Bundestagspräsident Thierse zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
Sperrfrist: 27.1.2003, 14.00 Uhr
Es gilt das gesprochene Wort!
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
hält bei der heutigen Veranstaltung im Deutschen Bundestag zum
Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalso-zialismus folgende
Ansprache (Plenarsaal, 14.00 Uhr):
I.
Die Toten - "was brauchen sie?", so fragt eine junge Frau in Jorge
Semprúns Roman "Die große Reise".
Gérard, der Erzähler, antwortet: Sie brauchen "einen
reinen, brüderlichen Blick und unser Gedenken".
Der 27. Januar ist unser nationaler Gedenktag. Es ist der Tag, an
dem 1945 Auschwitz befreit wurde. Auschwitz steht nicht allein. Es
gab viele andere Lager, in denen Menschen gequält und ermordet
wurden - Treblinka, Buchenwald, Mauthausen, Dachau,
Ravensbrück, Neuengamme und viele andere.
Mehr als diese aber ist Auschwitz Synonym geworden für
Rassenwahn, Menschenverachtung, Terror und Massenmord im
nationalsozialistischen Deutschland. Deshalb gedenken wir heute, an
dem Tag, an dem Auschwitz befreit wurde, aller Opfer des
Nationalsozialismus; aller, die unter der Tyrannei eines
barbarischen Regimes gelitten haben, die ihr Hab und Gut, ihre
Gesundheit, ihr Leben verloren haben.
II.
Immer wieder und noch immer fragen wir uns: Wie hat es geschehen
können? Warum ging damals der Maßstab für Recht und
Unrecht verloren? Wie war es möglich, dass die Fähigkeit
zu fühlen und mitzufühlen bei so vielen abhanden
kam?
Die Aufbegehrenden, die Couragierten, die Widerstand Leistenden,
sie waren eine Minderheit. Gleichwohl gab es sie. Es stimmt eben
nicht, dass jede Form von Hilfe und Beistand für Juden und
andere Opfer des NS-Terrors unmöglich gewesen wäre. Viele
kennen die Namen von Raoul Wallenberg, Oskar Schindler, Dimiter
Peshev oder Nicolas Winton. Männer, die mit mutiger
Unerschrockenheit Juden vor dem sicheren Tod retteten.
Wenige aber wissen von den Frauen und Männern, die im Alltag
Courage gezeigt haben: Die Bedrängten in einem unbeobachteten
Moment ein Stück Brot zusteckten, die Verfolgten ein
Nachtquartier boten oder ihnen dabei halfen, aus Deutschland
herauszukommen. Es waren Menschen, die nicht weggeschaut haben, die
aus Überzeugung geholfen haben, weil das Gebot zu Hilfe und
Mitmenschlichkeit immer gilt.
Genau 50 Jahre ist es her, dass die Knesset den Beschluss fasste,
mit Yad Vashem in Jerusalem einen Ort der Erinnerung an den
Holocaust zu schaffen ? und einen Ort, an dem auch derer in
Dankbarkeit gedacht wird, die mit persönlichem Einsatz
versuchten, Juden zu retten. 400 Deutschen hat Yad Vashem bislang
den Ehrentitel "Gerechte/r unter den Völkern" verliehen.
Vierhundert ? das sind wenige angesichts der riesigen Zahl derer,
die weggeschaut oder mitgemacht haben. Aber wir sehen ? so denke
ich ? in diesen wenigen unsere ganz besonderen Vorbilder.
III.
Theodor Adorno hat vor Jahrzehnten gesagt, es sei unmöglich,
nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Doch das war ein Irrtum ?
man muss wohl sagen: "Zum Glück". Denn was wäre imstande,
das Unvorstellbare, das Unbeschreibliche auszusprechen oder
wenigstens anzudeuten, wenn nicht die Literatur ? ja, die Kunst
überhaupt.
Sicher ? wir haben die Archive und die Bibliotheken. Sie
dokumentieren die Barbarei des Holocaust. Aber erzeugen Akten
über nach Millionen zählende Opfer Empathie? Lassen
Statistiken mitfühlen? So wichtig die wissenschaftliche
Aufarbeitung des Holocaust ist, mindestens ebenso wichtig ist die
künstlerische Auseinandersetzung. Und sie wird mit wachsendem
zeitlichem Abstand vom Geschehen eher noch wichtiger. Denn die
emotionale Dimension der Vermittlung ist genauso notwendig wie das
Lernen von Fakten.
