Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, beim Ökumenischen Kirchentag am 29.05.2003 in Berlin
Neue Perspektiven für die
Demokratie
Es ist noch nicht sehr lange her, dass ein ehrgeiziger junger
US-Amerikaner "das Ende der Geschichte" gekommen sah und damit
weltweit Aufsehen erregte. Das war nicht etwa ein Hinweis auf die
bevorstehende Apokalypse, sondern es war die überschwengliche
Schlussfolgerung aus dem offenbaren Sieg des Westens im Ost-West
Konflikt. Er sprach von der "völligen Erschöpfung aller
Alternativen" und sah das "Ende der ideologischen Entwicklung der
Menschheit" im "Triumph des wirtschaftlichen und politischen
Liberalismus" besiegelt. Die Demokratie trete nun ihren Siegeszug
über die Welt an. Die Welt vollende gleichsam den langen Weg
ihrer zivilisatorischen Entwicklung.
Diese Perspektive für die Demokratie schien vor mehr als einem
Jahrzehnt nicht nur Enthusiasten greifbar nahe. Nicht zuletzt wir
in Deutschland haben sie in den Monaten des demokratischen
Aufbruchs und Wandels im Osten genährt und gehegt. Sie
entsprach unserer Begeisterung und unserem Empfinden für die
glückliche Wendung der deutschen Geschichte.
Diese Geschichte - "Der lange Weg Deutschlands nach Westen", von
dem der Historiker Heinrich-August Winkler spricht - war mit der
deutschen Vereinigung auf der Grundlage einer demokratischen
Verfassung und an der Seite der westlichen Demokratien
abgeschlossen.
Ich selbst empfinde auch 13 Jahre nach der Einheit immer noch ein
Glücksgefühl darüber. Wir sind jetzt in Europa von
demokratischen Staaten umgeben, von Nachbarn, denen wir
freundschaftlich verbunden sind, gewissermaßen umzingelt.
Deutsche Geschichte ist endlich einmal gut gegangen.
Das gilt übrigens nicht nur für Deutschland. Das letzte
Jahrzehnt stand auch im Zeichen der Gründungen von
Demokratien. In Mittel- und Osteuropa sind die meisten Länder
bald neue EU-Mitgliedsstaaten. Südafrika und Namibia, die
früheren Apartheidstaaten, sind gleichfalls Demokratien
geworden. Südkorea will ich erwähnen, aber auch eine
Reihe weiterer afrikanischer Staaten sind auf gutem Wege. In
Russland und einigen GUS-Staaten vollzieht sich nach vielen
Schwierigkeiten die Transformation in wirkliche Demokratien und
selbst im Iran gibt es einen verbreiteten Willen zur demokratischen
Teilhabe. Wer wollte bestreiten, dass die Demokratie als eine
mächtige, weltumfassende Perspektive für die Völker
wirkt und lebendig ist?
Inzwischen ist aber trotzdem die Euphorie der Ernüchterung
gewichen. Nicht nur der berechtigte Zweifel an der These, dass die
Geschichte bereits an ihrem guten Ende angekommen sei, hat sich
bestätigt. Enttäuschung, Skepsis, ja fundamentale Kritik
an dem eingeschlagenen Weg machen sich breit. Die Kritik an den
Folgen einer allein nach den Gesetzen des Marktes vorangetriebenen
Globalisierung wächst. Der Westen mit seiner Übermacht
USA mag als Sieger übrig geblieben sein, aber hat nicht
gewonnen. Vielmehr wird offensichtlich, dass daraus eine neue
Verantwortung für die Welt wächst, der wir noch
längst nicht nachkommen. Wir streiten über Krieg und
Frieden, über die Prinzipien einer Friedensordnung in der Welt
und über die Methoden, wie der Demokratie überall zum
Durchbruch verholfen werden kann.
Die Demokratie ist gewiss eine der vornehmsten Ziele, für die
es sich in der Welt zu engagieren lohnt. Aber wir tun recht daran,
vor missionarischem Eifer zu warnen: Freiheit von Diktatur,
bedeutet noch nicht Freiheit für Demokratie. Die Emanzipation
aus Unterdrückung und Unterentwicklung kann keinem Volk von
anderen abgenommen werden.
Demokratie fällt ebenso wenig vom Himmel, wie sie einfach aus
den Gewehrläufen wächst - auch nicht im Irak. Wir werden
- wo immer das geschieht - das Ende jeder Diktatur
begrüßen: Doch ob ein Krieg den Weg zur Demokratie ebnen
wird, entscheidet sich erst im Frieden. Lassen wir uns deshalb
nicht irritieren: Demokratie lässt sich nicht auf Gewalt
gründen. Wer immer zur Gewalt greift, nimmt eine schwere
Verantwortung auf sich und steht überdies in der Versuchung,
die Opfer als Mittel zum Zweck zu erklären.
Das gilt in jedem Falle: für den Irak, wie für
Afghanistan, auf der anderen Seite aber auch für
Palästina und Tschetschenien, wo Bomben im Namen der
Selbstbestimmung töten. Und es galt auch für Nordirland,
das Baskenland und das ehemalige Jugoslawien wo im Namen der
nationalen Unabhängigkeit Unschuldige starben. Selbst wo sich
Unterdrückte gegen die Unterdrücker aus dem eigenen Volk
mit Waffengewalt erheben, ist mit dem Sieg noch nichts bewiesen.
Die schwierigste Aufgabe beginnt erst, wenn es gilt, an die Stelle
der Gewalt Verhältnisse zu setzen, die auf Gewaltverzicht und
Gewaltenteilung beruhen.
Insofern ist jeder gewaltsame Regimewechsel eine schwere Hypothek
für den Prozess der Demokratisierung. Erst wenn die Wunden
vernarben, wenn die Spuren des Terrors oder des Krieges sich im
Miteinander des Aufbaus verlieren, wenn Vertrauen wächst
zwischen vormaligen Feinden oder Gegnern, kommt die Zeit, von
Demokratie zu reden. Mit anderen Worten: Nicht der gewonnene Krieg,
sondern der gerechte Frieden ist das Fundament für
Demokratie.
Wir haben in Europa - besonders in Deutschland - keinen Anlass, von
hoher moralischer Warte her zu urteilen. Vielmehr haben wir erst
aus bitteren Erfahrung lernen müssen. Wir haben im Grunde erst
nach der Erschöpfung durch unsere Kriege, schließlich
und endlich angesichts gemeinsamer Bedrohung durch atomare
Vernichtung einen Weg eingeschlagen, auf dem Gewalt auch als das
letzte Mittel verhindert werden musste. Und wir haben erfahren,
dass Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, verbunden
mit wirtschaftlichem Erfolg und Wohlstand, Stärken sind, die
Diktaturen ihren Völkern auf Dauer nicht verweigern
können.
Der Fall der Berliner Mauer steht für diese Erfahrung. Er ist
das Symbol für einen erfolgreichen demokratischen Aufbruch und
Wandel. Vielleicht war es ein Glücksfall, ein Sonderfall in
der Geschichte. Aber es war kein Zufall. Ich meine, es war die
Frucht von Freiheitswillen und Gewaltverzicht einerseits, von
Entspannung und Vertrauensbildung andererseits.
Europäer, wir Deutschen - besonders hier in Berlin - haben
lernen können und müssen, wie man unterhalb der Schwelle
des Einsatzes militärischer Gewalt mit Bedrohung und mit
Diktaturen umgehen kann, und diese überwinden kann. Diese
Erkenntnis ist in einer Welt wachsender gegenseitiger
Verwundbarkeit zu wertvoll, um auf sie zu verzichten.
