Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Gedenkstunde zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 im Bundestag
"Die letzte gemeinsame Feierstunde des Deutschen Bundestages und
des Bundesrates zum Gedenken an den Volksaufstand von 1953 fand vor
genau 13 Jahren statt - am 17. Juni 1990. Ein denkwürdiges
Ereignis! Denn diese Ge-denkstunde hatte einen dritten
Veranstalter, einen dritten politischen Akteur - das drei Monate
zuvor gewählte erste freie Parlament der DDR. Doch es war ein
Gedenken auf Abruf. Nur wenige Wochen später wurde dieser
nationale Feiertag in der alten Bundesrepublik abgeschafft. Nach
zunehmender Ritualisierung des Erinnerns auf der einen und
angstvoller repressiver Tabuisierung des Datums auf der anderen
Seite wurde der 17. Juni - so schien es - nicht mehr
gebraucht.
Und heute? Ist es nur der 50. Jahrestag, der den Volksaufstand ins
öffentliche Interesse treten lässt - für ein paar
Wochen wenigstens, bis er dann wieder ruhigen Gewissens in die
Abteilung Gedenken verabschiedet wird - bis zum nächsten
runden Jubiläum? Oder bedeutet der 17. Juni doch mehr? Ist es
nicht ein Datum, das alle Deutschen betrifft, ein Datum, das
beitragen kann zu einer gemeinsamen, ungeteilten Erinnerung in Ost
und West?
Zum 50. Jahrestag und fast 13 Jahre nach der staatlichen Einheit
sind offenbar politische Scheuklappen gefallen, die bisher den
Blick auf dieses Ereignis verstellt hatten. Nun können wir uns
die Geschichten der Zeugen anhören, können wir
nacherleben, was die Forscher aus den Archiven heben. Ich bin
dankbar, dass im Zuge dieser Aufklärungsarbeit die Akteure des
17. Juni endlich wieder aus dem Schatten der Geschichte treten
können und öffentliche Würdigung erfahren. Ich
begrüße im Namen der Mitglieder des Deutschen
Bundestages sehr herzlich die Vertreter der Opferverbände der
kommunistischen Gewaltherrschaft, darunter die Mitglieder des
Präsidiums der Internationalen Assoziation politischer
Häftlinge mit ihrem Präsidenten, Herrn Jure
Knezovic.
Was war der 17. Juni 1953? Und was bedeutet er für uns? Diese
Fragen werden zur Zeit heftig diskutiert - in Filmen und
Dokumentationen, in vielen Sachbüchern, politischen Foren und
in Wettbewerben an Schulen. Und bei vielen Älteren werden sehr
persönliche Erinnerungen wach. Ich zum Beispiel war damals ein
9jähriger Junge, der sich an die Niederlagen seines Vaters als
Rechtsanwalt in politischen Strafprozessen vor und nach dem 17.
Juni erinnert: 8 Jahre Zuchthaus für einen Mann, der seine
Freude über Stalins Tod öffentlich ausgedrückt
hatte, mehrjährige Zuchthausstrafen für Beteiligte an
Streiks. Ich habe die Tränen meines wahrlich nicht
sentimentalen Vaters, als er abends zu Hause von solchen Urteilen
berichtete, nie vergessen. Das machte immun gegen jedwede
kommunistische Verführung. Aber diese Erfahrung
läßt mich auch sagen: Der 17. Juni 1953 war in
ostdeutscher Perspektive zunächst und vor allem ein Tag der
Niederlage, ein bitterer Tag des Scheiterns der Arbeiter im
"Arbeiter- und Bauernstaat". Was in den Tagen zuvor als
Arbeiterprotest begann, mündete am 17. Juni in einen
Volksaufstand. Die Forderungen der Demonstranten waren
grundsätzlicher Natur: Rücktritt der Regierung,
Entmachtung der SED, Zulassung der westdeutschen Parteien in der
DDR, freie Wahlen, Demokratie. Es ging ihnen um einen politischen
Befreiungsprozess, der auf die Beseitigung der innerdeutschen
Grenze und auf die Schaffung der deutschen Einheit zielte.
Dieser massenhafte Protest, an dem sich eine Million Menschen in
über 700 Orten beteiligten, stand an der Schwelle zum Erfolg.
