Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages,Wolfgang Thierse,auf dem 12. Bundesverbandstag der Katholischen Arbeitnehmerbewegung am 5. Oktober 2003 in Mainz
Zunächst möchte ich der neuen Bundesleitung der KAB
sehr herzlich gratulieren und Ihr viel Kraft und Weisheit bei der
Wahrnehmung der künftigen Aufgaben wünschen.
Solidarität und Gerechtigkeit, darum geht es - wie solidarisch
ist diese Gesellschaft und bleibt Solidarität
mehrheitsfähig? Dafür müssen wir arbeiten, in dieser
Frage ist auch die KAB aufgefordert, Stellung zu beziehen. Ich
erinnere in diesem Zusammenhang an den Satz von Jürgen
Habermas, der einmal von der "Solidarität als knapper
Ressource" gesprochen hat.
1995 hatte ich schon einmal die Ehre, zur KAB zu sprechen. Bei der
Durchsicht der Rede von vor 8 Jahren bin ich auf folgende
Sätze gestoßen: "Wenn wir die Entwicklung der letzten
Jahre ernst nehmen, dann wissen wir, dass jeder neue
Konjunkturaufschwung keine nennenswerte Verringerung der hohen
Sockelarbeitslosigkeit gebracht hat. (...) Deshalb brauchen wir
andere Formen von Arbeit, andere Bewertungen von
Nichterwerbsarbeit, andere Formen von deren öffentlicher
Unterstützung. (...) dann brauchen wir andere Finanzierungs-
und Förderinstrumente....".
Nicht aus Eitelkeit, sondern weil es schon damals zutreffend war,
will ich noch folgendes Zitat hinzufügen: "Es ist allemal
sinnvoller, in Arbeit statt in Arbeitslosigkeit zu investieren.
Dazu brauchen wir einen radikalen arbeitsmarktpolitischen
Kurswechsel." Und schließlich ein letztes Zitat: "Ich glaube
nicht, dass es reichen wird, (...) bloße Abwehrschlachten
gegen Sozialabbau zu führen. Wir werden den notwendigen Umbau
selber gestalten müssen."
Heute, im Jahre 2003 sind wir mitten drin, in diesem Umbau und -
auch das gehört zur Wahrheit - er ist schmerzlicher und
schwieriger, als man es damals vorhersehen konnte - weil er zu
spät kommt und vor allem, weil er unter den Zwängen einer
wirtschaftlichen Rezession geschieht.
Es ist gut möglich, dass man später einmal
rückblickend sagen wird: das Jahr 2003 war ein Wendepunkt in
der sozialstaatlichen Entwicklung.
Die Probleme, die wir lösen müssen, sind also nicht neu,
wir haben damals schon darüber diskutiert: Unerträglich
hohe Arbeitslosigkeit, wegbrechende Steuereinnahmen, mangelnde
Finanzausstattung der Kommunen, Einnahmedefizite bei den sozialen
Sicherungssystemen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass mehr
als einmal der Mut (und deshalb auch die Mehrheiten) für -
wenn schon nicht weitreichende, dann wenigstens notwendige -
Veränderungen fehlten. Verdrängte Probleme holen einen
unerbittlich ein. Wir stehen inzwischen nicht mehr vor der Wahl,
die Probleme entweder heute oder lieber erst morgen zu lösen.
Die Alternative heißt: Entweder wir modernisieren unsere
soziale Marktwirtschaft jetzt oder wir werden modernisiert, und
zwar von den umgebremsten Kräften des Marktes. Das kann
niemand wollen.
"Menschen beteiligen - Gerechtigkeit schaffen" unter diesem Motto
steht denn auch dieser Bundesverbandstag, und Sie diskutieren (seit
2 Tagen) intensiv die Frage der sozialen Gerechtigkeit bei den
notwendigen Reformen in der Sozial-, der Bildungs-, der Familien-
und der Steuerpolitik. Das ist wichtig und notwendig, gerade weil
Sie als großer katholischer Sozialverband ein wichtiger
Partner der Politik sind und bleiben sollen. Der katholischen
Arbeitnehmerschaft gebührt dabei der Verdienst, diese
Gesellschaft zu einer sozialen, solidarischen Gesellschaft
mitgestaltet zu haben; jetzt heißt aber die weitergehende
Aufgabe, mit dafür zu sorgen, dass eine soziale, solidarische
Gesellschaft in Zukunft möglich bleibt! Da stehen wir erst am
Anfang! An der Oberfläche führen wir einen Streit um
Kostenumverteilung im sozialen Bereich. Die Frage, ob es dabei
gerecht zugeht, steht im Mittelpunkt. Das ist legitim, aber es
berührt noch längst nicht den Kern des Problems: Was sind
eigentlich die Voraussetzungen für künftigen Wohlstand,
den wir gerecht, aber vor allem ausreichend schaffen wollen?
Lange Zeit war die Gerechtigkeitsfrage primär eine Frage von
leistungsgerechter Teilhabe der am Produktionsprozess Beteiligten.
Dass sich das nicht erledigt hat, muss ich hier nicht betonen.
Diese "alte" Gerechtigkeitsfrage wird aber von einer neuen, akuten
überlagert: dem dauerhaften Ausschluss von immer
größeren Menschengruppen aus dem produktiven Kern der
Gesellschaft. Diese Entwicklung bedeutet nicht nur für die vom
Ausschluss Betroffenen eine absolute Ungerechtigkeit, sie wirkt
auch auf die im aktiven Arbeitsleben Stehenden zurück.
Einerseits im Sinne der Intensivierung und Beschleunigung der
Anforderungen an die Aktiven, andererseits im Sinne der Entfremdung
von der Lage der Ausgeschiedenen. Die Bereitschaft zu solidarischer
Unterstützung der Arbeitslosien erreicht nämlich dort
ihre Grenze, wo diese den Lohn für geleistete Arbeit auf ein
Niveau drückt, das sich Arbeit nicht mehr lohnt. Ob nun
soziale Umverteilung Arbeitsplätze kostet oder ob
Dumpinglöhne auf die Einkommen regulär Beschäftigter
drücken: die "neue" Gerechtigkeitsfrage drängt
offensichtlich die "alte" Gerechtigkeitsfrage in den
Hintergrund.
Ich stimme also denjenigen zu, die sagen: unser größtes
Gerechtigkeitsproblem ist die Massenarbeitslosigkeit. Ich stimme
auch der These zu, dass dies nicht auf dem Wege von mehr
Verteilungsgerechtigkeit - gemeint ist eine ausschließlich
umverteilende Sozialpolitik - lösbar ist. Deswegen ist aber
soziale Gerechtigkeit nicht etwa passé, sondern mehr denn je
in dieser Zeit ein Thema.
Das Thema "soziale Gerechtigkeit" ist im 21. Jahrhundert schon
deswegen nicht passé, weil global, aber auch national sich
die Schere bei Einkommen und Lebenschancen immer weiter
öffnet. Seit drei Jahrzehnten bleibt das gesamtwirtschaftliche
Wachstum hinter den Produktivitätszuwächsen tendenziell
zurück. Das heißt, bei abnehmender allgemeiner Teilhabe
am Wachstum sinkt die Nachfrage und rückwirkend natürlich
das Arbeitsvolumen, das gebraucht wird. Die inzwischen erreichte
strukturelle Arbeitslosigkeit führt deshalb als soziale Frage
unweigerlich zu einer Re-Politisierung der
Gerechtigkeitsfrage.
Die Sozialdemokratie, wie die Gewerkschaftsbewegung, wie die
katholische Soziallehre verstanden unter "sozialer Gerechtigkeit"
übrigens niemals nur ausgleichende Umverteilung. Der Ausgleich
von unverschuldeten Leistungsdefiziten oder Benachteiligungen
gehört selbstverständlich zu einem zivilisatorischen
Standard, den auch der liberale Wohlfahrtsstaat - mehr oder weniger
- voraussetzt. Der Sozialstaat unserer Prägung definiert sich
nicht über den nachsorgenden materiellen Ausgleich, sondern
über die soziale Gleichstellung der Menschen. Das heißt,
er kümmert sich um die Bedingungen dafür, faire und freie
Arbeitsbeziehungen in der Gesellschaft einzugehen, damit jeder
für sich selbst sorgen kann. Weil wir in der Arbeit die
wesentliche Austausch- und Wertbeziehung zwischen den Menschen
sehen - die Würde des Menschen, den Schutz vor Gewalt, vor
Willkür und unverschuldeter Armut vorausgesetzt - ist der
Tatbestand der sozialen Ausgrenzung aus der Arbeitsgesellschaft,
die hervorstechende Form der neuen sozialen Ungerechtigkeit.
Der Kern von Gerechtigkeitspolitik liegt traditionell in der
Organisation der Arbeitsgesellschaft. Deshalb gehört zur
Lösung der neuen Gerechtigkeitsfrage vorrangig die
Verbesserung der Zugangschancen zu Erwerbsarbeit - zum Beispiel
über einen Ausbau des Bildungssystems. Aktive Bildungspolitik
ist zwar kein Ersatz, aber eine Bedingung für eine moderne
Gerechtigkeitspolitik. Sie verbessert die Chancen für
Beschäftigung, aber sie ändert natürlich nicht die
Regeln. Deshalb gehört zu dieser Politik weiterhin die
Gewährleistung eines funktionsfähigen sozialen
Netzes.
Die modernen flexiblen Berufsbilder, Arbeitsbiografien und
Lebensmodelle, die sogenannte "Individualisierung", bedeuten einen
Fortschritt an gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Für die
Mehrheit ist dies allerdings nur dann lebbar, wenn soziale
Sicherung Mobilität und bessere Bildung Flexibilität
möglich machen. Gerecht ist folglich, was neue Chancen
ermöglicht, was der Gleichstellung der Geschlechter dient,
Beruf und Kindererziehung ermöglicht, was verhindert, dass
soziale Herkunft den Ausschluss von Bildung, Ausbildung und somit
Erwerbschancen verursacht. Die jüngste OECD-Studie hat den
Finger in die Wunde gelegt: Bildungsmängel schwächen auch
die Wirtschaft - und damit den Wohlstand. Wenn im OECD-Mittel 30 %
eines Jahrgangs einen Studienabschluss haben, in Deutschland aber
nur 19 %, zeigt uns das genau den Nachholbedarf, den wir
haben.
Übrigens sind Arbeiterbewegung und Bildungsarbeit - auch KAB
und Bildungsarbeit - einmal fast identisch gewesen.
Auch für das 21. Jahrhundert gilt: Gerecht ist alles, was
Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben in der Gesellschaft frei
zu gestalten. Nichts widerlegt die alte Erfahrung, dass Freiheit
ohne Solidarität nicht funktionieren kann und dass gleiche
Freiheit erst wirkliche Gerechtigkeit ist.
Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und einer dramatischen
Finanzsituation in den Staats- und Sozialkassen können wir
nicht am Status quo festhalten. Das wäre keine
Gerechtigkeitspolitik. Wenn es zutrifft, dass der deutsche
Sozialstaat weltweit die größten Anstrengungen
unternimmt, um die Folgen von Arbeitslosigkeit zu finanzieren, dann
gehört das Ergebnis zu den erfolglosesten Anstrengungen, die
je unternommen wurden, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Mit
sozialer Absicherung allein, die - das soll nicht vergessen werden
- ein wichtiges Instrument zur Abwehr der ökonomischen Folgen
konjunktureller Arbeitslosigkeit bleibt, ist es jedenfalls nicht
getan. Welche Instrumente haben wir nun?