Gewiss: Die neuen Kriege und asymmetrischen Konflikte der Gegenwart
- internationaler Terrorismus, ethnische Säuberungen oder
Kriege um natürliche Ressourcen haben wenig gemein mit dem
Kalten Krieg der Systeme. Aber auch nach dem 11. September, jenem
Symbol selbstmörderischer Gewalt und allgemeiner
Verwundbarkeit, kann man wissen, dass es letztlich darauf ankommt,
ob wir Wege aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt
finden.
Äußere und innere Friedlosigkeit sind die vielleicht
bedrängendsten Gefahren für die Zukunft der Demokratie.
Friedlosigkeit macht Angst und Angst droht die Menschen in die
Hände von Diktatoren, Extremisten oder Militärs zu
treiben. Wo Angst herrscht oder erzeugt wird, werden Schranken
errichtet, verlieren die Menschenrechte, erodieren die
Bürgerrechte, leidet die Demokratie. Friedlosigkeit
fördert die Unterwerfung der Öffentlichkeit und die
Gleichschaltung der öffentlichen Meinung.
Friedensfähigkeit gehört also dazu, wenn es um die
Perspektive der Demokratie geht. Ich denke dabei nicht nur an die
äußeren Gefährdungen der Demokratie, die durch
näher an uns heranrückende Konflikte sichtbar werden.
Auch im eigenen Land gibt es Veränderungen, die nach Meinung
oder Mahnung mancher, an die Grundfesten unserer Ordnung und der
Demokratie rühren. Wir haben eine funktionierende Demokratie,
aber wir wissen aus der Geschichte unseres Landes, dass dies nicht
selbstverständlich ist. Vor diesem Hintergrund sollten wir
sehr genau darauf achten, wenn Grundlagen unserer freiheitlichen
Ordnung angegriffen oder verächtlich gemacht werden. Wir
erleben immer häufiger, wenn aus Enttäuschung über
die Politik ein allgemeiner Demokratieverdruss gepflegt wird, der
den Blick für die Wirklichkeit und das Maß für die
Möglichkeiten der Politik aus dem Auge verliert.
Ich habe es sehr begrüßt, dass dieser ökumenische
Kirchentag die Frage nach den "neuen Perspektiven für die
Demokratie" stellt. Es ist für mich auch kein Zufall, dass
Christen diese Frage umtreibt. Gibt es doch weder in der Geschichte
noch in der Gegenwart eine andere Verfassung für die Regelung
der öffentlichen Angelegenheiten, die dem christlichen Bild
vom Menschen näher käme, als die Demokratie. Demokratie
ist kein Selbstzweck, sondern sie ist zweckdienlich. Sie ist die
angemessene Form, das dem Menschen Mögliche, Einsicht und
Vernunft, mit dem wegen seiner Fehlbarkeit und Verführbarkeit
Nötigen, zu verbinden. Politische Macht muss in der Demokratie
öffentlich legitimiert sein und wird nur auf Zeit und in
definierten Grenzen verliehen.
Unser erster Verfassungsgrundsatz heißt "Die Würde des
Menschen ist unantastbar". In ihm begegnen wir dem Menschenbild,
das uns Christen im Schöpfungsglauben vorgegeben ist, der
Gottebenbildlichkeit des Menschen. Sie setzt aller Macht des
Menschen über den Menschen Grenzen. Damit ist dem
demokratischen Staat aufgetragen, die Freiheit des Individuums zu
schützen, das heißt, auch dafür zu sorgen, dass die
Individuen von ihrer Freiheit so Gebrauch machen, dass sie nicht
die Freiheit des anderen untergräbt.
Das Thema NEUE Perspektiven für die Demokratie greift nicht
nur die Sorge auf, ob wir die Demokratie tatsächlich erhalten
können, sondern auch die Frage:
Was muss geschehen, damit das gelingt? Reicht es aus, im Vertrauen
auf die erfolgreichen letzten 50 Jahre so weiter zu machen, wie
bisher?
Nein, es reicht sicher nicht aus, so weiter zu machen, wie bisher,
aber - wir müssen auch die Welt nicht neu erfinden.
Die Demokratie ist - wie Oskar Negt sagte - "die einzige
Herrschaftsform, die in ständiger neuer Kraftanstrengung
gelernt werden muss." Sie ist wie keine andere Staatsform auf
Engagement, auf aktive, uneigennützige Unterstützung der
Bürgerinnen und Bürger angewiesen - nämlich immer
dann, wenn es um öffentliche Angelegenheiten geht, die nicht
unmittelbar das Eigeninteresse, aber das der Allgemeinheit
betreffen. Sie kann nur solange bestehen, wie neben den vielen
Einzelinteressen, die in ihr zur Geltung gebracht werden, das
gemeinsame Interesse an ihrem Bestand vital bleibt.
Was passiert, wenn sich Unzufriedenheit mit Demokratieverachtung
paart, wenn gesellschaftliche Eliten und wirtschaftliche Verlierer
sich zu einer Abkehr vom "System" verbünden, hat die Weimarer
Republik gezeigt. Auch wenn sich die Geschichte so nicht
wiederholen wird: das Potential autoritärer, nationalistischer
Haltungen ist in allen Demokratien vorhanden - und es nimmt zu,
wenn wirtschaftliche Modernisierungsschübe den
gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.
Erst langsam begreifen wir, dass die gegenwärtigen
ökonomischen Veränderungen bestimmte Garantien, die
bislang zu unserem Gesellschaftsvertrag gehörten,
allmählich untergraben. Dass dies Konsequenzen erfordert, ist
inzwischen unabweisbar. Denn neue Perspektiven für die
Demokratie werden nur dann eröffnet, wenn sie auch diese neuen
Herausforderungen besteht. Deshalb muss man über die
Herausforderungen sprechen, die uns seit dem Ende der zweigeteilten
Weltordnung immer offensichtlicher bedrängen.
Ich bin am Anfang bereits darauf eingegangen: eine ganz große
Enttäuschung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist, dass die
erhoffte Friedensperiode nicht eingetreten ist. Es steht zu
befürchten - und es war auch schon so - dass es zu den neuen
Perspektiven der Demokratie gehört, häufiger als bisher
mit der Entscheidung über Krieg oder Frieden konfrontiert zu
sein.
Diese problematische Perspektive haben wir lange von uns gewiesen.
Vor dem Hintergrund der europäischen Erfahrung, was Kriege
wirklich bedeuten, wenn sie nicht nur geführt, sondern auch
erlitten werden und vor dem Hintergrund der anderen (positiven)
europäischen Erfahrung, dass es gelungen war, selbst
antagonistische Konflikte auf dem Wege von Verhandlung,
Interessenausgleich und friedlicher Nachbarschaft zu lösen,
ist dies eine ganz besondere Verantwortung.
Wir verstehen nicht - und wollen es auch nicht verstehen - dass
Kriege wieder in das ganz normale Arsenal politischer Instrumente
einsortiert werden sollen. Wir haben dem Eifer
fundamentalistischer, nationalistischer oder weltverbessernder
Ideologien, die immer wieder zur Rechtfertigung von Gewalt
führten, eine Rechtsordnung entgegengesetzt, die friedliche
Streitbeilegung nach allgemeingültigen Regeln ermöglicht.
