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Stand: 16.10.2003
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Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse anlässlich der Vorstellung des Buches "Die fremde Stadt. Breslau 1945" von Gregor Thum am 14.10.2003 in Berlin

Im Allgemeinen gehört es ja nicht zu den Hauptaufgaben des Bundestagspräsidenten, Dissertationen zu lesen oder sie öffentlich vorzustellen. Als ich jedoch vor einiger Zeit vom Siedler-Verlag wegen eines Buches mit dem Titel: "Die fremde Stadt. Breslau 1945" angefragt wurde, habe ich spontan zugesagt. Das hat Gründe, persönliche und politische.

"Breslau 1945" - dieser Name, diese Jahreszahl haben in meiner Lebensgeschichte eine besondere Bedeutung. Breslau ist die Stadt, in der meine Eltern lebten, in der ich 1943 geboren bin. Nun habe ich selbst kaum persönliche Erinnerungen. Aber ich weiß aus unendlich vielen Erzählungen meiner Eltern und Großeltern nur zu gut, was es bedeutete, in dieser Stadt zu leben - und sie verlassen, aus der Heimat fortgehen zu müssen. Nur mit viel Glück ist uns damals die Flucht aus dem brennenden Breslau gelungen, eine Flucht die viele Monate dauerte - für meine Mutter mit den beiden kleinen Jungen und ihre Eltern, bis mein Vater nach monatelanger Suche seine Familie in Thüringen wiederfand.
Ich bin - fern meiner Geburtsstadt - aufgewachsen mit den Erinnerungen meiner Eltern und Verwandten an Breslau, kannte die Straßen und Plätze und Kirchen mit Namen, lange bevor ich als Erwachsener sie besuchen konnte. Ich bin aufgewachsen mit der Liebe zu Breslau, sie war mir - so fern sie war - keine fremde, sondern eine vertraute Stadt.

Aber auch politisch hat das Schicksal der Stadt Breslau eine ganz eigene Bedeutung, wie die Studie von Gregor Thum zeigt. Im Einleitungskapitel seiner Arbeit erläutert der Schüler des bekannten Osteuropa-Historikers Karl Schlögel (Europa-Universität Viadrina) diese Sonderstellung so:

"Wer einen einzigen Ort sucht, an dem sich das ganze Drama Europas im 20. Jahrhundert verdichtet erfahren lässt, der findet ihn in dieser Stadt. Breslau ist das Prisma, durch das sich Europas Selbstzerstörung erkennen lässt."

Keine andere europäische Stadt vergleichbarer Größe - so formuliert Gregor Thum - hat einen ähnlich radikalen Bruch in ihrer Stadtgeschichte zu verzeichnen wie Breslau 1945: In nur drei Jahren wurde die gesamte noch verbliebene deutsche Bevölkerung nach Westen (Deutschland West und Ost) ausgesiedelt und durch polnische Siedler aus dem Osten ersetzt. Während andere Studien (wie das 2002 erschienene Buch "Die Blume Europas - Breslau - Wroclaw - Vartislavia" von Norman Davis und Roger Moorhouse) von der Frühzeit der Stadtgeschichte in Jahrhundertringen und Epochen der Stadtgeschichte voranschreiten, konzentriert sich Gregor Thum auf die dramatischste Phase in der Geschichte Breslaus; jene Wochen und Monate im Jahr 1945, als sich plötzlich alles änderte - für alle.

Walter Benjamins Forderung nach dem "Gang zu den Extremen", die Erkenntnissuche in den Brüchen, Lücken und Trümmern bildet zusammen mit Jan Assmanns Forschungen zum "kulturellen Gedächtnis" den geistigen, den methodischen Hintergrund dieser Arbeit. Ausgehend von der Extremsituation 1945 entwickelt Gregor Thum in drei Schritten das Bild einer von den Nationalsozialisten rücksichtslos zerstörten Stadt, die nach der Kapitulation zur "fremden Stadt" wurde:

"Drei Tage, nachdem die Festung kapituliert hatte, erschien die Vorhut der polnischen Verwaltung in Breslau. Der Bevölkerungsaustausch begann unverzüglich. Die polnischen Ansiedler, die im Laufe der nächsten Monate eintrafen, darunter viele Vertriebene aus Ostpolen, kamen in eine ihnen völlig fremde Stadt, während die Deutschen einen Ort verlassen mussten, der fremd geworden war."

