Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Eröffnung der Ausstellung "Freiheit wollen wir! - Der 17. Juni 1953 im Land Brandenburg"
"Kommt, Berliner, reiht Euch ein, wir wollen freie Menschen
sein!" - diese Parole liest man immer wieder, wenn in den
Geschichtsbüchern vom 17. Juni 1953 die Rede ist. Auch in den
TV-Spielfilmen und Dokumentationen der vergangenen Wochen war sie
häufig zu sehen oder zu hören. Aber der 17. Juni 1953
fand nicht nur in Ostberlin statt. Der Ruf nach Freiheit erhob sich
in der ganzen DDR, in Thüringen wie Mecklenburg-Vorpommern, in
Sachsen-Anhalt - und natürlich auch in Brandenburg. Über
diese regionale Dimension des Arbeiteraufstandes, der sich schnell
zu einem Volksaufstand entwickelte, ist immer noch wenig bekannt -
und Aufklärung dringend notwendig.
Mit dem Wissen der Deutschen um den 17. Juni 1953 steht es ohnehin
nicht gut. Nach einer aktuellen Umfrage des ZDF können fast
46% der Deutschen die Frage nach den Ereignissen an diesem Tag
nicht oder nur falsch beantworten. Und wenn doch richtige
Erklärungen gegeben werden, dann kommt in aller Regel der
Hinweis auf den Aufstand in Ostberlin. Der Flächenbrand, der
sich in alle Regionen der DDR ausbreitete, ist bislang kaum
bekannt. Das ist kein Ruhmesblatt - weder für die
Geschichtsforschung, der seit 1990 die Quellen aus DDR und
Sowjetunion zugänglich geworden sind, noch für die
politische Bildungsarbeit und auch nicht für die politische
Erinnerungskultur in Deutschland.
Um so erfreulicher - und wichtiger - ist es, dass sich im Rahmen
eines Brandenburger Forschungsprojektes Bürgerinnen und
Bürger auf die Spurensuche gemacht haben. Sie wollten es genau
wissen: Wie verlief der 17. Juni 1953 in unserer Heimatregion -
nicht nur in den größeren Städten Potsdam, Cottbus
und Frankfurt/Oder, sondern auch in den kleinen Ortschaften, in
Teltow, Rathenow, Finsterwalde? Wie breitete sich der Aufstand aus,
welche Aktionen und Organisationsformen gab es, welche Forderungen
wurden gestellt und wie verlief das Eingreifen der russischen
Truppen? Vor allem aber: Was geschah mit den Männern und
Frauen, die am 17. Juni 1953 den Streik organisierten, die Fehler
der SED-Regierung öffentlich anprangerten und mit der
Forderung nach Freiheit auf die Straße gingen?
Die Ergebnisse der engagierten Spurensuche sind in den Tafeln,
Texten und Bilddokumenten dieser Ausstellung festgehalten. Sie
enthalten manche Überraschung. Wer hätte gedacht, dass es
schon Wochen vor dem 17. Juni Streiks und Arbeitsniederlegungen
gegeben hat - z.B. im Mai 1953 im Ziegelwerk Zehdenick und Anfang
Juni im Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf? Ein anderes Detail: In
Lauchhammer (Senftenberg) wurde der Streik über vier Tage bis
zum 21. Juni fortgesetzt. An vielen Orten wurde die Freilassung
Inhaftierter in Massenprotesten gefordert - und nicht selten auch
durchgesetzt. Auch die Dimensionen des Protests sind bemerkenswert:
so nahmen über 10.000 Menschen an einer Demonstration in der
Stadt Brandenburg teil.
Die Forschungsergebnisse zeichnen ein vielschichtiges und
aufschlussreiches Bild der Ereignisse um den 17. Juni 1953. Diese
verdanken wir vor allem der akribischen Durchsicht Tausender von
Stasi-Akten durch die Kuratorin dieser Ausstellung. Liebe Frau
Schnell, das dürfte alles andere als ein Vergnügen
gewesen sein. Aber die Arbeit hat sich gelohnt. Die Ergebnisse
unterstreichen, wie wichtig solche Mikrostudien zur Regional- und
Lokalgeschichte sind, vor allem die Suche nach Zeitzeugen und die
Dokumentation der Gespräche mit ihnen oder ihren Verwandten.
Nur auf diesem Weg können die Schicksale jener mutigen
Männer und Frauen dem Vergessen entrissen werden, die am 17.
Juni 1953 für die Freiheit auf die Straße gegangen
sind.
Die persönlichen Erinnerungen der Opfer gehen unter die Haut -
gerade dann, wenn man sie hier in der "Lindenstraße 54" in
den Stasi-Zellen vom Tonband hört. Das ist nicht nur, aber
insbesondere für junge Menschen eine sehr nützliche
Erfahrung, um sich bewusst zu machen, wieviel Zivilcourage,
Entschlossenheit und Freiheitswillen erforderlich waren, um die
Streikleitung in Oranienburg oder Königswusterhausen zu
übernehmen, mit der Streikglocke in der Hand durch die
Straßen zu marschieren und zum Sturz des SED-Regimes
aufzurufen.
Ein Schicksal, ein Opfer wenigstens soll hier näher
beschrieben werden: der Arbeiter, dessen Forderung "Wir wollen
Freiheit" dieser Ausstellung den Titel gegeben hat. Er war im
Potsdamer Reichsbahnausbesserungswerk beschäftigt. Am 18. Juni
1953 rief er seine Kollegen zum Streik auf, forderte freie, geheime
Wahlen, die Freilassung aller politischen Gefangenen sowie einen
Gedenkmarsch für die Opfer des 17. Juni 1953 in Berlin.
Dafür hat er einen hohen persönlichen Preis bezahlt. Der
Streik dauerte nur kurze Zeit, der Trauermarsch fand nicht statt,
er selbst wurde einen Tag später verhaftet.
Er stand zu seinen Überzeugungen: Im Verhör sagte er laut
Protokoll der Staatssicherheit: "Jawohl, ich habe gesagt: wir
wollen streiken und erklären uns mit den Arbeitern in Berlin
solidarisch. Ich habe gesagt: Freiheit wollen wir." Vom
Bezirksgericht Potsdam wurde der Arbeiter später zu einem Jahr
und sechs Monaten Haft verurteilt. Sein Mut, für die Freiheit
einzutreten, sollte nicht vergessen werden - von keinem von uns.
Die Spurensuche in Brandenburg und diese Ausstellung rufen sein
Schicksal und das vieler anderer wieder in unser Bewusstsein.
Nun gibt es immer Leute, die fragen, warum es so wichtig sei,
Studien über Ereignisse durchzuführen, die 50 Jahre
zurückliegen. Darüber würde man gerne den Kopf
schütteln - wenn man nicht wüsste, wie viele es sind, die
so reden oder denken. Nochmals zu den Ergebnissen der zitierten
Umfrage. Auf die Frage, ob in Zukunft wieder mehr an den Aufstand
vom 17. Juni 1953 erinnert werden soll, antworteten knapp 60% der
Befragten mit Nein. Man sieht: Der Sinn des Erinnerns ist nicht
jedem selbstverständlich und muss immer wieder erläutert
und vermittelt werden.
Der 17. Juni 1953 ist ein herausragendes Ereignis unserer
jüngeren Geschichte - nicht nur im Osten Deutschlands. Egon
Bahr hat treffend von einem "Tag der gesamtdeutschen Geschichte"
gesprochen und betont: "Der kleinere, bedrängte Teil hat
(damals) für das Ganze Geschichte geschrieben." Wenn wir
fünfzig Jahre später diesen Tag - im Grunde erstmals - in
Ost und West gemeinsam begehen, dann kommt es vor allem darauf an,
eine gemeinsame Erinnerungskultur zu schaffen. Und zu dieser
Erinnerungskultur gehört nun einmal das Wissen über die
Ereignisse in den einzelnen Regionen - schon, um dem Eindruck
entgegenzuwirken, alles Wichtige sei in Ostberlin geschehen. Das
stimmte schon 1953 nicht - und 1989 erst recht nicht!
1953 und 1989 - für eine gemeinsame, verbindende
Erinnerungskultur ist unverzichtbar, diese beiden Daten in
Beziehung zu setzen. Bereits heute reden manche Jüngere so,
als sei es selbstverständlich gewesen, dass im Sommer und
Herbst 1989 alles gut ausgehen würde. Wer so spricht, der
sollte sich mit dem 17. Juni 1953 beschäftigen und sich daran
erinnern, dass die Panzer 1989 immer noch bereit standen.
Allerdings hatte sich Entscheidendes verändert - auch wenn es
nicht alle gemerkt haben. Die SED-Führung hat nicht erkannt,
dass sich inzwischen ein neues Denken entwickelt hatte. Michael
Gorbatschow dachte nicht wie einige seine Generäle in
überkommenen Feindbildern, sondern in friedlichen,
europäischen Kategorien - und er hat sich durchgesetzt. Die
Panzer blieben in den Kasernen, das SED-Regime wurde von den immer
stärkeren Bürgerprotesten ausgehöhlt und
geschwächt, bis es am 9.11.1989 zusammenbrach. Aber es gab
Tage und Wochen, in denen die Entscheidung darüber, ob
deutsche Geschichte 1989 endlich einmal gut ausgehen würde,
auf des Messers Schneide stand. Das sollten wir niemals
vergessen.
Und ebenso kann die Auseinandersetzung mit dem 17. Juni 1953 und
seine Beziehungen zu 1989 unser Bewusstsein schärfen für
den Wert von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Demokratie. Zu
einer politischen Kultur der Deutschen gehört vor allem die
Einsicht, dass wir die Feinde der Demokratie bekämpfen
müssen, ehe sie, wie 1953, die Panzer rollen lassen
können. Das vor allem sollten wir gelernt haben aus dem so
schrecklich verlaufenen 20. Jahrhundert: Die Feinde der Demokratie
muss man bekämpfen, ehe sie die Macht in Händen halten -
übrigens nicht nur bei uns, sondern überall auf unserem
Globus. Auch das kann uns diese Ausstellung bewusst machen.
Allen, die bei ihrer Entstehung mitgeholfen haben, ein herzliches
Wort des Dankes. Die Mühe hat sich gelohnt. Ich wünsche
der Ausstellung "Freiheit wollen wir" viele Besucherinnen und
Besucher aus Brandenburg und darüber hinaus."
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