Wir vertreten deshalb die Position, dass jeder Staatsmacht nach
innen wie nach außen Grenzen gesetzt sind - durch
Gewaltenteilung und das Prinzip der
Verhältnismäßigkeit. Darum müssen wir auch
darauf bestehen, dass entsprechend rechtsstaatlicher Praxis und
zivilisierter Kulturen auch die internationalen Beziehungen
geregelt werden können.
Wenn Krieg als "letztes" Mittel der Politik bezeichnet wird, ist
Widerspruch von Nöten. Keinesfalls gilt dies nur für
Pazifisten. Das Völkerrecht entzieht diese politische
Entscheidung nämlich den Staaten, ausgenommen den Fall der
Selbstverteidigung. Es verbietet Kriegführung als "Politik mit
anderen Mitteln" und bindet die Entscheidung, wann die Anwendung
von Gewalt zulässig ist, an die Charta und den Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen. Wenn Krieg künftig als Mittel der
Politik wieder akzeptiert würde, dann werden Kriege
geführt werden. Die Gründe, sie für unvermeidlich zu
erklären, könnten nahezu beliebig werden, wenn man sich
davon Erfolg verspricht.
Deshalb wollen wir dabei bleiben, den Krieg als Mittel der Politik
zu ächten. Krieg ist nicht die Fortsetzung der Politik mit
anderen Mitteln, sondern der Papst hat Recht, wenn er sagt, dass
Krieg eine Niederlage der Menschheit ist.
Ihm und mit ihm gemeinsam den meisten Kirchen der Ökumene und
den Millionen Demonstranten in aller Welt - auch in den USA - ist
es zwar nicht gelungen, den Irak-Krieg zu verhindern. Aber es wurde
eine neue Perspektive eröffnet und es wurde mit Erfolg Politik
gemacht:
Was sonst sollte bewirkt haben, dass niemand den Irak-Krieg als
Auftakt zum Kampf der Kulturen und Religionen missverstehen kann?
Dies verhindert zu haben, ist das große Verdienst aller
Kriegsgegner - vom Schüler aus Jena, der Studentin aus Sydney
oder dem Angestellten in London über den Präses der
evangelischen Kirche in Deutschland bis zum Papst der
Katholiken.
Niemand soll sagen, dass Einmischung der Bürgerinnen und
Bürger folgenlos bliebe! Wenn vor allem die unzähligen
jungen Menschen in Deutschland, England, Spanien, Australien, Japan
begriffen haben, welchen wesentlichen Erfolg für den Frieden,
für globale gute Nachbarschaft sie erreicht haben, dann
dürfte wieder eine Generation für die Demokratie gewonnen
sein. Ich betone das gegen die hämischen Urteile, die zynische
Verachtung, die diese Demonstranten erfahren haben und auch gegen
das Gefühl von Resignation, das sich nach Beginn des Krieges
bei nicht wenigen eingestellt hat: Die weltweiten Demonstrationen
waren nicht vergebens, sie haben eine politische, eine zutiefst
demokratische Kraft gezeigt, derer wir in der globalisierten Welt
noch bedürfen werden!
Das zweite große Thema ist die Globalisierung, die zunehmende
Vernetzung der Lebensräume, der wirtschaftlichen, sozialen,
und kulturellen Entwicklung. Das ist historisch gesehen kein neues
Phänomen. Die moderne Entwicklung - besonders im Bereich von
Transport und Kommunikation sowie die Liberalisierung der
Güter-, Finanz- und Arbeitsmärkte - hat die
Globalisierung allerdings im letzten Jahrzehnt enorm beschleunigt.
Immer deutlicher bestimmen und begrenzen diese Bedingungen das
Handeln der Staaten und deren Verhältnisse im Innern. Sie
wirken als Vorgaben oder Sachzwänge und schränken
demokratischen Handlungsspielraum ein. Sie können
gleichermaßen Druck auf Regierungen ausüben, die
Menschenrechte verletzen oder Umwelt willkürlich
zerstören.
Die Chancen dieser Entwicklungen sind ebenso unübersehbar, wie
die Risiken. Wenn Wissen und Waren weltweit ausgetauscht werden,
sollten alle davon profitieren können. Wenn die Kommunikation
über die Grenzen hin voranschreitet, wird das Bewusstsein
einer globalen Verantwortung in den Völkern und Kulturen
wachsen.
Die Risiken liegen vor allem in ungleichen oder unfairen
Bedingungen zur Nutzung dieser neuen Möglichkeiten. Ganze
Regionen sind durch ihre ökonomische und finanzielle
Abhängigkeit nicht in der Lage, faire Bedingungen
durchzusetzen oder Standards für die eigenen Produzenten zu
garantieren. Weil unterschiedliche Entwicklungsstände die
Tendenz haben, sich bei völlig freien Märkten zu
verfestigen, kann der freie Wettbewerb nicht das bestimmende oder
einzige Kriterium für eine globale Ordnung sein.
Die Frage der globalen Gerechtigkeit ist aber nicht nur eine Frage
der fehlenden Solidarität mit den bisherigen Verlierern in
diesem Prozess. Ein unbegrenzter Standortwettbewerb führt auch
zur Erosion sozialer und kultureller Standards in den entwickelten
Ländern. Und die Demokratie wird in ihrem Kern getroffen, wenn
demokratische Entscheidungen, zuweilen sogar das Schicksal von
Staaten der Macht globaler Kapitalmärkte und transnationaler
Unternehmen unterliegen.
Ich halte trotzdem an der Hoffnung fest, dass die Globalisierung
auf Dauer allen materielle Vorteile bieten kann und eine
große Chance ist für die Teilhabe aller am kulturellen
Reichtum dieser Welt.
Die Friedensdemonstrationen haben doch auch gezeigt, dass die
Menschen schon global denken, dass sie verstehen: Wir sind jetzt
beispielsweise in Australien nicht nur die Nachbarn von Neuseeland,
wir sind auch die Nachbarn des Nahen Ostens.
Die Globalisierung als offener Prozess muss den verschiedenen
Regionen der Welt erlauben, auf verschiedenen Pfaden, je nach
Entwicklungsstand und Kultur, zusammenwachsen zu können. Das
setzt ein multipolares System voraus, eine faire Verteilung
politischer und ökonomischer Ressourcen. Ein unipolares, vom
Westen gemeinschaftlich durchgesetztes weltweites globales Regime
wäre nicht nur dem Gedanken der Demokratie fremd, es
würde die ganze Last und Verantwortung an den Westen
zurückgeben. Ein multipolares System fördert dagegen den
gleichberechtigten Dialog zwischen den Kulturen und eröffnet
die Chance, dass die Weltregionen ihren Entwicklungsweg
stärker selbst bestimmen können - differenziert nach
jeweiligem Entwicklungsstand und nach ihrer Tradition.
Vieles spricht für eine Reform der weltwirtschaftlichen
Ordnung hin zu einer kooperativen politischen Rahmensetzung,
- die Märkte und Wettbewerb dort sichert, wo sie auch im
Interesse des globalen Wohls sinnvoll sind,
- die Monopolstellungen verhindert und nicht nur auf Effizienz,
sondern auch auf soziale und ökologische Verantwortung hin
orientiert.
Eine kooperative Weltwirtschaftsordnung, die neben Wettbewerb und
wirtschaftlicher Vernetzung auch eine ausgeglichenere Verteilung
der Weltressourcen, einen Schutz nicht regenerierbarer Rohstoffe
und eine ausreichende Versorgung mit öffentlichen Gütern
sichert, ist für die politische Stabilität,
ökologische Nachhaltigkeit und soziale Sicherheit angesichts
einer wachsenden Zahl von Menschen nötiger denn je.
