geht, der sieht sie, die blühenden Landschaften, der sieht den Erfolg des Aufbaus Ost. Als ostdeutscher Politiker bin ich dankbar für die große Solidaritätsleistung, die dies alles ermöglicht hat. Aber trotz aller Fortschritte bleibt noch viel zu tun und es liegen noch viele Jahre vor uns, in denen die neuen Länder der Solidarität unseres ganzen Landes bedürfen.

Voraussetzungen für selbst tragende Wirtschaft

Viele Themen verbinden sich mit dem Aufbau Ost, die Priorität ist jedoch klar: Es müssen die Voraussetzungen für eine selbst tragende Wirtschaft weiter ausgebaut werden. Dazu müssen Impulse für den ersten Arbeitsmarkt gesetzt werden, d.h. Investitionen in Wirtschaft und Infrastruktur sind vorrangig, die bislang zu spärlich vorhandene wirtschaftsnahe Forschung muss unterstützt werden. Vor allem aber müssen die Grundlagen für die Ansiedlung und den Ausbau wirtschaftlicher Tätigkeit weiter vorankommen, damit neue und mehr Arbeitsplätze entstehen können. Auch in Zeiten von E-Mail und Internet braucht die Wirtschaft, ob sie Waren produziert oder Dienstleistungen anbietet, eine gute Verkehrsinfrastruktur.

Bei der Wiederherstellung und dem Ausbau der großen Verkehrsadern ist viel geleistet worden, dennoch fehlt es noch an der Erschließung in der Fläche. Wenn man die Hauptverkehrsadern verlässt, kann man sich gerade im ländlichen Bereich oft nur mit 30 km/h fortbewegen. Solange dies so bleibt, haben diese Regionen keine Chance wirtschaftlich voranzukommen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Problematik der Politik der rotgrünen Koalition besonders deutlich. Die neuen Länder brauchen keine Ausweitung des zweiten Arbeitsmarktes. Der erste Arbeitsmarkt muss gestärkt, Voraussetzungen für das Entstehen von Arbeitsplätzen müssen fortentwickelt werden.

Verkehrsinfrastruktur zügig verbessern

Wenn man Verkehrsprojekte wie die A 20, die für die wirtschaftliche Erschließung Mecklenburg-Vorpommerns von essenzieller Bedeutung ist, immer wieder in Frage stellt, wie dies rotgrünes Hobby zu sein scheint, beschädigt man jedes Mal aufs Neue den Wirtschaftsstandort dort. Bei dem in ferne Zukunft verschobenen Ausbau der Bahn-strecke Berlin - Halle/Leipzig - Erfurt, der selbst nach Ansicht des Verkehrsministeriums ohne jede Alternative ist, geht es um die Anbindung der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt an die transeuropäischen Bahnnetze, es geht um die Anbindung des nach Berlin zweitgrößten Verdichtungsraums Ostdeutschlands, Halle/Leipzig, um die Anbindung des einzigen Großflughafens der neuen Länder dort, es geht um Arbeitsplätze für die betroffenen Regionen in den neuen Ländern. Die rotgrüne Koalition unter Gerhard Schröder setzt die falschen Schwerpunkte, die notwendigen Impulse für Unternehmen und Arbeitsplätze fehlen. Ein rotgrünes Jahr ist leider ein verlorenes Jahr für den Aufbau Ost.

Werner Schulz, B'90/DIE GRÜNEN

Werner Schulz

Die Einheit ist auf einem guten Weg

Zehn Jahre nach Beginn der friedlichen Revolution besteht kein Grund dafür, dass die Nation schlechte Laune hat. Allen Miss-tönen und Enttäuschungen zum Trotz ist die Entwicklung für die Deutschen in Ost und West insgesamt sehr erfolgreich verlaufen. Die wirtschaftlichen Erfolge sind beeindru-ckend, die Rechtseinheit ist weitgehend hergestellt. Die soziale Lage ist stabil.

Europa steht am Anfang eines konjunkturellen Aufschwungs, der das Entwick-lungstempo in den neuen Bundesländern wieder beschleunigen wird. Das wird sich auch in verbesserten Arbeitsmarktzahlen niederschlagen.

Aufholprozess erfreulich weit vorangeschritten

Wir haben immer erwartet, dass die wirtschaftliche und soziale Angleichung mindestens eine Generation in Anspruch nehmen würde. Gemessen daran ist der Aufholprozess erfreulich weit vorangeschritten. Aus der Sicht vieler Ostdeutscher geht es zwar zu langsam voran. Aus wirtschaftlicher Sicht jedoch eilen Löhne und Einkommen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit voraus.

Bei der Aufbau-Ost-Forderung stehen Kontinuität und Verlässlichkeit im Vordergrund. Die rotgrüne Koalition setzt zudem neue Akzente. Zum Beispiel mit dem Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit oder dem InnoRegio-Wettbewerb. Außerdem mobilisieren wir die stillen Effizienzreserven in den Förderprogrammen und sorgen für mehr Transparenz und Klarheit. Immer ist die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern von hohen gesamtstaatlichen Transfers abhängig. Künftig geht es aber nicht mehr um eine Pauschalförderung für die neuen Länder. Es gilt, nach und nach die stärker entwickelten Teile der ostdeutschen Wirtschaft dem Markttest auszusetzen. Gleichzeitig müssen die Anstrengungen in den kritischen Bereichen intensiviert und konzentriert werden. Die Regionalförderung muss daher deutlicher auf die schwächeren Regionen ausgerichtet werden.