1. Richtig ist generell: Der Versuch, allein mit Mitteln der
Arbeitsmarktpolitik, Beschäftigung zu fördern, reicht
nicht aus. Größere Mobilität, Flexibilität
usw. schafft nur dann mehr Beschäftigung, wenn es auch neue
Märkte und die Nachfrage nach neuen Produkten gibt.
2. Weil neue Produkte Innovationen erfordern, also mehr
Investitionen in Forschung und Entwicklung, verbunden mit einem
entsprechenden Unternehmergeist und Gründermut, muss der Staat
helfen, die Risiken zu mindern, Vorleistungen in Wissenschaft und
Forschung zu finanzieren.
Unsere Forderung an die Wirtschaft, heute eine ausreichende Zahl an
Ausbildungsplätzen bereitzustellen, unterstreicht dies. Die
jungen Menschen, denen heute berufliche Bildung verweigert wird,
sind die Arbeitslosen von morgen. Es handelt sich dabei aber auch
um unterlassene Investitionen in das Arbeitsvermögen, das
"Humankapital" der Unternehmen. Immer weniger Unternehmen sind
einerseits bereit, junge Leute auszubilden, aber immer mehr
Unternehmen beklagen auf der anderen Seite, dass sie schon jetzt
keine qualifizierten Fachkräfte finden. Die Wirtschaft selbst
ist in hohem Maße dafür verantwortlich. Das räumen
ihre Verbandsfunktionäre auch ein. Trotzdem fehlen auch in
diesem Jahr wieder einige zehntausend Ausbildungsplätze, da
kann ich nur unterstützen, was Weihbischof Grave in seiner
Predigt gesagt hat - das ist ein sozialer Skandal. Wenn eine
Ausbildungsplatzabgabe keine Anreize dafür schaffen sollte,
diesen Trend umzukehren, dann hieße die Alternative
Verstaatlichung der beruflichen Bildung. Dafür wäre nicht
etwa eine linke Regierung verantwortlich, sondern diejenigen, die
sonst täglich den Rückzug des Staates predigen. Auf jeden
Fall wäre das die schlechtere Lösung, weil die
Qualifikation im Unternehmen immer besser ist und immer noch
wechselseitige Bindung und Verantwortung zwischen Arbeitnehmer und
Unternehmer schafft.
3. Die (zeitweise gänzlich bestrittene) staatliche
Verantwortung für die Konjunktur- und
Beschäftigungspolitik muss endlich von der nationalen auf die
europäische Ebene gebracht werden. Eine wirksame
makroökonomische Steuerung kann nur im Rahmen einer
koordinierten Wirtschafts- und Finanzpolitik der Staaten des
Euroraumes erfolgreich sein. Nachfrageimpulse durch
öffentliche Investitionen oder Steuersenkungen ziehen bei
offenen nationalen Märkten die Gefahr der künstlichen
Importfinanzierung nach sich. Auf europäischem Niveau
erreichen wir aber einen binnenwirtschaftlichen Anteil am Markt von
90 Prozent, also auch einen entsprechenden Wirkungsgrad
makroökonomischer Impulse. Die gemeinsame industriepolitische
Initiative von Gerhard Schröder und Jacques Chirac könnte
sich hier als ein Durchbruch erweisen.
4. Der mit der Euro-Einführung begründete
Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt muss auf seine
zweite Bestimmung hin - Wachstum und damit Beschäftigung zu
ermöglichen - weiterentwickelt werden. Es reicht nicht aus,
dass die für den Euro-Raum bislang einzige Institution mit
makroökonomischer Kompetenz, die EZB, nur auf ein Ziel
festgelegt ist, nämlich die Geldwertstabilität zu
sichern. Eine koordinierte Finanz- und Wirtschaftspolitik im
Euro-Raum könnte neue Spielräume für kurzfristige
konjunkturelle Steuerung und langfristige Investitionspolitiken im
Rahmen des Paktes schaffen.
Europa kann den Wettbewerb zwischen neoliberaler Revolution und
sozialer Demokratie bestehen, der die politische Auseinandersetzung
am Beginn des 21. Jahrhunderts prägt. Dabei geht es vor allem
um den Sozialstaat, die größte Kulturleistung Europas,
die uns positiv von den anderen Kontinenten unterscheidet. Manche
haben ihn sogar als den "Dritten Weg" zwischen Kommunismus und
Kapitalismus verstanden.
Der moderne Sozialstaat ist ein "Teilhabestaat". Die Bereitschaft
der Mehrheit der Bürger, zur Finanzierung der kollektiven
Leistungen beizutragen, beruht auf dem Prinzip Leistung und
Gegenleistung. Soziale Absicherung ist nur ein Zweck dieses
Bündnisses. Damit jeder sein Leben selbständig und in
Würde leben kann, setzt der moderne Sozialstaat nicht am Ende
bei der Existenzsicherung an, sondern bei der Gestaltung der
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
Seine ökonomische Funktion beschränkt sich nicht auf die
Abwehr von Krisenphänomenen der Konjunkturzyklen. Sie besteht
vor allem in der Förderung des gesellschaftlichen
Arbeitsvermögens, also eines hohen Bildungs- und
Gesundheitsniveaus, von Wissenschaft und Forschung, Verkehr und
Umwelt. Das von den Bürgern durch Beiträge gebildete
Sozialeigentum und die steuerfinanzierten öffentlichen
Güter dienen letztlich der Wettbewerbsfähigkeit des
Einzelnen wie des gesamten Gemeinwesens.
Schließlich ist der moderne Sozialstaat europäischer
Prägung eine Institution der Freiheit, gewissermaßen die
"Geschäftsgrundlage" der Demokratie. Durch seine
Staatszugehörigkeit erwirbt der Bürger individuelle
Freiheits- und soziale Grundrechte, die ihn zur
Selbständigkeit befähigen, aber auch finanziell und
politisch in die Mitverantwortung nehmen.
Aber der Sozialstaat bekommt zunehmend selbst ein
Gerechtigkeitsproblem: Ursprünglich hat er die Last der
Risiken von Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit auf viele
Schultern solidarisch verteilt - und damit erträglich gemacht.
Wenn nun aber immer weniger Menschen diese Mittel erarbeiten
müssen und immer mehr Menschen auf die Solidarität
angewiesen sind, lässt sich das Prinzip Leistung für eine
angemessene Gegenleistung immer schwerer durchhalten. Gelegentlich
sollen selbst Gewerkschafter, die sich unermüdlich für
die solidarische Gesellschaft einsetzen, beim Lesen ihrer
Lohnabrechung etwas weniger Abzüge für wünschenswert
gehalten haben - und sei es nur für einen kurzen Moment
"charakterlicher Schwäche".
Abgesehen von diesem subjektiven Gesichtspunkt - die Bindung der
meisten Sozialkosten an die Arbeitseinkommen begünstigt
Ausweichstrategien von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern zur
Beitragsvermeidung: das reicht von der Verlagerung ganzer
Produktionszweige in sogenannte Niedriglohnländer bis zur
Schwarzarbeit. Die sich verändernde Altersstruktur der
Bevölkerung tut das ihre, das die für Rente, Kranken- und
Pflegeversicherung umzulegenden Beiträge wachsen werden.
Deshalb führt kein Weg vorbei an der Frage: Was können,
was müssen wir tun, um den Sozialstaat funktionsfähig und
bezahlbar zu erhalten? Im Kern gibt es nur folgende
Möglichkeiten:
1. (und mit diesem Ziel ist meine Partei angetreten -) durch
Reformen der Systeme selbst ihre Leistungsfähigkeit zu
erhöhen und damit bei gleicher Versorgung die Kosten zu
begrenzen. Dabei sind offenbar - Beispiel Gesundheitswesen - die
größten Hindernisse zu überwinden - und es wird
noch mehrerer Anläufe bedürfen, um das System von Kopf
bis Fuß zu reformieren.
2. Möglichkeit: Man reduziert die Leistungen der
Sicherungssysteme auf das Notwendigste bzw. man privatisiert sie
zum kleineren oder größeren Teil oder
3. man muss die Beiträge weiter anheben.
Tatsächlich geht es um eine vernünftige Mischung mit dem
Ziel, Effizienz zu steigern und die Beiträge wenigstens zu
begrenzen, wenn schon nicht zu senken. Dabei kann - und muss - man
über jede Einzelheit diskutieren. Aber im Grunde lautet -
unter den gegebenen politischen Verhältnissen - die
Alternative, eine solche Mischung in der Art der Agenda 2010 zu
versuchen, oder zu scheitern und die sozialen Sicherungssysteme
insgesamt zu gefährden. Das kann nicht im Interesse von
Arbeitnehmern liegen.
Der Sozialstaat darf nicht zur Disposition stehen. Worum es geht
ist, seine Funktionsfähigkeit den veränderten
demographischen und wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen und
eine neue Balance von Beiträgen und Leistungen zu
finden.
Die Einsicht, für die ich hier werbe, hat viele Feinde. Da
sind diejenigen, denen es noch nicht weit genug geht, weil sie
hofften, das System insgesamt kippen zu können. Und da sind
andere, die erwartet haben, dass wir in einem Schritt das neue Ufer
und ein besseres System schaffen. Verständlich ist der Unmut
derjenigen, denen Mehrbelastungen zugemutet werden.
Dieser Unmut wird umso stärker, wenn Manager, die Millionen
verdienen, die Zulagen für Sonntags- und Nachtarbeit in Frage
stellen, wenn Vorstände sich die Bezüge auf ein
"internationales Niveau" anheben, während sie Lohnforderungen
zurückweisen, wenn im Management noch bei erwiesener
Erfolglosigkeit unermessliche Abfindungssummen gezahlt werden,
damit Vorstände endlich gehen, gleichzeitig aber der
Kündigungsschutz in Frage gestellt wird; wenn ständig der
Ruf nach Niedriglohn-Sektoren ertönt, obwohl es die
längst gibt - oder wenn in offenem Widerspruch zur
Massenarbeitslosigkeit die Forderung nach
Arbeitszeitverlängerungen erhoben wird - dann vermag auch ich
nicht mehr zu folgen.
Das hat schon was von "Klassenkampf von oben". Aber im Kern
ändert das nichts an der schwierigen Aufgabe, den Sozialstaat
für die Zukunft zu bewahren. Wenn er für die
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts umgebaut werden muss, dann
geht es um einen Staat, der mehr in die Zukunft investiert, in die
Fähigkeit der Menschen, die absehbaren und weitreichenden
Veränderungen bewältigen zu können.
Auch wenn sich die Arbeitswelt tiefgreifend verändert - an
einer Grundtatsache wird sich auch im Arbeitsleben des 21.
Jahrhunderts nichts ändern: Auf sich allein gestellt ist der
Einzelne zu schwach. Das bekommen z.B. auch die "neuen Berufe" in
der IT-Branche oder in Finanzunternehmen zu spüren, die sich
eine Zeit lang lieber als "Arbeitskraftunternehmer" verstanden,
denn als abhängig Beschäftigte.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdanken ihre Rechte
gewerkschaftlicher Solidarität. Lohn und Arbeitsdauer, Urlaub
und vermögenswirksame Leistungen haben Gewerkschaften mit den
Arbeitgebern ausgehandelt und ausgekämpft. Unsere derzeitigen
Lebensverhältnisse, unser Wohlstand wären ohne die
Organisation der wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Interessen
der Arbeiterschaft nicht denkbar. Die organisierten Arbeitnehmer
haben sich dadurch ausgezeichnet, dass sie - statt Gruppenegoismus
zu pflegen - mehr als andere das Gemeinwohl im Blick hatten,
gesellschaftlichen Zusammenhalt und ökonomischen Fortschritt
wollten.
Gewerkschaften sind gleichberechtigte Akteure der sozialen
Marktwirtschaft - und das sehen die allermeisten Arbeitgeber ganz
genauso. Sie sind Interessenvertretungen der abhängig
Beschäftigten und zugleich Garanten ökonomischer
Modernisierung unter der Bedingung des sozialen Friedens. So ist
das aktuelle Lob der Arbeitgeber - übrigens auch deren
Verteidigung des Flächentarifvertrages gegen Neoliberale aller
Parteien - verständlich und berechtigt.
Ausruhen, fürchte ich, kann man sich darauf nicht. Es gibt
sie, diese unübersehbaren und nicht umgehbaren
Veränderungen der Produktionsweise, der
Wettbewerbsverschärfung und der immer mehr individualisierten
Arbeitsbeziehungen und Beschäftigungsformen, die an den
hergebrachten Formen und Praktiken der Solidarität zehren.
Deswegen halten immer mehr Menschen Solidarität für
verzichtbar. Gewerkschaften müssen lernen, dieser Entwicklung
durch ihre eigene Organisationskultur zu begegnen. Allein die
Erkenntnis, dass wir auch in Zukunft auf Solidarität
angewiesen bleiben werden, genügt nicht.
Viele Gewerkschaften sind längst in den neuen
Verhältnissen angekommen. Sie haben sich darauf eingestellt,
dass sich die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft
verändert haben, dass die Arbeitnehmerschaft sich wandelt,
dass flexible Erwerbsbiographien zunehmen. Nur ein paar Beispiele
für die Flexibilität, wie sie Arbeitnehmervertretungen
längst praktizieren, dicht an der Branche, dicht am
Betrieb:
- Die IG BCE hat sich mit den Arbeitgebern auf einen
Arbeitszeitkorridor geeinigt. Je nach Arbeitsanfall arbeiten
Beschäftigte bis zu zweieinhalb Stunden länger oder
kürzer.
- Ver.di hat mit dem Versicherungsgewerbe eine Regelung vereinbart,
wonach die wöchentliche Arbeitszeit um bis zu acht Stunden
verkürzt werden kann - ohne Lohnausgleich.
- Und auch Haustarifverträge müssen nicht immer von
Nachteil sein - so hat etwa die NGG schon jetzt mehr als 400
Tarifverträge allein im Bezirk Ost (neue Länder, einschl.
Berlin ohne Mecklenburg-Vorpommern). Die Abschlüsse der NGG
bewegen sich dabei - soweit ich gehört habe -
regelmäßig über dem Durchschnitt aller
Tarifabschlüsse, zum Teil wurden sogar höhere
Tarifabschüsse als in den alten Bundesländern
gesichert.
Gewerkschaften sind also insgesamt schon viel weiter, viel
klüger und flexibler als es ihrem derzeitigen
öffentlichen Image als "Blockierer" entspricht.
Die Gewerkschaften werden auch als gesellschaftliche Partner
gebraucht, die für verlässliche und belastbare soziale
Standards mit einstehen. Nur ein Beispiel:
Unbeeindruckt von ökonomischer Krise und den Erwartungen der
Wirtschaft, allen voran der Banken, staatlich zu intervenieren oder
gar zu sanieren, ist der Ruf nach dem Rückzug des Staats nicht
verklungen. Nun soll er sich vor allem aus seiner sozialen
Verantwortung zurückziehen. Da wird die Privatisierung von
Lebensrisiken als Wundermittel gepriesen, wird eine Gesellschaft
propagiert, die soziale Sicherung privatwirtschaftlich organisieren
könne, als ob man die Wettbewerbsunfähigen und
Risikogruppen nach dem Gesichtspunkt der Rentabilität oder gar
im Falle der Insolvenz jeweils aus der Gesellschaft entlassen
könne.
Wenn es für den Einzelnen, wie für die Gesellschaft nur
noch ökonomische, aber keine auf Dauer angelegte Beziehungen
mehr gibt, bedeutet das die Erosion des Gemeinwesens. Das wäre
schlecht für die Demokratie und sehr schlecht für den
Einzelnen und seine Freiheit und seine Sicherheit.
Deshalb: Immer dann, wenn Fragen des Gemeinwohls thematisiert
werden, müssen auch katholische Arbeitnehmer aufhorchen:
gerade dann sind sie gefragt. Denn die Ur-Themen nicht zuletzt der
katholischen Soziallehre - Solidarität, Gerechtigkeit,
angstfreie Lebensverhältnisse, materielle Sicherheit, Bildung
- haben sich doch keineswegs erledigt. Allerdings erfordern sie
heute, aktuelle, andere Antworten als früher. Was für
eine Gesellschaft wollen wir eigentlich? Ich will drei Punkte
ansprechen:
1. Ich will in einer Gesellschaft leben, in der Menschen ohne Angst
verschieden sein können.
2. Ich will keine Gesellschaft in der die Menschen auf ihre
ökonomischen Rollen als Konsument und Produzent reduziert
werden. Es geht um "die Sonntagsfrage", wie ich es nenne: Ob wir
Zeiten und Räume verteidigen und erhalten, in dem die anderen
Dimensionen des Menschseins eine Chance haben, gelebt zu werden:
Menschlicher Beziehungsreichtum, die Fähigkeit zur
Kommunikation, Muße usw. und so fort. Ich glaube, den Sonntag
zu verteidigen, das ist eben kein kirchliches Sondergut, sondern
das ist ein Dienst an der Gesellschaft, den wir Christen
leisten.
Das alles erfordert einen Lernprozess, einen Prozess des Umdenkens
- wobei ich zugestehe, dass nicht jeder Rat von außen, was
dabei herauskommen soll, auch ein guter Rat ist. Dieser Prozess ist
kompliziert und langwierig. Entscheidend ist, dass die Arbeitnehmer
aus der Defensive, die ihnen die Rollenzuweisung
"Besitzstandswahrer" verpasst hat, herauskommen und auf der
Höhe der Zeit ihre Aufgabe wahrnehmen. Insofern hat eben jede
Krise eine Chance: sie hat die Diskussion und den Reformprozess
beschleunigt.
Wir können es uns aber in keinem Fall mehr leisten, uns jeder
Veränderung nach dem St.Florians-Prinzip in den Weg zu
stellen. Wir müssen begreifen, dass wir auf den Strukturwandel
funktionierende - und übrigens auch durchsetzbare Antworten
finden. Dafür wollte ich heute bei Ihnen werben. Im Einzelnen
kann ich mir immer auch eine Reihe anderer Problemlösungen
vorstellen, als sie jetzt im Bundestag auf den Weg gebracht sind.
Aber im Prinzip haben wir keine vernünftige andere
Möglichkeit, unsere sozialen Leistungen, den Sozialstaat
selbst bezahlbar und akzeptabel zu erhalten und damit eine gerechte
Gesellschaft für uns und unsere nachfolgenden Generationen zu
gestalten.
Die Stimme des KAB ist weiter und deutlicher gefragt! Streiten Sie,
wie es der ehemalige Bundesvorsitzende Hans Pappenheim gefordert
hat, für mutige Reformen in den sozialen
Sicherungssystemen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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