Die Bereiche, in denen menschliche Sicherheit zu Beginn des 21.
Jahrhunderts bedroht ist, betreffen immer stärker
lebenswichtige Ressourcen wie saubere Luft und sauberes Wasser oder
fruchtbaren Boden. Der Schutz von Lebens- und
Überlebensgrundlagen, von Menschen- und Umweltrechten wird zur
umfassenden Herausforderung, die demokratischen
Entscheidungsprozessen zugeführt werden muß. Die
öffentliche Verantwortung für die elementare
Daseinsvorsorge kann nicht dem Markt überlassen werden.
Viele Vorschläge zur politischen Lösung globaler Probleme
werden seit Mitte der neunziger Jahre unter dem Begriff Global
Governance diskutiert. Sie umfassen sowohl dezentrale, als auch
zentrale, teils staatsförmige, teils zivilgesellschaftliche
Ansätze. Gemeinsam zielen sie auf den Ausbau des
Völkerrechts zu einem verbindlichen globalen Recht, ohne
jedoch in einen zentralistischen Weltstaat münden zu
wollen.
Die bisherigen multilateralen Institutionen - vor allem die
Vereinten Nationen und ihre zahlreichen Sonder- und
Spezialorganisationen, einschließlich Weltbank,
Währungsfonds und Welthandelsorganisation - müssen mehr
Kompetenzen erhalten und gleichzeitig demokratischer und
transparenter strukturiert werden.
Die bereits bestehende Tendenz, dass sich Parlamente,
zivilgesellschaftliche Gruppen, Wissenschaft und Wirtschaft zu
handlungsfähigen Netzwerken verbinden, macht Hoffnung, dass es
gelingen kann, eine breite Basis für neue kooperative
Lösungen globaler Problemen zu schaffen, eine Basis, auf der
sich eine Weltgesellschaft und ein Weltbürgertum herausbilden
kann.
Wenn sich alle Weltregionen bei der Formulierung und Umsetzung
globaler Politik gleichberechtigt beteiligen sollen, erfordert dies
institutionelle Reformen, die regional differenzierte Lösungen
von globalen Problemen erlauben. Das Prinzip der Subsidiarität
muss auch hier gelten: Die Regionen, die Staaten oder die Kommune
müssen befähigt werden, für den eigenen Bereich
Verantwortung zu übernehmen.
Für Gerechtigkeit gibt es weder global noch national
allgemeingültige materielle Standards, wohl aber Normen, die
verallgemeinerbar sind. Solche Normen, wie sie in verschiedenen
Pakten der Vereinten Nationen aufgestellt wurden, nehmen allesamt
Bezug auf die politischen und sozialen Menschenrechte. Dazu
gehört auch die Freiheit der Wahl eines eigenständigen
Entwicklungsweges oder der Nutzung der eigenen kulturellen und
natürlichen Ressourcen und der Schutz der Lebensrechte der
kommenden Generationen.
Diese globale Perspektive für demokratische
Entscheidungsprozesse, für die Schaffung internationaler
Institutionen und Methoden der Willensbildung, ist die gewiss
anspruchsvollste Aufgabe der Zukunft.
Wie ehrgeizig das ist, zeigen schon unsere Schwierigkeiten mit der
Gerechtigkeit im eigenen Land. Lange war es klar, was wir unter
sozialer Gerechtigkeit verstehen und wie Gerechtigkeitspolitik zu
organisieren ist.
Das Ausmaß der Veränderungen bei uns mögen zwei
Beispiele verdeutlichen: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass
zunehmende Arbeitslosigkeit dazu führte, ältere
Arbeitnehmer massenhaft aus dem Arbeitsleben zu drängen. Das
durchschnittliche Renteneintrittsalter in Deutschland ist nicht 65
Jahre, wie es im Gesetz steht, sondern 59 Jahre. 60 % der Betriebe
beschäftigen keine Arbeitnehmer mehr, die älter als 50
Jahre sind; nirgendwo ist die Erwerbsquote der über
50jährigen so gering, wie in Deutschland.
Man könnte dies als Ausdruck eines hohen Lebensniveaus werten.
Unabhängig davon, ob wir uns das leisten können, Menschen
frühzeitig aus dem Arbeitsleben freizusetzen, sollten wir uns
fragen, ob es gerecht ist, auf ältere Menschen, deren
Erfahrungen und Können systematisch zu verzichten. Gerechter
wäre es doch, wenn sie statt für ihr Ausscheiden aus dem
Arbeitsleben für ihr Bleiben im Arbeitsleben
Unterstützung erführen!
Ein anderes Beispiel ist die demografische Entwicklung. Das
demografische Problem bedroht das soziale Sicherungssystem, weil
das Älterwerden der heutigen Rentner es für die aktive
Generation immer teurer macht. Das Wort Generationengerechtigkeit
macht deshalb die Runde. Das ist aber nur eine Seite des
Gerechtigkeitsproblems. Das eigentliche demografische Problem
für die soziale Sicherheit der heute aktiven Generation ist
der Kindermangel, den sie hinterlässt. Niedrige Geburtenraten
gelten als Merkmal von "Wohlstandsgesellschaften". Sie sind aber
nicht Ausdruck eines Überflusses, sondern eines Mangels dieser
Gesellschaften. Sie haben zu wenig für Kinder und
Heranwachsenden übrig.
Es ist deshalb richtig und gerecht, Eltern zu unterstützen,
damit sie Beruf und Elternschaft organisatorisch unter einen Hut
bekommen. Gerechtigkeitspolitik, auch im Interesse derer, die heute
über die Lasten der Rentenversicherung klagen, beginnt bei der
Unterstützung der Kinder und Familien.
Diese Veränderungen zeigen, dass der Sozialstaat andere
Schwerpunkte der Vorsorge setzen muss. Gerechtigkeitspolitik
entscheidet sich nicht am einfachen Fortbestand der bestehenden
Regeln und Leistungen des Sozialstaats, sondern ob sie den
gesellschaftlichen Zusammenhalt langfristig und solidarisch
organisiert.
Über den - notwendigen und unvermeidlichen - Streit über
die jeweiligen Leistungen dürfen wir eine Entwicklung nicht
aus dem Blick verlieren, die viel problematischer für die
Demokratie selbst werden kann. Ich meine die Reduzierung der
nationalstaatlichen Mittel und Fähigkeiten, überhaupt
Gerechtigkeitspolitik treiben zu können.
Das beginnt mit der abnehmenden Fähigkeit, eine gerechte
Besteuerung aller Einkommen durchzusetzen. Die parallel dazu
wachsende öffentliche Verschuldung zwingt heute nicht nur, den
Umfang staatlicher Leistungen zu reduzieren. Sie schränkt auch
die Möglichkeiten, durch staatliche Konjunkturprogramme
wirtschaftliches Wachstum zu generieren. Gleichwohl macht der
mündige Bürger seine nationale Regierung für
Wachstum, Arbeitsplätze, Währungsstabilität, innere
Sicherheit, Umweltschutz verantwortlich. Diese Kompetenzen
können - und müssen - wir neu entwickeln. Das geht aber
künftig nur noch im Zusammenwirken mit der EU, innerhalb des
Euro-Raumes. Allerdings ist das wenigen bewusst. Die Politik selbst
ist aber gefordert, um die in der Europäischen Union
vorhandenen Kompetenzen zu erweitern, um eine gemeinsame und
koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik zu entwickeln.