"Bevölkerungsaustausch" - ich gestehe, dass ich diesen Ausdruck zunächst gewöhnungsbedürftig fand, auch die an anderer Stelle verwendete Bezeichnung "Zwangsmigration". Schließlich - so mein spontaner Einwand - geht es um millionenfache Vertreibung und Entwurzelung, um individuelle Schicksale, um Tod und Leid auf allen Seiten durch den vom NS-Macht- und Rassenwahn entfachten Krieg. Aber beim Weiterlesen wurde mir der Sinn dieser zurückhaltenden, deskriptiven Grundhaltung deutlich. Gregor Thums Studie hält sich bewusst fern von jeder emotionalen Form der Beschreibung, verzichtet auf Pathos und Anklagen, auf offene oder unterschwellige Beeinflussung des Lesers - ohne übrigens das Leid der Menschen aus den Augen zu verlieren. Über die zitierten Erlebnisberichte und Tagebuchaufzeichnungen kommt es unmittelbar und eindringlich zu Tage.

Und die Dimensionen dieses sog. "Bevölkerungstransfers" waren gewaltig. Acht bis zehn Millionen Menschen wurden innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren über Hunderte von Kilometern hin- und hergeschoben, darunter 3,5 Millionen Deutsche, die ihre schlesische Heimat verlassen mussten. Die meisten neuen Einwohner kamen aus den an Stalins Sowjetunion verloren gegangenen ostpolnischen Gebieten. Eindrucksvoll zeigt Thum, wie sich die ostpolnischen Bauern in dem urbanen Zentrum zunächst kaum zurechtfanden, wie sie versuchten, weiter ihre Tierhaltung zu betreiben, Kleingärten anzulegen. Und er zeigt, wie fremd ihnen die Stadt lange blieb, in der noch überall die Spuren der vertriebenen deutschen Bewohner zu finden waren. Um die Neuankömmlinge heimisch werden zu lassen, um vor allem auch den politischen Anspruch auf Breslau und die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Grenze dauerhaft abzusichern, wurde eine vollständig polnische Stadtgeschichte erfunden.

Von Anfang an ging es den kommunistischen Machthabern im Nachkriegspolen darum, den Mythos der "urpolnischen" Stadt Breslau im Bewusstsein der neuen Einwohner zu verankern. Gregor Thum beschreibt detailliert, wie nach 1945 ein Verfahren in Gang gesetzt wurde, das er als "Gedächtnispolitik" charakterisiert. So sprach man auf polnischer Seite historisch fragwürdig, aber politisch gezielt stets von den "Wiedergewonnenen Gebieten", die - auch dies ein politischer terminus technicus der Zeit nach 1945 - "repolonisiert" werden sollten.

In einer der vielen eindrucksvollen Formulierungen in seinem Buch spricht der Verfasser von den "Ingenieuren des kulturellen Gedächtnisses" (das erinnert Ostdeutsche an Stalins Diktum vom Schriftsteller als "Ingenieur der Seele"), die ans Werk gingen. Fast alles, was an die deutschen Phasen der Geschichte dieser Stadt erinnerte, sollte zurückgedrängt, überschrieben, unsichtbar gemacht, eine jahrhundertelange, komplexe Beziehungsgeschichte auf eine einzige Traditionslinie reduziert werden. Das belegen die Umbenennungsaktionen von deutschen Straßennamen, von Gebäuden und Denkmälern. Umgekehrt wurde die polnische Vergangenheit Breslaus als durchgängig herausgestellt, vor allem mit Blick auf die Traditionen des piastischen Polen seit dem zehnten Jahrhundert. Auch das ist, wie Thum zeigt, historisch fragwürdig - nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es selbstverständlich auch aus preußischer Perspektive einseitige Darstellungen der Stadtgeschichte gab, von den Germanisierungsphantasien der NS-Geschichtsdeutung ganz zu schweigen.

