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Das Parlament
Nr. 47 / 15.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Andrea Strunk

"Man soll die Schuldigen finden, damit die Toten endlich zur Ruhe kommen"

Die Eltern von Beslan fragen noch immer nach dem Warum des Terrors
Auch nach dem Ende der 40-tägigen Trauerzeit steht die nordossetische Stadt Beslan weiter unter Schock. Die Schule Nummer 1, Ort des Terroranschlags, ist zu einer Pilgerstätte für die Bewohner aus dem ganzen Land geworden. Täglich kommen Schulklassen und Busladungen voller Menschen, um mit den Eltern zu trauern, die dort beten und weinen, wo man die Leichen ihrer Kinder gefunden hat. Mit bleichen Gesichtern wandern die Menschen durch die zerstörten Räume und brechen beim Anblick der halbverbrannten Schuhe, Turnbeutel und brennenden Kerzen wieder und wieder in Tränen aus.

Jenseits des Weinens aber wird der Ruf nach Rache laut. Je weniger Antworten es auf die Frage nach Hintergründen und Urheberschaft des Terrors gibt, desto mehr Hasardeure finden sich unter den jungen Männern, die das Recht in die eigene Hand nehmen und es den Inguschen, die man in Ossetien als wahre Schuldige ausgemacht hat, heimzahlen wollen. Gleich nach der Geiselnahme hatten Osseten in der Landeshauptstadt Wladikawkas für eine Ausweisung aller in Ossetien lebenden Inguschen demonstriert. Seitdem hat die russische Menschenrechtsorganisation Memorial Fälle von brutalen Übergriffen auf Inguschen dokumentiert, "als Rache für Beslan".

Die örtlichen Medien tragen zur Völkerhetze bei. Kein Tag, an dem es in russischen und kaukasischen Zeitungen nicht neue Meldungen über die "geplante Blutrache" erscheinen. Da sich unter den 33 Terroristen neun Inguschen befanden, steht für die Osseten fest, dass der Terrorangriff nur Rache war: für den Bürgerkrieg, den es 1992 mit Inguschetien gab, und für die inguschische Region Progorodnij, die Stalin den Osseten gab, als er die Inguschen in die Verbannung schickte. Auch nach der Auflösung der UdSSR erhielten die Inguschen ihr Land nicht zurück.

An die russische Version eines von Al Qaida unterstützten Terrorangriffs auf Russland jedenfalls scheint in Beslan niemand zu glauben, und keine von den Geiseln hat unter den Angreifern Araber gesehen, schon gar nicht den "Neger", den die Spezialeinheiten erschossen haben wollen. Zwar bezweifeln Experten, dass Ossetien die militärische Schlagkraft für einen neuen Krieg gegen das Nachbarland Inguschetien hätte, doch ethnische Animositäten sind seit dem Terrorakt wieder Teil der politischen Linie.

Verzweiflung und Ratlosigkeit bestimmen weiterhin das Leben in Beslan. Die Hinterbliebenen und überlebenden Opfer fühlen sich von der russischen Regierung allein gelassen. Spendengelder sind nicht angekommen, psychologische Hilfe erhalten die wenigsten. Mit Lügen und Halbwahrheiten spielt die russische Regierung das Ausmaß der Katastrophe herunter. Wo Licht im Dunkeln das Leid der Eltern mindern könnte, gibt es nur Gerüchte. Die offizielle Todeszahl liegt seit der vergangenen Woche bei 344. Die Einwohner von Beslan dagegen berufen sich auf die Zählung einer aus Lehrern bestehenden Kommission, der zufolge 400 Kinder und fast 200 Erwachsene getötet wurden.

Für so viele Tote gibt es keinen Platz auf dem Friedhof von Beslan. Die Opfer des Terrorakts hat man auf einem steinigen Acker daneben begraben müssen, wo Bauarbeiter erst in der letzten Trauerwoche Marmorsteinen als Begrenzung setzten und Wege zwischen den Gräberreihen anlegten.

Noch am letzten Wochenende der Trauerzeit gab es 23 Beerdigungen, eine davon die der 14-jährigen Dsara Totiewa. Sie war das sechste Kind, das die Familie Totiew begrub. Eine DNA-Analyse hatte ihre und die Identität anderer Toter klären können, deren Körper von Bomben zerfetzt oder von Flammen verstümmelt worden waren. Von anderen Kindern - angeblich 76, aber niemand scheint in der Lage zu sein, eine genaue Zahl zu nennen - fehlt jede Spur. Täglich beendet das ossetische Fernsehen seine Nachrichtensendungen mit Fotos dieser Kinder und bittet um Hinweise über ihren Verbleib. Die verzweifelten Familien klammern sich an Gerüchte, nach denen entflohene Terroristen auf dem Rückzug die Kinder als Geiseln mitgenommen haben. Das ossetische Innenministerium verneint dies auf Anfrage, doch auch diese Auskunft muss nicht wahr sein. Alle vermissten Kinder seien tot, heißt es. Eine Erklärung, warum es keine Überreste dieser Kinder gibt, bleibt aus. Ein Mitglied der Totiew-Familie glaubt die Antwort zu kennen: Beim Sturm auf die Schule hätten die Spezialeinheiten Flammenwerfer eingesetzt. "Von unseren Kindern ist nicht einmal Asche geblieben."

Seine Anschuldigung ist Teil einer anderen Frage, die sich die Einwohner von Beslan stellen. War der Sturm auf die Schule doch eine rücksichtslose und geplante Aktion, haben die Verantwortlichen das Leben der Geiseln fahrlässig aufs Spiel gesetzt? Vieles spricht dafür. Pawel Felgenhauer, unabhängiger Militärexperte in Moskau, kam nach einem Besuch in Beslan zu dem Schluss, die Spezialeinheiten hätten sich auf eine Befreiung vorbereitet, wenn auch schlecht. Ein Militärhubschrauber sei bereits nach 17 Minuten über der Schule gewesen, obwohl er eigentlich 30 Minuten benötigen würde, um überhaupt warmzulaufen.

Schwere Waffen eingesetzt

Auch die von der Duma eingesetzte Untersuchungskommission hat Hinweise auf Vorbereitungen gefunden und den Einsatz schwerer Waffen festgestellt. Schon am 2. September seien Panzer und Panzerfahrzeuge in die Umgebung der Schule gebracht worden. Außerdem seien Strahlrohr-Behälter von Flammenwerfern (russische Shmel, auch bumblebee genannt und nach der Genfer Konvention in bewohnten Gebieten mit Zivilbevölkerung verboten) auf dem Dach des der Schule gegenüberliegenden Gebäudes gefunden worden. Wladimir Chabalow, Chirurg am Kinderkrankenhaus im ossetischen Wladikawkas, berichtet von schweren Brandverletzungen bei einigen der Opfer. Man muss kein Experte sein, um sich an der Schule von Beslan den stundenlangen Kampf vorstellen zu können, den das russische Militär, zu allem bereite Eltern und Terroristen sich dort lieferten. Intakt ist kein Fenster, keine Wand mehr. Mauern sind zur Hälfte weggeschossen, in den Klassenzimmern liegen Hefte, Bücher, und Blumenkästen; im Raum neben der Turnhalle, den die Terroristen als Gebetsraum nutzten, verkohlte Turnbeutel, verwaiste Schuhe, Kleidungsfetzen, draußen auf dem Schulhof Patronenhülsen.

In den Mietsblocks, die in direkter Nachbarschaft der Schule liegen, wird renoviert. Auch dort hat der Schusswechsel Schäden an den Innen- und Außenwänden hinterlassen. Jede Familie, die in diesen Gebäuden wohnt, hat mindesten ein Mitglied verloren. Mit versteinerten Gesichtern sitzen die Mütter in den Zimmern. Sie legen Beileidsgästen Foto um Foto ihrer Kinder vor und stoßen in Abständen lange Seufzer aus, als könnten sie damit die Felsen von ihrem Herzen wälzen. Die Männer stehen mit düsterem Blick im Hof, wo bis vor ein paar Wochen noch die Kinder spielten. Jetzt herrscht gespenstische Stille. "Hier gibt es keine Kinder mehr. 34 aus unserem Haus sind tot", erzählt ein Vater, dessen Zehnjährige Tochter Alena ebenfalls unter den Opfern ist. Als Alena noch lebte, sagt er, habe auch er an Frieden mit den Nachbarn und an Menschlichkeit geglaubt. Nun aber sei alles in ihm zerstört. "Schreiben Sie, die Inguschen sind gekommen und haben unsere Kinder getötet", sagt er.

So verständlich es ist, dass die Bewohner von Bes-lan in ihrem Leid nach einfachen Antworten suchen, so falsch könnten sie mit den Schuldzuweisungen liegen. Vor einer Woche tauchte im Internet der Brief einer Frau auf, die behauptet, sie sei unter den Geiseln gewesen und habe mit einer der weiblichen Attentäterinnen gesprochen, bevor diese von ihren Mitangreifern fern gezündet in die Luft gesprengt wurde. Die Attentäterin, so berichtet die Geisel, habe erzählt, sie sei Tschetschenin und habe im Gefängnis gesessen, weil ihr Bruder ein Widerstandskämpfer sei. Eines Tages sei sie von einer Russin angeworben worden, eine Schule zu überfallen. Präsident Putin, so lockte sie die Russin, wolle den Tschetschenienkrieg beenden, ohne sein Gesicht zu verlieren. Wenn Kinder als Geiseln genommen würden, könne er humanitäre Gründe für einen Rückzug der russischen Truppen vortäuschen.

Über die Authentizität dieses Briefes ist nichts bekannt. Andere Geiseln wie Semfira S. die ihren Nachnamen nicht nennen will, berichten, die Terroristen hätten viel telefoniert und nach den Telefonaten immer wieder gesagt, man habe ihnen eine Falle gestellt. Offenbar waren sie auch nicht darüber informiert, in welcher Stadt sie sich befanden, sie hätten geglaubt, in Waldikawkas, der ossetischen Hauptstadt, zu sein. Nach einem Treffen mit dem inguschischen Ex-Präsidenten Auschew, so die Geiseln, seien die Terroristen in Panik geraten. "Sie haben herum geschrien, jetzt müssten wir alle zusammen sterben", sagt Semfira S.

Trotz aller Vermutungen formt sich aus den Aussagen der Geiseln und den ersten Untersuchungsergebnissen ein Bild der Täter. Postume Blutuntersuchungen ergaben, dass die Männer erhebliche Mengen an Drogen konsumierten, offenbar nicht nur während des Angriffs, sondern über Jahre. Außerdem haben fast alle Attentäter eine kriminelle Vergangenheit. Aber war es so: Drogenabhängige Verbrecher werden für Geld angeheuert, eine Schule zu überfallen? Man schiebt ihnen ein paar Forderungen unter, die so utopisch sind, dass sie nicht erfüllt werden können? Außerdem lügt man ihnen einen freien Abzug vor?

Die hohe Zahl inguschischer Angreifer zeigt, dass ethnische Vorurteile instrumentalisiert wurden, um die moralische Hemmschwelle zu senken und einen perfiden Angriff auf Kinder zu rechtfertigen. Am Ende brennt der Kaukasus, und jene, die vom Krieg leben, reiben sich die Hände? Vor der Schule Nummer 1 wachen seit dem Attentat russische Soldaten, die selber noch wie Kinder aussehen. Er fürchte sich entsetzlich, sagt ein junger Gefreiter. Jede Nacht sähe er eine Frau mit einem Kind auf dem Arm über den Schulhof gehen. "Und dann höre ich viele Kinder weinen. Ich hoffe, man findet die Schuldigen bald, damit die Toten hier zur Ruhe kommen."

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