Deshalb wäre es keine neue Perspektive für die
Demokratie, verlorene nationalstaatliche Kompetenzen
wiederherstellen zu wollen; das wäre schlicht unrealistisch
und unvernünftig. Europa ist und wird die Perspektive für
viele Felder, die demokratischer Gestaltung harren. In der
Europäischen Union geschieht das, früher schrittweise
über die allmählichen Kompetenzzuwächse für das
Europäische Parlament. Dem Europäischen Konvent wird es
hoffentlich gelingen, dass durch seinen Verfassungsentwurf die
Entscheidungsprozesse künftig transparenter und die
demokratische Kontrolle nachvollziehbarer werden.
Die "Europäisierung" ist auch eine Antwort auf die
Globalisierung. Unser Land hat ein eigenes Interesse an einer
dauerhaften Einbindung in einen wirtschaftlich und politisch
leistungsfähigen Großraum, der anderen Weltregionen
vergleichbar ist.
Denn nur so sind für Deutschland und ganz Europa dauerhafter
Friede, die Erhaltung von Wohlstand und nachhaltige soziale und
ökologische Sicherheit zu gewährleisten.
Nur so erscheint es möglich, dass die Politik ihren Primat
über die Ökonomie, den sie im Zuge der Globalisierung
teilweise schon verloren hat, zurückgewinnt und demokratische
Handlungsfreiheit gewährleistet ist.
Nur über eine Integration gewinnt Europa auch die
Möglichkeit, mit weltpolitischem Gewicht auf globaler Ebene
für Solidarität und Gerechtigkeit wirksam
einzutreten.
Ein Europa, das nach innen seine Geschicke eigenständig und
demokratisch bestimmen kann, braucht reformierte Institutionen.
Europa muss nach außen, wenn gemeinsame Interessen
berührt sind, mit einer Stimme sprechen. Im Innern muss Europa
konsequent den Weg des sozialem Ausgleichs beschreiten, der
Demokratisierung der europäischen Institutionen, der Bewahrung
seiner kulturellen Reichtümer.
Wenn Europa für seine Bürgerinnen und Bürger zu
einer gesellschaftlichen und politischen Identität werden
soll, darf sich die öffentliche Diskussion nicht an
Alternativen wie Bundesstaat oder Staatenbund, zentralistisch oder
föderalistisch, festbeißen. Die Vernetzung der
wirtschaftlichen, aber auch der nationalen, regionalen und
kommunalen Akteure in Politik und Kultur, erfordern neue
institutionelle Antworten. Auch für diese Verantwortlichkeiten
gilt: dem Prinzip nach subsidiär gestaffelt.
Welche Form Europa auch immer im Zuge seiner Integration gewinnen
wird, sie muss Europa befähigen, als ganzes global
handlungsfähig zu sein, ohne die innere Vielfalt
gesellschaftlicher und kultureller Ausdrucks- und Lebensformen
einzuschränken.
Es wird in Europa Nationen geben, die aus spezifischen Bedingungen
und Interessen für eine eher schwache und langsame Integration
eintreten. Wir sollten darauf mit Respekt reagieren, aber den
Prozess nicht dem langsamsten der nationalen Schiffe
überlassen. Es sollten deshalb Raum und Zeit für
unterschiedliche Geschwindigkeiten und Integrationsdichten gegeben
werden. Es kann damit auch der Welt ein Modell dafür geben,
wie sich Vielfalt und Einheit institutionell verbinden
lassen.
Ein großes Feld, das sich demokratischer Kontrolle
offensichtlich - oder angeblich - immer mehr entzieht, ist die
Wirtschaft. Es ist nicht nur der Sozialdemokrat, sondern auch der
von der Soziallehre geprägte Katholik, der überzeugt ist,
dass Politik einen Ausgleich zu schaffen hat angesichts der
Ungleichheiten, die der Markt immer wieder schafft und auch
braucht. Wenn Politik ihren Anspruch aufgibt, wirtschaftliche Macht
zu begrenzen und die Ungleichheit des Marktes auszugleichen, also
Gerechtigkeitspolitik zu sein, dann würde sie
überflüssig.
Die Globalisierung schafft neue Möglichkeiten für die
Wirtschaft - besser sage ich ganz bewusst: für das Kapital -
sich der Verantwortung für das Gemeinwohl zu entziehen. Das
beste Beispiel ist die Steuerpraxis vieler großer
Unternehmen. Wir haben Tarifautonomie und betriebliche
Mitbestimmung. Diese werden aber immer stärker als unliebsame
Eingriffe in die unternehmerische Freiheit gerade transnationaler
Unternehmen diskreditiert. Wenn die ohnehin begrenzten
Einflüsse der Arbeitnehmer und Betriebsräte nicht
wären, könnte bald vor jedem Unternehmen das Schild
aufgestellt werden, auf dem in Anlehnung an die Markierung der
Sektorengrenzen im einst geteilten Berlin zu lesen ist: "Hier endet
der demokratische Sektor der Bundesrepublik Deutschland".
In diesem Zusammenhang sind aber auch gute Entwicklungen nicht
ausgeschlossen. Gerade große Unternehmen haben entdeckt, dass
eine Unternehmenskultur, die einem demokratischen Menschenbild
entspricht, für den Betrieb förderlich ist. Warum sollten
wir das nicht aufgreifen und eine Forderung neu beleben, die den
Anspruch dieses Menschenbildes ernst nimmt und Demokratie nicht nur
auf die staatlichen Belange begrenzt, sondern ihr als Leitbild
für alle Lebensbereiche Geltung verschafft?
Ich kenne keinen plausiblen Grund, nicht über
Wirtschaftsdemokratie neu nachzudenken; ich kenne auch keinen
plausiblen Grund, dass in Aktiengesellschaften, bei den sogenannten
"global players", es allein den Aktionären vorbehalten bleibt,
über die Unternehmensstrategie zu entscheiden. Warum nicht
auch die daran beteiligen, die existenziell am Erfolg des
Unternehmens interessiert sind und durch ihre geistige oder
körperliche Arbeit, durch ihr Wissen und ihre Erfahrung dazu
beitragen?
Demokratie ist eine Praxis, die Fehler und Irrtümer der
Verantwortlichen einkalkuliert. Deshalb verleiht sie Macht nur auf
Zeit und bindet sie an Kontrolle, Rechenschaft und öffentliche
Diskussion. Das gilt für die politische Macht, aber
längst nicht so für die Repräsentanten
wirtschaftlicher Macht. Dass diese Macht fehlbar ist, hat sich
zuletzt in Zusammenbrüchen von Börsen und
Großunternehmen gezeigt. Aber nicht die dafür
Verantwortlichen, sondern die Beschäftigten oder die
Steuerzahler müssen die Rechnung dafür bezahlen. Der
große Finanzspekulant George Soros fordert inzwischen die
Politik auf, Seinesgleichen Grenzen zu ziehen. Die Perspektiven der
Demokratie sind also nicht davon zu trennen, ob es gelingt der
Wirtschaft Regeln zu geben, die ihrer sozialen Verantwortung
zukommt!
