Ansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Fertigstellung des westlichen Spreeplatzes und zur Wiederaufstellung der Mauerkreuze am 17. Juni
"Manchmal haben bauliche Verzögerungen auch ihr Gutes. Die
Übergabe des westlichen Spreeplatzes findet nun an jenem Datum
statt, an dem sich heute vor 50 Jahren der Freiheitswille der
Menschen im Osten Deutschlands entlud. Der Arbeiteraufstand in
Ost-Berlin, der sich am 17. Juni 1953 schnell zum Volksaufstand in
der ganzen DDR entwickelte, wurde mit Waffengewalt nieder
geschlagen. Im Rückblick sehen wir: Wenn dieser Tag nicht in
einer Niederlage geendet hätte, wäre uns die Mauer
erspart geblieben, hätte es all die Opfer nicht gegeben, derer
wir heute gedenken.
Der Blick zurück zeigt ebenso: Der Freiheitswille der Menschen
im Osten ließ sich auch durch die Mauer nicht dauerhaft
unterdrücken, obwohl sie ab dem 13. August 1961 immer mehr zur
tödlichsten Grenze der Welt ausgebaut wurde. Tödlich im
ganz wörtlichen Sinne - über 250 Menschen haben alleine
in Berlin ihr Leben gelassen bei dem Versuch, von Deutschland nach
Deutschland hin über zu kommen - einige von ihnen in der
Nähe unseres heutigen Veranstaltungsortes. An alle, die bei
solchen Fluchtversuchen ums Leben gekommen sind, erinnern seit 1971
die "Mauerkreuze", die inzwischen selbst schon ein Stück
Berliner und deutscher Geschichte geworden sind. Um das Gedenken an
die Opfer des Unrechts wachzuhalten, hat sie der "Berliner
Bürger-Verein" zum 10jährigen Bestehen der Mauer
gestiftet und in der Folgezeit mit großem Einsatz gepflegt
und unterhalten. Schon vorher waren an Plätzen und
Straßen, an denen Flüchtlinge zu Tode gekommen waren,
spontane Gedenkstätten eingerichtet worden. Aber die
"Mauerkreuze" gaben diesen improvisierten Formen des Gedenkens
einen gemeinsamen Ort - hier an der Nordostseite des
Reichstagsgebäude, in unmittelbarer Nähe der Mauer.
Nach dem Ende der Mauer 1989 führten die Umgestaltungen des
Ebert-Platzes dazu, dass die Mauerkreuze für eine
Übergangszeit an einen neuen Standort versetzt werden mussten.
Dieser Umzug hat sie noch bekannter gemacht, als sie es ohnehin
schon waren. In unmittelbarer Nähe des Deutschen Bundestages,
am Tiergarten/Ecke Scheidemannstrasse haben Hunderttausende von
Menschen aus aller Welt sie besucht, der Ermordeten gedacht, Blumen
und Kränze niedergelegt, Kerzen entzündet. Zugleich
begann die Suche nach einem neuen, würdigen Platz für
diese Symbole des Gedenkens. Schließlich wurde er ganz in der
Nähe des alten Standortes gefunden - in Abstimmung zwischen
dem Berliner Senat, dem "Berliner Bürger-Verein" und der
"Bundesbaugesellschaft Berlin". Das Landschaftsarchitekturbüro
Cornelia Müller/Jan Wehberg erhielt den Auftrag für ein
Konzept, das die Mauerkreuze - in neuer Form - in die Umgestaltung
des Spreeplatzes und des "Band des Bundes" insgesamt integrieren
sollte. Auch dieses Konzept wurde eingehend diskutiert und
schließlich einvernehmlich beschlossen.
Das Ergebnis sehen wir heute vor uns - zumindest zur Hälfte.