Eindrucksvoll ist die Aussagekraft von historischen Details: An den Veränderungen des Stadtwappens zeigt Gregor Thum, dass es in unterschiedlichen Phasen stets darum ging, die Geschichte Breslaus auf eine bestimmte Traditionslinie zu reduzieren. Auch die akribische Durchsicht populärer Handbücher und Stadtführer belegt, dass andere Aspekte der Breslauer Geschichte jeweils geflissentlich verschwiegen, umschrieben, verdrängt wurden. Das bekannteste Beispiel einer einseitigen Historisierung ist die Breslauer Altstadt. Sie wirkt heute, wie jeder Besucher weiß, als hätte der Krieg sie verschont. Tatsächlich wurde sie fast völlig zerstört und ist unter großen Anstrengungen historisch wiederaufgebaut worden - allerdings ganz im Sinne der polnischen Traditionen. So entfernte man zum Teil Jugendstilfassaden, um den Häusern ein barockes Äußeres zu geben oder ihnen eine der vielen gotischen Kuppeln aufzusetzen, die seitdem die Breslauer Altstadt prägen. Während zerstörte Gebäude aus preußischen Zeiten unbeachtet blieben, wurden die vorpreußischen Perioden umfassend rekonstruiert - z.B. die Dominsel als Sinnbild eines "polnischen Mittelalters". Das Buch "Die fremde Stadt" zeigt zugleich die Grenzen solcher Überschreibungs- und Verdrängungsversuche auf. So ließen noch die abgeschlagenen Inschriften an Häusern und Denkmälern, die Lücken und Brüche im Stadtkörper erkennen, dass es andere Phasen der Stadtgeschichte gegeben haben musste.

An all das erinnere ich mich von meinen mehrfachen Besuchen als DDR-Bürger in Wroclaw. Vor genau 30 Jahren verbrachte ich meinen 30. Geburtstag zufällig in meiner Geburtsstadt: Damals war die Stimmung zwischen Polen und Deutschen noch so, dass ich diese Tatsache lieber verheimlichte, als sie meinen polnischen Gesprächspartner zu offenbaren. Mir ist mein damaliges Gefühl noch gegenwärtig, das Gefühl einer doppelten Beschämung: Was sind wir Deutschen für ein entsetzliches Volk, dass wir durch einen verbrecherischen Krieg eine so schöne Heimat wie diese Stadt Breslau endgültig verlieren! Es tat aber auch weh zu sehen, wie sehr die deutsche Vergangenheit der Stadt tabuisiert, aus ihrem Bild und ihrem Gedächtnis zu tilgen versucht wurde, die doch auch ein untilgbarer Teil meiner Familiengeschichte war und für immer bleiben wird. Ich verdanke meinen Eltern die Erfahrung, dass liebende Erinnerung gänzlich ohne Gefühle der Rache und des "Revanchismus" auskommen kann. (Die Unterdrückung solcher liebender Erinnerung in der DDR - so wurde immer mal wieder verlangt, ich solle als Namen meiner Geburtsstadt "Wroclaw" angeben - ist mir immer als Unrecht erschienen.) Diese Erfahrung wurde damals wahrlich auf eine Probe gestellt.

Es bedurfte eines weiteren historischen Bruches in der Geschichte Breslaus und Polens, um die Voraussetzungen für ein umfassendes Erinnern zu schaffen. In jener Stadt, in der die Solidarnosc-Bewegung schon in den achtziger Jahren sehr stark vertreten war, hat nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Polen, in Osteuropa eine intensive Auseinandersetzung mit der Lokalgeschichte eingesetzt - erfreulicherweise nun auch gemeinsam von deutschen und polnischen Historikern, aber ebenso von lokalen Vereinen, von Studenten, von interessierten Bürgerinnen und Bürgern. Und die Ergebnisse sind bemerkenswert. Viele Benennungsaktionen aus der Zeit des Kommunismus wurden rückgängig gemacht, neue Bezeichnungen gesucht und sorgfältig abgewogen Deshalb sind nicht nur die wahrhaft historischen Verdienste von Solidarnosc im Stadtbild vertreten. Inzwischen gibt es in Breslau auch wieder ein Schiller-Denkmal, übrigens auch ein Bonhoeffer-Denkmal. Ebenso wurde bisher kaum beachteten Aspekten der Stadtgeschichte in Neubenennungen Rechnung getragen. "Nachholende Aneignung" nennt Gregor Thum diese neue Interesse an der Stadtgeschichte, die endlich eine ganze, vollständige Geschichte werden kann. Aber das Bemühen um lokale Identität ist damit längst noch nicht zu Ende: zu anderen Breslauer Bevölkerungsgruppen - den polnischen Juden, den Ukrainern, den Sinti und Roma - bleibt noch viel zu erforschen.