Eine andere Auswirkung der Globalisierung, die zugleich ihr
wesentliches Merkmal ist, ist die ungeheure Beschleunigung der
Austauschprozesse. Dem steht die Langsamkeit demokratischer
Entscheidungsprozesse gegenüber. Sie ist ein Wesensmerkmal der
Demokratie, weil es Zeit braucht, Teilhabe, Mehrheiten, Zustimmung
in der Öffentlichkeit und in den Parlamenten zu
organisieren.
Es ist sicher denkbar, demokratische Entscheidungsprozesse zu
beschleunigen, aber wir müssen uns entscheiden, ob uns die
Freiheit in einer offenen und informierten Gesellschaft, die
Kontrolle politischer Macht, die Chance zur Teilhabe und
Einmischung wichtig genug sind, um dafür den Preis der
Langsamkeit zu zahlen. Zur demokratischen Legitimität
gehören auch Sorgfalt und Folgenabschätzung der
Entscheidungen.
Das fällt gerade in den heutigen Zeiten schwer, die Ungeduld,
der Missmut in der Bevölkerung und in der
veröffentlichten Meinung - so mein aktueller Eindruck - nimmt
fast täglich zu. Vor wenigen Tagen wurde uns eine Umfrage
präsentiert, wonach 67 Prozent, also zwei Drittel der
Befragten, hinter den Reformvorschlägen von Regierung und
Opposition lediglich parteipolitische Erwägungen vermuten. 92
Prozent der Bundesbürger meinen, dass "die Politik" nicht die
volle Wahrheit über das Ausmaß der Finanzprobleme der
öffentlichen Haushalte sagt. Während die eine Hälfte
bereit ist, dafür persönlich Einschnitte hinzunehmen,
gilt das für die andere Hälfte nicht.
Noch bevor eine Regierung überhaupt damit begonnen hat,
mögliche - und wahrscheinlich schmerzliche -
Reformvorstellungen in die Tat umzusetzen, sackt sie bereits so
sehr in den Keller der Umfragewerte, dass die Wahlverlierer von
gestern eine gute Zahlenbasis haben, um nach Neuwahlen zu rufen. Ja
selbst das ernsthafte Ringen innerhalb der größten
Regierungspartei um den richtigen Weg und die richtigen
Lösungen wird nicht etwa als überfälliger
Reformdiskurs kommentiert und bewertet, sondern als unproduktiver
Streit abqualifiziert, was die Umfragewerte weiter sinken
lässt.
Was aber - so frage ich - bedeutet dieser schwierige Befund
für unsere Frage nach "neuen Perspektiven für die
Demokratie"? Wenn ich vermute, dass eine Koalitionsregierung aus
Union und FDP - nach einem knappen Wahlsieg - angesichts des
gewaltigen Problemdrucks heute nicht besser dastünde, dann
zeigt das, dass der Ausweg nicht in Neuwahlen liegt. Aber ich
glaube gleichwohl, dass wir zu einer Neujustierung des
Verhältnisses von politischen Entscheidungsprozessen, ihrer
Vorbereitung, ihrer Vermittlung und ihrer Durchdringung mit den
Interessen der Bürgerinnen und Bürger kommen müssen.
Das stellt neue Anforderungen an die Politik, an die Medien wie an
die zivilgesellschaftlichen Akteure. Institutionelle, gar
verfassungsrechtliche Veränderungen können hierbei eine
unterstützende Funktion haben, wir dürfen darin aber
nicht die Lösung im Sinne von Allheilmitteln erwarten. Eine
Verlängerung der Legislaturperiode des Deutschen Bundestages
macht in diesem Zusammenhang Sinn, weil es einer Regierung und
einer Parlamentsmehrheit mehr Zeit für wirklich gestaltende
Veränderungen einräumt. Repräsentative Demokratie
heißt aber verliehene Macht des Volkes, deren Zeitraum nicht
beliebig ausgedehnt werden darf. Gerade wenn man die
Korrekturmechanismen einer häufig skandalisierenden (und nicht
kritisch reflektierenden) Medienöffentlichkeit und die
Tendenzerzeugung des wöchentlichen Umfragewesens kritisch
betrachtet, bedarf es bei längeren Wahlperioden der
Möglichkeit einer authentischen Einholung des
Wählerwillens. Hier wäre durchaus der Ort für klar
umgrenzte Plebiszite über zentrale Fragen, die auch wirklich
mit einem Ja oder Nein beantwortet werden können.
In diesen Zusammenhang gehören die aktuellen Debatten, die
sich auf eine Blockadewirkung unserer föderalstaatlichen
Ordnung beziehen, oder - um es mit den Worten des Präsidenten
des Bundesverfassungsgerichts zu sagen: "dem Wandel des Bundesrats
zu einer Art zweiten Parlamentskammer und - faktischer -
Ersatz-Opposition". Dazu eine nicht unwichtige Zahl: Waren es in
früheren Jahrzehnten etwa 30 Prozent der Bundesgesetze, die
einer formellen Zustimmung des Bundesrats bedurften, sind es heute
gut 60 Prozent. In einer Lage, wo sich - wir kennen das seit vielen
Jahren - der jeweils aktuelle Unmut über eine Bundesregierung
in entgegengesetzten Landtagswahlergebnissen ausdrückt,
entwickelt unser föderales System fast automatisch eine
gewisse Selbstblockade, erzwingt eine faktische große
Koalition. Die besteht aber nicht aus gemeinsam agierenden
Partnern, sondern aus Rivalen, die der anderen Seite jeweils nur
den unvermeidbaren Minimalkonsens zugestehen, nicht aber den Erfolg
einer großen, weitreichenden Reformlösung.
Zur Aufhebung dieser strukturell angelegten Blockade hielte ich es
deshalb für unerlässlich, dass sich Bund und Länder
- auch mit Blick auf die Kompetenzveränderungen in Richtung
Brüssel - neu über die jeweils ausschließliche bzw.
konkurrierende Gesetzgebung verständigen. Dies brächte
den Ländern mehr Eigenständigkeit und Kompetenzgewinn
dort, wo es sie und die dort lebenden Menschen unmittelbar angeht,
es würde die Politik bürgernäher machen. Und wir
würden da, wo es um gesamtstaatliche Aufgaben geht, die
Handlungsfähigkeit des Bundes zurückgewinnen.
Das ist im übrigen kein Plädoyer im Interesse der
jetzigen Regierung. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine
anders ausgegangene Bundestagswahl aufgrund der geschilderten
Mechanismen die spiegelbildlichen Verhältnisse erzeugen
würde. Deshalb sind Veränderungen in dieser Struktur im
Interesse aller Akteure.
Die Politik der Bundesregierung bereits in der letzten Wahlperiode
hat diesem Dilemma dadurch zu entkommen versucht - und sie setzt
das jetzt fort -, dass sie zu zentralen Politikfeldern und
Reformaufgaben Expertenkommissionen eingesetzt hat. Obwohl dies
nicht neu ist, hat es in den vergangenen Monaten - auch wegen der
Häufung der Kommissionen und Gremien - daran zunehmend Kritik
gegeben. Nun wäre es recht einfach, darauf nur mit der
Entgegnung zu reagieren, dass alle hier beteiligten Verbände,
Gruppen und wissenschaftlichen Institutionen auch im normalen
Gesetzgebungsprozess im Wege der Ausschussanhörung beteiligt
werden. Aber gerade für mich als Parlamentspräsident
wäre dies doch zu einfach, schließlich geht diese Kritik
am zunehmenden "Kommissionswesen" oder "-unwesen" mit dem
gewichtigen Vorwurf einer schleichenden Entparlamentarisierung
einher. Wir müssen den Einwand ernst nehmen, der sagt, dass
auf diese Weise eben nicht nur weiterer Sachverstand mobilisiert
wird, Konsense ausgelotet werden, sondern identifizierbare
Interessen von Verbänden, Organisationen und Unternehmen einen
überproportionalen und demokratisch nicht legitimierten
Einfluss auf staatliche Entscheidungen gewinnen. Denn häufig
könne das Parlament - durch den Druck der
"Eins-zu-eins-Umsetzungsforderung" der Exekutive - wie bei
EU-Vorgaben - nur noch Ja oder Nein sagen. Die Entscheidung falle
damit nicht mehr im Parlament, sondern früher und
außerhalb.