Sichere finanzielle Basis notwendig

Im Rahmen der anstehenden Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern werden wir die finanziellen Grundlagen für die weitere Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland sichern. Dennoch ist es zweifelhaft, ob einige unserer Bundesländer mit den durchweg größeren Regionen innerhalb der EU mithalten können. Das Scheitern der Fusion von Berlin und Brandenburg kostet nicht nur den Bund Milliarden DM, es verschlechtert auch die Zukunftschancen dieser Länder.

Was die Vergangenheit anbelangt, führen Amnestie- und Schlussstrichdebatten zu nichts. Die juristische Aufarbeitung des DDR-Unrechts ist ohnedies für die Verantwortlichen äußerst glimpflich verlaufen. Es ist gut und wichtig, wo immer dies noch möglich ist, Unrecht zu korrigieren. Ein Schritt in diese Richtung ist die von der Regierung beschlossene verbesserte Entschädigung für ehemalige politische Häftlinge der DDR.

Viele Deutsche sind im vereinigten Deutschland auch nach zehn Jahren noch nicht angekommen. Während sich dies in den neuen Ländern in teilweise drastischer Distanz zur demokratischen und marktwirtschaftlichen Ordnung und im Gefühl, immer noch Bürger zweiter Klasse zu sein, ausdrückt, verbreitet sich unter Westdeutschen eine pauschalisierend ignorante Haltung gegenüber dem Osten. Wir müssen daher den Dialog wieder beleben. In Gesellschaft und Politik ist es besser, miteinander statt übereinander zu reden.

Cornelia Pieper, F.D.P.

Cornelia Pieper

Aufbau Ost ist eine Aufgabe für alle Deutschen

Am 9. November jährte sich der Tag des Mauerfalls zum zehnten Mal, dies bietet einen guten Anlass, wieder einmal zurückzuschauen und einen Ausblick auf die kommenden Jahre zu wagen.

Der Mauerfall war das Ergebnis einer langen Entwicklung. Er war der spektakuläre Erfolg selbstbewusst gewordener Menschen in Ostdeutschland, die ihren politischen Willen in verschiedenen oppositionellen Aktivitäten über Jahrzehnte hinweg immer offener geäußert haben. Hunderttausende fanden sich schließlich zu friedlichen Demonstrationen auf der Straße zusammen, einig im Willen, einer Diktatur das Ende zu bereiten, die den Bürger unter Einsatz ihrer Machtmittel seiner Freiheit beraubte und ihn unterdrückte.

Mut der Ostdeutschen ermöglichte Wiedervereinigung

Bereits 1988 zeichnete sich der politische und wirtschaftliche Bankrott der DDR ab, ein Änderungswille der Regierenden war jedoch nicht erkennbar. So konnte nur der Mut der Ostdeutschen und ihr unbedingter Wille zur Demokratie die Wiedervereinigung Deutschlands möglich machen.

Ziel, und nach Ansicht von uns Liberalen patriotische Pflicht, dieses vereinten Deutschland ist es, die Angleichung der Lebensverhältnisse der Deutschen in Ost und West zu erreichen. Die Anstrengungen beim Aufbau Ost haben in den letzten zehn Jahren zu beachtlichen Erfolgen geführt. Vieles wurde geschafft, aber es bleibt auch noch viel zu erledigen. Ein Indiz dafür ist das im Vergleich zum Westen niedrigere Lohnniveau.

Steuern und Abgaben für Unternehmen senken

Die wichtigste soziale Aufgabe bleibt aber die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dazu müssen die Rahmenbedingungen vor allem für die kleinen und mittleren Betriebe verbessert werden. Sie schaffen 65 Prozent aller Arbeitsplätze und bieten 85 Prozent aller Ausbildungsplätze.

Für die ostdeutschen Unternehmen ist es besonders dringend, dass die Steuer- und Abgabenlast gesenkt wird. Die F.D.P. wirbt deshalb für ein einfaches dreistufiges Steuermodell mit einem Tarif von 15, 25 und 35 Prozent. Mit einer deutlich niedrigeren Steuerbelastung würden endlich neue Arbeitsplätze geschaffen, Steuersenkungen wären somit ein wichtiger Teil des Aufbaus Ost. Das akuteste Problem ostdeutscher Unternehmen ist jedoch nach wie vor ihre schwache Eigenkapitalquote. Schleppende Zahlungseingänge verschärfen die Liquiditätsschwierigkeiten noch. Die Einrichtung von Mahngerichten durch die Bundesländer und ein erhöhter Verzugszins könnten hier die Situation sicherlich erleichtern.

