Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse anlässlich der Vorstellung des Buches "Die fremde Stadt. Breslau 1945" von Gregor Thum am 14.10.2003 in Berlin
Im Allgemeinen gehört es ja nicht zu den Hauptaufgaben des
Bundestagspräsidenten, Dissertationen zu lesen oder sie
öffentlich vorzustellen. Als ich jedoch vor einiger Zeit vom
Siedler-Verlag wegen eines Buches mit dem Titel: "Die fremde Stadt.
Breslau 1945" angefragt wurde, habe ich spontan zugesagt. Das hat
Gründe, persönliche und politische.
"Breslau 1945" - dieser Name, diese Jahreszahl haben in meiner
Lebensgeschichte eine besondere Bedeutung. Breslau ist die Stadt,
in der meine Eltern lebten, in der ich 1943 geboren bin. Nun habe
ich selbst kaum persönliche Erinnerungen. Aber ich weiß
aus unendlich vielen Erzählungen meiner Eltern und
Großeltern nur zu gut, was es bedeutete, in dieser Stadt zu
leben - und sie verlassen, aus der Heimat fortgehen zu müssen.
Nur mit viel Glück ist uns damals die Flucht aus dem
brennenden Breslau gelungen, eine Flucht die viele Monate dauerte -
für meine Mutter mit den beiden kleinen Jungen und ihre
Eltern, bis mein Vater nach monatelanger Suche seine Familie in
Thüringen wiederfand.
Ich bin - fern meiner Geburtsstadt - aufgewachsen mit den
Erinnerungen meiner Eltern und Verwandten an Breslau, kannte die
Straßen und Plätze und Kirchen mit Namen, lange bevor
ich als Erwachsener sie besuchen konnte. Ich bin aufgewachsen mit
der Liebe zu Breslau, sie war mir - so fern sie war - keine fremde,
sondern eine vertraute Stadt.
Aber auch politisch hat das Schicksal der Stadt Breslau eine ganz
eigene Bedeutung, wie die Studie von Gregor Thum zeigt. Im
Einleitungskapitel seiner Arbeit erläutert der Schüler
des bekannten Osteuropa-Historikers Karl Schlögel
(Europa-Universität Viadrina) diese Sonderstellung so:
"Wer einen einzigen Ort sucht, an dem sich das ganze Drama Europas
im 20. Jahrhundert verdichtet erfahren lässt, der findet ihn
in dieser Stadt. Breslau ist das Prisma, durch das sich Europas
Selbstzerstörung erkennen lässt."
Keine andere europäische Stadt vergleichbarer Größe
- so formuliert Gregor Thum - hat einen ähnlich radikalen
Bruch in ihrer Stadtgeschichte zu verzeichnen wie Breslau 1945: In
nur drei Jahren wurde die gesamte noch verbliebene deutsche
Bevölkerung nach Westen (Deutschland West und Ost)
ausgesiedelt und durch polnische Siedler aus dem Osten ersetzt.
Während andere Studien (wie das 2002 erschienene Buch "Die
Blume Europas - Breslau - Wroclaw - Vartislavia" von Norman Davis
und Roger Moorhouse) von der Frühzeit der Stadtgeschichte in
Jahrhundertringen und Epochen der Stadtgeschichte voranschreiten,
konzentriert sich Gregor Thum auf die dramatischste Phase in der
Geschichte Breslaus; jene Wochen und Monate im Jahr 1945, als sich
plötzlich alles änderte - für alle.
Walter Benjamins Forderung nach dem "Gang zu den Extremen", die
Erkenntnissuche in den Brüchen, Lücken und Trümmern
bildet zusammen mit Jan Assmanns Forschungen zum "kulturellen
Gedächtnis" den geistigen, den methodischen Hintergrund dieser
Arbeit. Ausgehend von der Extremsituation 1945 entwickelt Gregor
Thum in drei Schritten das Bild einer von den Nationalsozialisten
rücksichtslos zerstörten Stadt, die nach der Kapitulation
zur "fremden Stadt" wurde:
"Drei Tage, nachdem die Festung kapituliert hatte, erschien die
Vorhut der polnischen Verwaltung in Breslau. Der
Bevölkerungsaustausch begann unverzüglich. Die polnischen
Ansiedler, die im Laufe der nächsten Monate eintrafen,
darunter viele Vertriebene aus Ostpolen, kamen in eine ihnen
völlig fremde Stadt, während die Deutschen einen Ort
verlassen mussten, der fremd geworden war."