Aus diesem realen Dilemma gibt es keinen einfachen Ausweg. Die
Neuverteilung der Bund-Länder-Kompetenzen dürfte noch auf
sich warten lassen. Die akuten realen
Veränderungsanforderungen gerade unserer sozialen
Sicherungssysteme dürften zugleich für jeden
einigermaßen offensichtlich sein. Wer will es der Regierung
vorwerfen, Lösungswege, die eine breitere gesellschaftliche
Akzeptanz finden könnten, in derartigen Kommissionen
vorsondieren zu lassen?
Mir scheint, nicht die Kommissionen selbst sind das Problem,
sondern was wir von ihnen erwarten, und wie wir mit ihren
Ergebnissen umgehen. Was meine ich damit? Wir sollten zunächst
- ungeachtet allen zu akzeptierenden Handlungsdrucks -
aufhören, an der Erzeugung des Eindrucks mitzuwirken, als
gäbe es den einen, nicht interessengeleiteten,
Lösungsansatz oder Lösungsweg für gesellschaftliche
Strukturprobleme, die uns nun schon seit Jahrzehnten auf den
Nägeln brennen. Ein Beispiel zur Illustration: Ich kann mir
eine Lösung unserer Probleme der Altersversorgung im Wege
einer Zusammenführung aller bisheriger Teilsysteme (Rente,
Beamtenversorgung, private Sicherung der Selbständigen usw.)
ebenso vorstellen wie im Wege einer Umstellung auf eine gemischte
Finanzierung über Steuern plus Eigenvorsorge. Beides ist
denkbar und enthält je eigene Belastungen, Risiken und
Umstellungsprobleme.
Aufgabe von Expertenkommissionen müsste es sein, diese
verschiedenen Optionen sowohl für die handelnden und
beschließenden Politiker wie für eine kritische
Öffentlichkeit aufzubereiten, Chancen und Risiken der
verschiedenen Wege zu zeigen und sie als Alternativen
verabschiedungsfähig zu machen. Denn diese Letztentscheidung
mit allen Abwägungen muss im demokratisch gewählten und
legitimierten Parlament gefällt werden. Aber bis es soweit
ist, müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen, wohin
die Reise gehen soll. Denn das ist doch das Dilemma der
augenblicklichen Situation. Wöchentlich werden neue
Detailvorschläge für dies und das produziert, auch im
Bereich der Finanzierung mit immer neuen Steuervorschlägen,
und es findet sich sofort der interessierte Verband oder das
popularisierende Massenblatt, das diesen Einzelvorschlag verurteilt
oder skandalisiert und damit eine wirklich offene gesellschaftliche
Debatte über Lösungswege unmöglich macht. Das
Dilemma ist da, und es hilft uns keiner heraus, wenn wir nicht
selber die Formen ändern: Der Problemdruck ist groß, die
institutionellen Blockademöglichkeiten gewaltig, und keiner
hat die "Patentlösung", die es allen recht machen wird.
Wir werden also daraus nur herauskommen in einer im eigentlichen
Sinne des Wortes aufgeklärten Öffentlichkeit, in der die
Politiker wie die Bürger, die Journalisten wie die
Wissenschaftler ihre jeweiligen Aufgaben endlich
verantwortungsvoller wahrnehmen, als es bislang geschieht. Das
heißt, wir müssen lernen, den offenen Diskurs zu
organisieren, durch die Politiker und mit den Experten und den
Medien, der die Menschen mitnimmt, und an dessen Ende, nicht am
Anfang, die beste Lösung steht. Auch darin zeigt sich erneut,
dass gute, perspektivisch tragfähige Politik die Langsamkeit
voraussetzt, die der demokratische Diskurs einfordert. Diese
demokratische Perspektive steht genauso gegen den schnellen
Machbarkeitswahn wie gegen den medienträchtigen
"Politevent".
An dieser Stelle muß ich auf das vielbesprochene Problem der
Parteienverdrossenheit eingehen.
Weil Parteien nicht besonders gut angesehen sind, will ich eine
Lanze für sie brechen.
Bedeutet weniger Parteieneinfluss tatsächlich mehr Demokratie,
wie manche meinen? Am Beispiel des Bundesrates liegt ein "Ja" auf
diese Frage sehr nahe. Aber wer soll an die Stelle der Parteien
treten, wenn es um die Organisation politischer Mehrheiten
geht?
Parteien sind zu einer hohen Transparenz verpflichtet. Sie
unterliegen hohen Ansprüchen an interne demokratische
Entscheidungsprozesse, strengen Regeln der Finanzierung ihrer
Arbeit und sind damit offener als jeder Verein, jede
Nicht-Regierungs-Organisation oder jeder "Bürgerkonvent". Die
Verstöße von Parteien gegen diese Regeln, die sich in
den letzten Jahren gehäuft und das Vertrauen in Parteien
beschädigt haben, sind ja Belege für die Richtigkeit und
Notwendigkeit dieser Regeln.
Auch wenn es um die öffentlich-rechtlichen Medien geht, frage
ich mich, ob es wirklich besser ist, wenn ein Besitzer eines
privatwirtschaftlich organisierten Senders allein darüber
entscheiden kann, was gesendet wird und was nicht. Ist nicht die
viel beklagte Parteibuchwirtschaft in den Sendern auch eine gewisse
Garantie für den Pluralismus der Programme?
Vielen, den meisten Rundfunk- und Fernsehjournalisten tut man
Unrecht mit dem Vorurteil, dass ihre politische Ausrichtung zu
Lasten ihrer journalistischen Qualität und Qualifikation gehe.
Woran es fehlt ist eine öffentliche Kritik der
veröffentlichten Meinungsbeiträge. Anders
ausgedrückt: wer kritisiert die Medien und sorgt - statt
für einen vorgeblichen Quoten- und Auflagenwettbewerb - auch
für einen Wettbewerb um wirkliche aufklärerische
Qualität?
Es gibt keine vernünftiger Alternative zu politischen Parteien
und es gibt auch keine vernünftige Alternative zu einem Mix
aus öffentlich-rechtlichen und privaten Medien. Demokratie
bedeutet auch, dass die letzte Kontrolle und das
abschließende Urteil über Politik und Politiker der
Öffentlichkeit zukommt und den Wählerinnen und
Wählern zu überlassen ist. Ohne die "Vierte Gewalt" der
Medien ist das nicht möglich. Aber auch dort, in den Medien,
wirken Interessen und trüben gelegentlich die Urteilskraft.
Nicht nur die Zeitung mit den großen Buchstaben pflegt die
Schizophrenie, einerseits zu verlangen, dass sich alles ändert
und gleichzeitig zu protestieren, wenn sich etwas
ändert.
Tatsächlich brauchen wir Kritik - um der Demokratie willen.