Auch eine bessere Infrastruktur würde den Wirtschaftsstandort "Neue Bundesländer" für Investoren attraktiver machen. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird deshalb beim Ausbau von Bundesstraßen und Schienenwegen noch mehr Druck machen. Die Kürzungen im Bundeshaushalt des Verkehrsministers für das Jahr 2000 bei den Verkehrsprojekten im Osten sind für uns genau das falsche Signal.

Im Jahr 2004 läuft der Solidarpakt aus, dann wird der Aufbau Ost sicherlich noch nicht abgeschlossen sein. Wenn dann das neue Paket geschnürt wird, muss natürlich darüber nachgedacht werden, wie die Förderung gezielter und effizienter gestaltet werden kann. Der Aufbau Ost wird langfristig das wichtigste strategische Ziel des vereinten Deutschland bleiben und damit Aufgabe für alle Deutschen.

Gerhard Jüttemann, PDS

Gerhard Jüttemann, PDS

Einheit war für Ostdeutsche kein Gewinn

Politiker der etablierten Parteien bilanzieren zehn Jahre deutsche Einheit in aller Regel als eine Erfolgsstory mit einigen negativen Momenten. Für Großkonzerne, Banken, Versicherungen und einige andere Einheitsgewinnler mag das auch zutreffen. Allerdings ist für die große Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung genau das Gegenteil richtig.

Treuhand verursachte ökonomische Katastrophe

Die Art und Weise, wie die Treuhand innerhalb weniger Jahre 85 Prozent des produktiven ehemals volkseigenen Vermögens der DDR für einen Apfel und ein Ei verscherbelt hat, hat in Ostdeutschland zu einer ökonomischen Katastrophe in mehrfacher Hinsicht geführt.

Schon im September 1992 waren von den ehemals 840 ostdeutschen industriellen Großbetrieben mit über 1.000 Beschäftigten nur noch 117 erhalten, inzwischen sind es noch weniger. Außerdem handelt es sich mit einer einzigen Ausnahme (Jenoptik) bei sämtlichen verbliebenen Großbetrieben lediglich um Filialen westdeutscher und ausländischer Konzerne.

Die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland ist mit 17,2 Prozent fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland, und sie ist weiter im Ansteigen begriffen.

Das Bruttoinlandsprodukt wächst zwar zaghaft, aber es wächst nach 1997 und 1998 inzwischen in Westdeutschland wieder schneller als im Osten, was verheerende Auswirkungen auf die Perspektive der Angleichung der Lebensverhältnisse hat.

Es können hier auch nicht annähernd alle für Ostdeutschland geradezu existenziellen Defizite bei der Herstellung der deutschen Einheit aufgezählt werden. Erinnert sei nur noch an die um ca. 15 Prozent geringeren Nettolöhne bei 100 Prozent (und darüber) der Preise oder an die dauerhafte Abhängigkeit Ostdeutschlands von westdeutschen Finanztransfers.

Und noch etwas prägt den Widerspruch, das Thomas Koch vom Brandenburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien in einer Studie so formuliert hat: "Zwischen Kap Arkona und Fichtelberg, Oder und Werra ist seit 1989/90 ein regionales sozialökonomisches Verhältnis entstanden, bei dem sich Ost- und Westdeutsche auf allen Ebenen ungleich gegenüberstehen: Westdeutsche Kapitaleigner und ostdeutsche Lohnabhängige; westdeutsche Immobilieneigentümer und ostdeutsche Mieter und Pächter, westdeutsche Investoren und ostdeutsche Schuldner, ostdeutsche Selbstständige und westdeutsche Banken sowie westdeutsche Handelsketten. Hinzu kommt, dass vielerorts westdeutsche Vorgesetzte Ost-Mitarbeitern begegnen und in den Medien generell nur Westdeutsche die Richtung vorgeben."

Das Schlimmste an diesen Tatsachen ist ihre strukturelle Verfasstheit. Das heißt, ändert sich die seit zehn Jahren betriebene Politik nicht, wird die beschriebene Teilung Deutschlands immer größer werden statt kleiner. Von einer solchen Politik, die die Ursachen der sich immer weiter verfestigenden inneren Spaltung Deutschlands bekämpfen würde, ist nichts zu sehen.

Angleichung von Ost und West ermöglichen

Was nötig wäre, ist ein Paradigmenwechsel. Die PDS hat ihn in ihrem Antrag "Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse und zur Herstellung von mehr Rechtssicherheit in Ostdeutschland - ,Chefsache Ost'" (Bundestagsdrucksache 14/1277) beschrieben: ein Pilotprojekt Ost, das eine Angleichung von Ost und West in völlig neuer Qualität ermöglicht. Denn eines ist klar: Der wirtschaftliche Niedergang in Ostdeutschland und der mit ihm verbundene Sozial- und Demokratieabbau bleibt auch in Westdeutschland nicht ohne Folgen. Sie ließen sich vermeiden, wenn Ostdeutschland zu einem Experimentierfeld für etwas völlig Neues würde: für soziale, politische und kulturelle Innovation in ganz Deutschland.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9910/9910012
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion