Bundestagspräsident Thierse eröffnete Ausstellung "Anwalt ohne Recht": "Signal gegen Entrechtung, Ausgrenzung und Verfolgung"
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hielt heute zur
Eröffnung der Wanderausstellung "Anwalt ohne Recht -
Schicksale jüdischer Anwälte in Deutschland nach 1933"im
Paul-Löbe-Haus folgende Rede:
"Der Titel dieser Ausstellung klingt zunächst wie ein
Widerspruch in sich. "Anwalt ohne Recht" - wie kann derjenige, der
anderen zu ihrem Recht verhelfen, sie vor Willkür
schützen soll, selbst rechtlos sein? Dennoch hat es sie
gegeben, die Anwälte ohne Recht - zu einer Zeit, als in
unserem Lande die Menschenrechte und die Menschenwürde mit
Füßen getreten wurden. Diese Ausstellung erinnert an
eine Berufsgruppe, deren Schicksal unter der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft lange Zeit kaum Beachtung
gefunden hat: die jüdischen Rechtsanwälte.
Schon im Kaiserreich waren es die freien Berufe gewesen, die von
Deutschen jüdischen Glaubens bevorzugt ergriffen wurden. Diese
Entwicklung setzte sich auch in der Zeit der Weimarer Republik
fort. So war Anfang 1933 unter den fast 20.000 Rechtsanwälten
in Deutschland ein beträchtlicher Anteil jüdischer
Juristen vertreten. Hier in Berlin waren es fast 60%. Diese
Rechtsanwälte gehörten zu den ersten, die die
Auswirkungen des nationalsozialistischen Rassenwahns zu spüren
bekamen. Am 07. April 1933 erließen die neuen Machthaber das
"Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" und das
"Gesetz über die Zulassung jüdischer Rechtsanwälte".
Beide Unrechts-Gesetze stellten den formalrechtlichen Rahmen
für alle Maßnahmen dar, mit denen in der Folge die
jüdischen Juristen aus ihren Berufen verdrängt, des
Lebensunterhaltes für sich und ihre Familien beraubt
wurden.
Doch zeichnete sich bereits im Frühjahr 1933 noch Schlimmeres
ab. In verschiedenen deutschen Städten wurden jüdische
Juristen bedroht, drangsaliert und öffentlich gedemütigt.
So kam es bereits am 11. März in Breslau zu physischer Gewalt
durch die SA gegen Richter und Rechtsanwälte. In Oels,
Gleiwitz, Görlitz und Königsberg wurden
Gerichtsgebäude besetzt. In Köln - man muss sich das
einmal bildhaft vorstellen - wurden am 31. März jüdische
Rechtsanwälte in Müllwagen durch die Stadt gefahren. Ein
bedrückendes Foto aus diesen Tagen zeigt einen Münchener
Anwalt, der sich über die unrechtmäßige
Inhaftierung eines Mandanten beschwert hatte. Er wurde barfuß
und mit abgeschnittenen Hosen durch die Straßen geführt,
um den Hals ein Schild gehängt, auf dem zu lesen war: "Ich
werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren." Anwälte ohne
Recht - in der Tat!
Was sagten die Anwaltskammern, immerhin die Standesorganisationen
des Berufes, zu diesen entwürdigenden Vorfällen? Sie
sagten - nichts. Es gab kaum Proteste und Widerspruch von den
nicht-jüdischen Kollegen. Nicht wenige von ihnen haben sogar
von der Verdrängung der Konkurrenten profitiert. Und wenn sich
die Kammern nicht freiwillig "gleichschalten" ließen, wurden
sie unter Androhung von Gewalt dazu gebracht. Die nunmehr von den
Nationalsozialisten kontrollierten Anwaltskammern erließen
sogleich neue Standesregeln wie das Sozietätsverbot von
jüdischen und nicht-jüdischen Rechtsanwälten, das
Verbot, jüdische Rechtsanwälte, die ihre
eigenständige Zulassung verloren hatten, als Angestellte zu
beschäftigen sowie das Verbot, jüdische Kanzleien zu
kaufen bzw. zu verkaufen. In den neu herausgegebenen
Rechtsanwaltsverzeichnissen
tauchten die Namen der jüdischen Rechtsanwälte gar nicht
mehr auf. Auch alle Rechtskandidaten und Rechtsreferendare durften
ihre Ausbildung nicht beenden.
Im September 1938 wurde dann den letzten jüdischen
Rechtsanwälten, insgesamt nur noch 1753, die Zulassung
entzogen. Lediglich 173 Personen erhielten eine neue Zulassung -
nicht mehr als Rechtsanwalt, sondern als so genannter "Konsulent".