Aber die Medien brauchen sie auch! Mit etwas mehr Interesse an der
Offenlegung der politisch wirksamen Einflüsse auf die Medien,
würde der Bürger sich gewiss leichter seiner eigenen
Interessen vergewissern können.
Neue Perspektiven für die Demokratie entstehen dadurch, dass
wir die tatsächlichen Veränderungen wahrnehmen und
angemessene Lösungen dafür finden. Das setzt voraus, dass
wir wieder lernen, über den Tag oder sogar die Wahlperiode
hinaus zu denken! Aber es setzt auch voraus, dass wir keine
Erlösung versprechen, sondern mit kleinen Schritten oder
Kompromissen bereit sind, zu beginnen. Wenn die Macht für
große Entscheidungen fehlt, ist das keine Entschuldigung
dafür, das Machbare nicht zu leisten.
Zwei einfache Fragen könnten zum Beispiel in der laufenden
Diskussion über Reformen helfen:
Die eine richtet sich an diejenigen, die wollen, dass es bleibt,
wie es ist. Sie muss man fragen, was sich angesichts der neuen Lage
ändern muss, damit es wird, wie es war.
Die andere richtet sich an die, die alles ändern wollen, und
zwar "einschneidend" und "tiefgreifend": Sie muss man fragen,
welche einschneidende und tiefgreifende Änderung sie für
sich selber dabei vorsehen.
Noch immer können wir uns mit großer Mehrheit in unserem
Land darauf verständigen, dass der Sozialstaat notwendig
ist.
Der Sozialstaat, die Geschäftsgrundlage unserer Demokratie
beruht im Unterschied zum "Wohlfahrtsstaat" auf Integration durch
das - ungeschriebene - Recht auf Arbeit und Recht durch Arbeit. Der
Wohlfahrtsstaat hat seinen Ursprung im feudalen Patronagesystem
hat, in einem Korsett mildtätiger Freigiebigkeit und
moralischer Abhängigkeit, das den Klassengegensatz zementiert,
statt ihn aufzuheben.
Die Krise des Sozialstaates, der auf Inklusion durch Arbeit beruht,
bedeutet auch eine Gefährdung der demokratischen Grundlagen
unserer Gesellschaft. Deshalb muss es heute um ein tragfähiges
Umbaukonzept für die Erhaltung des Sozialstaates gehen.
Der Fokus der gegenwärtigen Entscheidungen richtet sich vor
allem auf die Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme.
Es geht aber um mehr als fehlendes Geld, sondern auch um den
Verlust an Kredit.
Die Reform des Sozialstaates - wörtlich heißt Reform
Wiederherstellung - ist folglich unvermeidlich. Diese muss die
durch Bildung und Selbständigkeit größer gewordene
soziale Mobilität in das System der sozialen Sicherung
einbinden, weil nur so die größeren Anforderungen an
beruflicher Flexibilität möglich werden.
Ich meine, wir haben angesichts der wirtschaftlichen Lage gar keine
andere Wahl, als alle Instrumente wirtschaftlicher Steuerung und
sozialer Sicherung nach ihrer Reformfähigkeit abzuklopfen, und
zwar mit dem Ziel, ein "globalisierungsfestes" Sozialmodell
europäischer Reichweite auszubauen.
Es geht auch um unsere Kultur und Zivilisation dabei, um unsere
"europäische Lebensform", wie Jürgen Habermas sie nennt:
also um demokratisch gesicherte Freiheiten und sozialstaatlich
abgefederte Wirtschaftskraft, ideell begründet in einer
verbindenden Idee von Gerechtigkeit. Deshalb habe ich keinerlei
Verständnis, wie man vor dem Hintergrund von 2000 Jahren
Christentum, von über 200 Jahren Aufklärung ernsthaft
propagieren kann, der Mensch sei ohne weiteres auf seine
marktgemäßen Funktionen als Konsument und Produzent zu
reduzieren.
So verteidigen wir den Sonntag nicht, weil er uns Christen heilig
ist; er ist zu verteidigen, weil auch Nicht-Christen eine
geschützte Zeit der Muße, der Geselligkeit, der
Zuwendung benötigen, um ein Leben in Würde führen zu
können.
Zur Demokratie gehören Toleranz und Menschenrechte,
Religionsfreiheit und Nichtdiskriminierung, Werte und Tugenden, die
nicht selbstverständlich an die nächsten Generationen
weitergeben werden. Dazu gehört eine entsprechende Praxis. Ich
bin in den letzten Jahren viel durch unser Land gereist, um
diejenigen zu ermutigen, die sich aus demokratischer
Überzeugung gegen Fremdenhass und Rechtsextremismus
engagieren. Seither weiß ich, dass die weit verbreiteten
Zweifel am demokratischen Engagement der Jüngeren nicht
berechtigt sind.
Der gewaltige Einsatz der Jugend bei den Protesten gegen den
Irakkrieg - für eine Weltordnung des Rechts statt der
Stärke der Waffen - hat das erneut bewiesen. Insofern glaube
ich an die Lebendigkeit unserer Demokratie..
Wir brauchen mehr Demokratie: auf der globalen und der
europäischen Ebene, in der Wirtschaft und - ich füge
hinzu - auch direkte Demokratie, durch Bürgerentscheide
zwischen den Wahlen. Die Herausforderungen unserer Zeit werden
viele Veränderungen bringen, unsere Solidarität und
unsere Geduld vor große Bewährungsproben stellen. Auch
deshalb gilt es eine politisch riskante Erlösungssehnsucht in
unserer Gesellschaft ernst zu nehmen. Ungeduld, Unzufriedenheit mit
dem Tempo der Politik und mit ihrer Lösungskompetenz
angesichts der angstvoll, wütend, bedrängend erlebten
ökonomischen und sozialen Problemfülle und des
Veränderungsdrucks führen dazu, dass das
Erlösungsbedürfnis groß ist. Manche drücken es
aus - durchaus mit einem latent antidemokratischen Unterton. Aber -
daran ist gerade auf einem Kirchentag zu erinnern - Politik ist
nicht für Erlösung zuständig, ist kein
Religionsersatz, sondern in ihr geht es um Lösungen, um
jeweils etwas bessere Lösungen. (Was das angeht, habe ich
durchaus Sympathien für Luthers Zwei-Reiche-Lehre.)
Demokratie verteidigen heißt, die notwendigen
Veränderungen aussprechen, diskutieren, mehrheitsfähig
machen und Schritt für Schritt verwirklichen. Das sind alles
mühselige Vorgänge. Aber so ist Demokratie nun einmal.
Mit Befriedigung von Erlösungsbedürfnissen hat das alles
wenig zu tun, manchmal sogar mit deren bitterer Enttäuschung.
Doch ist das allemal besser als jene schlimme Vermischung von
säkularisierter Religion und politischer Heilslehre, wie sie
für beide Diktaturen des 20. Jahrhunderts charakteristisch
war. Die Ablehnung religiös verbrämter politischer
Heils-Aktivitäten bleibt aktuell!
Es bleibt dabei: letztlich bietet nur demokratisches Engagement
für das Gemeinwohl eine Chance, dem ökonomischen Druck,
der Erosion des sozialen Zusammenhalts und der Auflösung der
kulturellen Identität zu widerstehen!
Sie sehen, es gibt neue Perspektiven, neue Aufgaben, neue
Anlässe für Demokratie und durch Demokratie sich zu
engagieren.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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