Gregor Thum, der inzwischen an der University of Pittsburgh lehrt, versteht sein Buch als einen "Beitrag zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte". Es ist Ausdruck einer Geschichtsschreibung, die ich im besten Sinne als kritisch, aufklärerisch und orientierend empfinde. Nach Friedrich Schlegel sollen Historiker "rückwärtsgewandte Propheten" sein - ein hoher Anspruch, den diese Studie jedoch nicht zu fürchten braucht. Schließlich kommt dieses Buch auch politisch zur rechten Zeit, zeigt in mehrfacher Hinsicht Perspektiven auf:

- Zum einen arbeitet es die Strukturen von sogenannter Gedächtnispolitik heraus, klärt auf über die Langzeitwirkung politischer Mythenbildung und beleuchtet die Arbeitsweise der so bezeichneten "Ingenieure des kulturellen Gedächtnisses", die es natürlich nicht nur in Breslau gab und gibt. Dabei hält sich das Buch fern vom postmodernem Pessimismus, vor allem von der bequemen Haltung, gegen alte und neue Mythen könne der Einzelne nichts tun. Im Gegenteil: diese Schrift ist ein Appell an die Mündigkeit des einzelnen Bürgers, fordert nachdrücklich auf zur kritischen Auseinandersetzung mit der Funktion und Wirkung solcher Mythen.

- Zum anderen bietet diese ungewöhnliche Stadtgeschichte auch eine wichtige europapolitische Perspektive. Polen und Deutschland verbinden heute enge und freundschaftliche Beziehungen. Wir sind Partner in der NATO, werden es im kommenden Jahr endlich auch in der Europäische Union sein. Deutschland hat sich stets nachdrücklich eingesetzt für den Beitritt Polens. Das ist ein Gebot historischer Gerechtigkeit vor dem Hintergrund der immer wieder von Kriegen und millionenfachem Leid, von Hass und Ausgrenzungen, Verdrängungen und Vertreibungen gebrochenen Geschichte unserer Völker.

Die Ost-Erweiterung der Europäischen Union, die Wiedervereinigung Europas eröffnet die historische Chance, auch das Thema Vertreibung im europäischen Kontext aufzuarbeiten. Nichts sollte dabei allerdings ferner liegen als eine rückswärtsgewandte Vertreibungdiskussion, gar eine Relativierung von Unrecht. Nicht um späte Aufrechnung von Unrecht, sondern um die gemeinsame Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen von Vertreibungen geht es - und um die Perspektiven für die Zukunft. Auch dazu gibt das Buch von Gregor Thum eine wichtigen Anstoß - indem es herausarbeitet, dass Breslau in den besten, glücklichsten Phasen seiner Geschichte eine zutiefst europäische Stadt war. Hier kreuzten sich die Handelswege von Ost nach West und Süd nach Nord, hier begegneten sich Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Kulturen zum Zweck des Handels, zum friedlichen Austausch, zum kulturellen Miteinander.

An diese guten, friedlichen Epochen zu erinnern und an sie anzuknüpfen, ist derzeit vielleicht wichtiger denn je. Für das zusammenwachsende Europa kann dieser Teil der bewegten und bewegenden Geschichte der Stadt Breslau ein gutes Modell sein. Auch deshalb - und diesen Hinweis will ich mir noch erlauben - ist dieses Buch über Breslau in einem viel produktiveren, zukunfstorientierteren Sinne eine "rückwärtsgeandte Prophetie" als manche Vorschläge zum "Europäischen Zentrum gegen Vertreibungen".

Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal etwas Persönliches sagen. Eine meiner ersten Reisen als neugewählter Bundestagspräsident sollte mich nach Polen führen. Aus Warschau wurde ich zu meiner freudigen Überraschung gefragt, ob ich nicht auch in meine Heimatstadt Breslau reisen wolle. Dort wurde ich als Sohn der Stadt herzlich begrüßt, zu meinem Geburtshaus geführt, mir wurden aus alten Adressbüchern Kopien der "Thierse-Seiten" überreicht, im Rathaus durfte ich dran erinnern, dass mein Großvater Magistratsschulrat der Stadt Breslau war, bis die Nazis ihn 1933 hinauswarfen, und davon, dass mein Vater als junger Rechtsanwalt in die Kanzlei seines Onkels genau gegenüber dem Rathaus eingetreten war ... Endlich waren meine, waren unsere deutschen Erinnerungen wieder Teil der Geschichte der Stadt Wroclaw und ihrer Gegenwart! - So gut kann es einem Schlesier heute in Wroclaw gehen, so gut kann es werden im vereinigten, versöhnten Europa!

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Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2003/pz_0310164
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