Leider haben die Verzögerungen nicht zugelassen, dass bereits
die Arbeiten am ganzen Spreeplatz abgeschlossen sind. Der westliche
Teil ist fertig, der östliche dauert noch etwas länger -
politisch kommt uns das ohnehin vertraut vor. Aber es gibt auch
hier plausible Gründe. Das Bauvorhaben Ebert-Platz musste in
zwei Schritte aufgeteilt werden, weil der Erschließungstunnel
zum Bundestag und die Uferwandsanierung im östlichen Teil des
Spreeplatzes erst später abgeschlossen werden. Schon heute ist
jedoch zu erkennen, dass die landschaftsarchitektonische Einbindung
des Spreeplatzes zwischen Paul-Löbe- und
Elisabeth-Lüders-Haus, dem Reichstagsgebäude, dem
ehemaligen Reichstagspräsidentenpalais und dem
Jakob-Kaiser-Haus bis hin zur Marshall-Brücke überzeugend
gelungen ist. Ich finde, dass die bewusst schlicht gehaltenen
"Weißer Kreuze" inmitten der sehr modernen Architektur am
Spreeufer besonders eindringlich zur Geltung kommen. Vergessen wir
nicht: dort, wo jetzt die "Weißen Kreuze" angebracht sind,
war damals im wörtlichen Sinn das rettende Ufer. Die
Wasserfläche der Spree gehörte dagegen noch zum
DDR-Gebiet und bedeutete in vielen Fällen den Tod.
Die neuen "Weißen Kreuze" erinnern beidseitig an die Opfer
der Mauer - an jene, die zu Land einen Fluchtversuch unternahmen
und an die, die es über das Wasser versuchten. Deshalb ist
auch der Zugang zu den Kreuzen ein Doppelter. Viele Menschen aus
allen Teilen der Welt werden über die spektakuläre
Uferpromenade am "Band des Bundes" diesen eindrucksvollen Gedenkort
besuchen. Von der Wasserseite her werden die Ausflugsschiffe der
Schifffahrtsgesellschaften die Besucher auf die Kreuze aufmerksam
machen und sie in unmittelbarer Nähe passieren. Ein doppeltes
Erinnern also an Männer und Frauen, die ihr Leben riskiert
haben, um aus der Unfreiheit in die Freiheit zu gelangen und dabei
- das bleibt schreiendes Unrecht - zu Opfern einer
menschenverachtenden Politik geworden sind. Erschossen, ertrunken,
durch Minenfallen verletzt und an ihren schweren Verletzungen
verstorben. Diese Gedenkstätte erinnert an alle Opfer des
DDR-Grenzregimes - hier in Berlin wie überall in
Deutschland.
Wir alle sind dem "Berliner Bürger-Verein" zu Dank
verpflichtet, dass er das Andenken auch an die anonym gebliebenen
Opfer der Mauer über solch lange Zeit gepflegt und
wachgehalten hat. Das ist bürgerschaftliches Engagement im
besten Sinne. Berlin braucht die Erinnerung an die Jahrzehnte der
Teilung der Stadt, der Trennung der Menschen, um der gemeinsamen
Zukunft willen. Um diese Erinnerung wachzuhalten, benötigen
wir die großen und die kleinen Gedenkorte. Die Narbe der
Mauer im Stadtkörper darf nicht verschwinden. Sie gehört
ins Gesicht dieser Stadt, denn sie erinnert an menschliches Leid,
ausgelöst durch ein unmenschliches System. Ich danke allen,
die zur Neugestaltung dieses Gedenkortes "Weiße Kreuze"
beigetragen haben, insbesondere dem Berliner Senat, dem
Architektenteam Cornelia Müller und Jan Wehberg und der
"Bundesbaugesellschaft Berlin".
Ein letzter Gedanke. Der Standort der Mauerkreuze hat mehrmals
gewechselt, aber eines ist geblieben. Er befindet sich auch
weiterhin in unmittelbarer Nähe des Deutschen Bundestages im
Reichstagsgebäude. Viele, wie ich hoffe, alle, die im
vielzitierten "Herz unserer Demokratie" arbeiten, werden die
"Mauerkreuze" immer wieder einmal besuchen. Denn jedes Gedenken
schafft Verpflichtungen, ruft zum Handeln auf - gegen Unfreiheit,
Unterdrückung und Gewalt. Wer die "Weißen Kreuze"
besucht, ihre Geschichte erfährt und um die Ermordeten
trauert, denkt zugleich an tödliche Grenzen in anderen Teilen
der Welt, an Unterdrückung, Entmündigung, Verletzung von
Menschenrechten in vielen Teilen unserer Erde. Die "Weißen
Kreuze" rufen auf zum Einsatz für die Freiheit - jeden von
uns, jeden Tag nicht nur in Deutschland, sondern überall dort,
wo sie den Menschen vorenthalten wird. Die
Unterdrückungsmechanismen, die zu Gedenkorten wie diesem
führen, dürfen keine Zukunft haben - nirgendwo auf der
Welt."
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