Aber die Lingua Tertii Imperii hat einen noch entlarvenderen
Ausdruck hervorgebracht. Das Reichsgericht stellte in einem Urteil
einen jüdischen Deutschen rechtlos, indem es ihm die
Eigenschaften eines eigenständigen Rechtssubjektes absprach
und dies mit einer Rechtsfigur des angeblich eingetretenen
"bürgerlichen Todes" begründete - ein ungewollt
verräterischer Ausdruck. Schließlich folgte der
völligen Entrechtung, dem aktenmäßig vollzogenen
"bürgerlichen Tod" in vielen Fällen der physische Tod,
die Ermordung. Theresienstadt, Auschwitz und andere
Vernichtungslager sind mit dieser furchtbaren Unrechts - Justiz
untrennbar verbunden.
Es hat über fünfzig Jahre gedauert - viel zu lange - bis
die Standesvertretung der Rechtsanwälte das Schicksal ihrer
jüdischen Kolleginnen und Kollegen in der NS-Zeit in den Blick
gerückt, ihrer Entrechtung, Verfolgung, ihres Leides gedacht
hat. Sie, Herr Dombeck, haben offen von der "Scham über das
(...) Versagen" Ihrer Standesorganisation gesprochen - und sich
für die Aufarbeitung des Geschehenen eingesetzt. Aus
historischen Untersuchungen und einer ersten Ausstellung über
jüdische Anwälte in Berlin ist diese Wanderausstellung
der Bundesrechtsanwaltskammer und des Deutschen Juristentages
über das Schicksal jüdischer Anwälte in Deutschland
nach 1933 hervorgegangen. Seit September 2000 ist sie in
zahlreichen deutschen Städten zu sehen und hat viel Interesse
gefunden. Die umsichtig ausgewählten Bild- und Wortdokumente
lassen das Grauen des Rassenwahns konkret werden. Die
sorgfältig rekonstruierten Biographien machen das Schicksal
einzelner Anwältinnen und Anwälte sichtbar. Diese
Ausstellung will den vertriebenen und ermordeten jüdischen
Anwälten wenigstens posthum einen Teil ihrer Würde
zurückgeben, die ihnen ein menschenverachtendes Regime mit
allen Mitteln zu nehmen versuchte.
Ich bin froh darüber, dass diese Wanderausstellung nun im
Deutschen Bundestag zu sehen ist, an einem zentralen Ort unserer
parlamentarischen Demokratie, die sich in Artikel 1 Absatz 1
unseres Grundgesetzes der Unantastbarkeit der Würde jedes
Menschen verpflichtet hat. Diese unveräußerliche
Würde jedes Menschen muss immer wieder aufs Neue
geschützt, der demokratische Rechtsstaat heute und morgen
gegen seine Feinde verteidigt werden. Die historische Ausstellung
"Anwalt ohne Recht" setzt deshalb zugleich ein Signal gegen jede
Form der Entrechtung, Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen - bei
uns und anderswo. Die Lebens- und Leidensgeschichten, die diese
Exponate erzählen, rütteln auf, erinnern eindringlich an
die Verantwortung jedes Einzelnen von uns.
Berufs- und Standesorganisationen dürfen nicht schweigen, wenn
ihre Mitglieder diskriminiert werden. Aufgabe von Justiz und
Politik ist es, zu verhindern, dass unser Rechtssystem jemals
wieder zu Unrecht pervertiert werden kann. Und natürlich
fordert die Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel unserer
Geschichte alle Demokraten auf, schon den Anfängen von
Ausgrenzungen und Stigmatisierungen in unserer Gesellschaft
entgegenzuwirken - wo immer sie sich zeigen und gegen wen auch
immer sie gerichtet sind: Andersdenkende, Andersgläubige,
Anderslebende. Wachsam zu sein und bereits den Anfängen zu
wehren - dazu vor allem ruft diese Ausstellung auf. Ich
wünsche ihr viele Besucherinnen und Besucher."
Die Ausstellung kann bis zum 14. Februar 2003 zu den
regulären Bürozeiten der Bundestagsverwaltung (Montag von
8.00 Uhr bis 16.00 Uhr, Dienstag bis Donnerstag von 8.00 Uhr bis
17.00 Uhr und Freitag von 8.00 Uhr bis 14.00 Uhr) im
Paul-Löbe-Haus, Konrad-Adenauer-Straße 1, besucht
werden.
Für weitere Fragen steht die Verwaltung des Deutschen
Bundestages, das Referat PI 5, unter der Rufnummer 030/227 32140
zur Verfügung. Dort können auch per e-mail Bilder von der
Ausstellung angefordert werden
vorzimmer.pi5@bundestag.de.
7.659 Zeichen