Autoren, Komponisten, Maler, Regisseure lassen uns nachvollziehen,
nacherleben, was sie selbst durchlitten haben oder was anderen
Ungeheuerliches widerfahren ist. In der künstlerischen
Verdichtung geht es darum, das Unfassbare fühlbar zu machen ?
gerade für diejenigen, die diese Zeit nicht miterlebt
haben.
Es ist gut zu erleben, dass junge Menschen in Gedichten und Prosa
Zugang zur Erfahrung des Holocaust suchen. Ich danke den Berliner
Schülerinnen und Schülern, die uns heute das Ergebnis
ihrer Annäherung an das Geschehen präsentieren. Und das
in beeindruckender Weise, wie ich bereits nach dem ersten Text
empfinde.
Die Hölle des Konzentrationslagers in Worte zu fassen, ist
wenigen so gelungen wie Jorge Semprún. Seine Werke sind
ergreifende Zeugnisse selbst durchlittener Barbarei auf dem
Terrorgelände des Ettersberges. Es sind Texte, die zu den
erschütterndsten ihrer Art gehören. Wir sind dankbar
dafür, Sie, sehr verehrter Herr Semprún, heute, an
diesem Tag des Gedenkens, bei uns zu wissen.
IV.
Neben dem Jahrestag der Gründung von Yad Vashem vor 50 Jahren
erinnern wir uns im Jahr 2003 an ein weiteres Ereignis, das sich
jährt. Wir Deutsche ? und dabei meine ich besonders auch uns
Parlamentarier ? können in keiner Weise stolz auf diesen
Jahrestag sein. Am 23. März werden genau 70 Jahre vergangen
sein, dass sich Hitler mit dem sogenannten
"Ermächtigungsgesetz" von allen Bindungen an die Verfassung
und an die parlamentarische Kontrolle befreite. Das Bittere: 444
Abgeordnete stimmten für die eigene Ausschaltung, nur die 94
anwesenden SPD-Abgeordneten stimmten dagegen. Die KPD-Abgeordneten
waren bereits verhaftet oder im Untergrund. Der 23. März 1933
ist ein schamvolles Datum für den Parlamentarismus in
Deutschland. Heute wissen wir: Dass Auschwitz möglich werden
konnte, hat auch etwas damit zu tun, dass die Demokraten in der
Weimarer Republik das Feld ihren Gegnern überlassen
haben.
Lernen wir daraus, dass wir gegenüber den Feinden unserer
Demokratie niemals zurückweichen dürfen. Ziehen wir
für uns die richtigen Schlüsse für Gegenwart und
Zukunft:
Wir wollen eine Gesellschaft, die von gegenseitiger Anerkennung,
Toleranz und Respekt geprägt ist;
- eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung und Abgrenzung;
- eine Gesellschaft, in der jeder ohne Angst verschieden sein
kann;
- eine Gesellschaft, die auch in der Sprache bewusst mit der
Vergangenheit umgeht. Vergleiche zwischen heute und der NS-Zeit ?
wie sie sich in der politischen Diskussion in letzter Zeit
gehäuft haben ? sind deshalb unerträglich. Weil sie die
Opfer der NS-Diktatur verhöhnen.
Wir hören es immer wieder, wir glauben es zu wissen, und doch
dürfen wir nicht müde werden es zu betonen: Demokratie,
Toleranz und Humanität sind keine selbstverständlichen
Gewissheiten, sondern setzen das fortdauernde Engagement jedes
einzelnen voraus.
V.
Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész,
der Auschwitz überlebt hat, formulierte: "Der Holocaust ist
ein Zustand, der noch nicht zu Ende ist. Ich spüre ihn
überall. Es gab bisher keine Katharsis. Den Holocaust kann man
nicht verarbeiten."
Ich füge hinzu: Man kann, man muss die notwendigen, die
richtigen Konsequenzen ziehen. Am heutigen Tag wird der
Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der
Juden in Deutschland unterzeichnet. Paul Spiegel nennt das "ein
historisches Ereignis". Und mit den Worten von Michel Friedman sage
ich dankbar: "Es gibt eine Brücke über die Vernichtung,
eine Brücke in die gemeinsame Zukunft."
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