Die Regierung und die SED waren de facto entmachtet worden, sie
hatten ihre Handlungsfähigkeit verloren. Nur aus einem Grund
nahm der Aufstand einen tragischen Verlauf: Die Panzer der Roten
Armee und Einheiten der Kasernierten Volkspolizei schlugen die
Freiheitsbewegung blutig nieder. Über 50 Menschen starben auf
den Straßen (genaue Zahlen sind unbekannt), mindestens
zwanzig weitere wurden hingerichtet. Mehr als 2.000 Demonstranten
bezahlten ihr Eintreten für die Freiheit mit langen
Zuchthausstrafen. Viele junge Menschen durften ihre Schule, ihre
Ausbildung, ihr Studium nicht beenden. Sie wurden auf Jahrzehnte
politisch stigmatisiert und sozial benachteiligt.
Insofern stellte der 17. Juni die erste große
Enttäuschungserfahrung der Ostdeutschen dar, weitere
Niederlagen folgten: 1956, 1961, 1968, 1976. Die Enttäuschung
des 17. Juni hat das Bewusstsein vieler Ostdeutscher auf Jahrzehnte
geprägt, hat vielen von ihnen auf lange Zeit den Mut genommen,
sich erfolgreich gegen die Diktatur zu wehren, hat Zweifel daran
genährt, dass Gegenmacht von unten überhaupt
aussichtsreich sein könnte. Die Empfindung dieser Menschen:
uns hilft ja niemand, wir werden allein gelassen, bewirkte vielfach
Flucht und zähe Resignation - eine Resignation, die im Westen
nicht selten als Akzeptanz des DDR-Systems missdeutet wurde.
Dennoch ist nicht Resignation die zentrale Botschaft des 17. Juni
1953. Im Gegenteil: 50 Jahre später kommt es darauf an, diesen
Tag endlich in seiner Langzeitwirkung und in seiner
europäischen Dimension zu verstehen. Die Tatsache, dass die
Revolution blutig abgebrochen wurde, nimmt der historischen
Bedeutung dieses Aufstandes nichts. Schließlich waren die
mutigen Demonstranten von 1953 die Ersten in Osteuropa, die sich
massenhaft gegen den Kommunismus erhoben haben. Der Blick auf die
Emanzipationsbewegungen in Osteuropa nach 1945 weist dem
Juniaufstand diesen exklusiven Platz zu. Was 1953 in der DDR
passierte, wiederholte sich ähnlich 1956 in Polen, schlimmer
noch im selben Jahr in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei.
Solidarnosc aber in Polen, Anfang der 80er Jahre, war dann nicht
mehr aufzuhalten. Was diese Aufstände, diese Bewegungen
miteinander verbindet, das ist die Idee der Freiheit, der Kampf
für Demokratie. Ein langer, entbehrungsreicher Weg, er hat
letztlich zum Ziel geführt - in die friedliche Revolution von
1989. Erst 1989 kam zusammen, dass "die unten nicht mehr wollten"
und "die oben nicht mehr konnten". Beide Daten - 1953 und 1989 -
gehören zusammen. Die sowjetischen Panzer standen 1989 zwar
noch immer im Land, aber sie blieben in den Kasernen. Michail
Gorbatschow hatte die historische Lektion gelernt, die
bür-gerrechtlichen Oppositionsbewegungen erst recht.
Wir alle haben gute Gründe, uns der historischen Bedeutung des
17. Juni 1953 neu zu vergewissern. Mehr noch: Nachdem wir nun
über ein Jahrzehnt die Einheit gestalten, haben wir die
Chance, dieses Datum endgültig als ein gesamt-deutsches
Ereignis zu begreifen: "Wir können stolz sein auf diesen Tag
und das, was die Ostdeutschen gezeigt haben. Ohne ihren Mut
hätte es weder den 17. Juni 1953 noch den 9. November 1989
gegeben. Der kleinere, bedrängtere Teil hat für das Ganze
Geschichte geschrieben." - So hat es Egon Bahr formuliert.
Ich wünsche mir, dass die Gedenkveranstaltungen zum 50.
Jahrestag des 17. Juni dazu beitragen, dieses revolutionäre
Ereignis in unsere Gedenkkultur neu einzugliedern und lebendig zu
halten. Das schulden wir den mutigen Akteuren des Volksaufstandes
und vor allem seinen Opfern. Wir müssen dem 17. Juni endlich
den Platz in der deutschen Geschichte einräumen, der seiner
Bedeutung angemessen ist. Dies wäre ein Gewinn für unsere
politische Kultur, ein Gewinn für unsere Demokratie."
7315 Zeichen