"Bevölkerungsaustausch" - ich gestehe, dass ich diesen
Ausdruck zunächst gewöhnungsbedürftig fand, auch die
an anderer Stelle verwendete Bezeichnung "Zwangsmigration".
Schließlich - so mein spontaner Einwand - geht es um
millionenfache Vertreibung und Entwurzelung, um individuelle
Schicksale, um Tod und Leid auf allen Seiten durch den vom
NS-Macht- und Rassenwahn entfachten Krieg. Aber beim Weiterlesen
wurde mir der Sinn dieser zurückhaltenden, deskriptiven
Grundhaltung deutlich. Gregor Thums Studie hält sich bewusst
fern von jeder emotionalen Form der Beschreibung, verzichtet auf
Pathos und Anklagen, auf offene oder unterschwellige Beeinflussung
des Lesers - ohne übrigens das Leid der Menschen aus den Augen
zu verlieren. Über die zitierten Erlebnisberichte und
Tagebuchaufzeichnungen kommt es unmittelbar und eindringlich zu
Tage.
Und die Dimensionen dieses sog. "Bevölkerungstransfers" waren
gewaltig. Acht bis zehn Millionen Menschen wurden innerhalb eines
Zeitraums von vier Jahren über Hunderte von Kilometern hin-
und hergeschoben, darunter 3,5 Millionen Deutsche, die ihre
schlesische Heimat verlassen mussten. Die meisten neuen Einwohner
kamen aus den an Stalins Sowjetunion verloren gegangenen
ostpolnischen Gebieten. Eindrucksvoll zeigt Thum, wie sich die
ostpolnischen Bauern in dem urbanen Zentrum zunächst kaum
zurechtfanden, wie sie versuchten, weiter ihre Tierhaltung zu
betreiben, Kleingärten anzulegen. Und er zeigt, wie fremd
ihnen die Stadt lange blieb, in der noch überall die Spuren
der vertriebenen deutschen Bewohner zu finden waren. Um die
Neuankömmlinge heimisch werden zu lassen, um vor allem auch
den politischen Anspruch auf Breslau und die Gebiete östlich
der Oder-Neiße-Grenze dauerhaft abzusichern, wurde eine
vollständig polnische Stadtgeschichte erfunden.
Von Anfang an ging es den kommunistischen Machthabern im
Nachkriegspolen darum, den Mythos der "urpolnischen" Stadt Breslau
im Bewusstsein der neuen Einwohner zu verankern. Gregor Thum
beschreibt detailliert, wie nach 1945 ein Verfahren in Gang gesetzt
wurde, das er als "Gedächtnispolitik" charakterisiert. So
sprach man auf polnischer Seite historisch fragwürdig, aber
politisch gezielt stets von den "Wiedergewonnenen Gebieten", die -
auch dies ein politischer terminus technicus der Zeit nach 1945 -
"repolonisiert" werden sollten.
In einer der vielen eindrucksvollen Formulierungen in seinem Buch
spricht der Verfasser von den "Ingenieuren des kulturellen
Gedächtnisses" (das erinnert Ostdeutsche an Stalins Diktum vom
Schriftsteller als "Ingenieur der Seele"), die ans Werk gingen.
Fast alles, was an die deutschen Phasen der Geschichte dieser Stadt
erinnerte, sollte zurückgedrängt, überschrieben,
unsichtbar gemacht, eine jahrhundertelange, komplexe
Beziehungsgeschichte auf eine einzige Traditionslinie reduziert
werden. Das belegen die Umbenennungsaktionen von deutschen
Straßennamen, von Gebäuden und Denkmälern.
Umgekehrt wurde die polnische Vergangenheit Breslaus als
durchgängig herausgestellt, vor allem mit Blick auf die
Traditionen des piastischen Polen seit dem zehnten Jahrhundert.
Auch das ist, wie Thum zeigt, historisch fragwürdig - nicht
ohne darauf hinzuweisen, dass es selbstverständlich auch aus
preußischer Perspektive einseitige Darstellungen der
Stadtgeschichte gab, von den Germanisierungsphantasien der
NS-Geschichtsdeutung ganz zu schweigen.
Eindrucksvoll ist die Aussagekraft von historischen Details: An den
Veränderungen des Stadtwappens zeigt Gregor Thum, dass es in
unterschiedlichen Phasen stets darum ging, die Geschichte Breslaus
auf eine bestimmte Traditionslinie zu reduzieren. Auch die
akribische Durchsicht populärer Handbücher und
Stadtführer belegt, dass andere Aspekte der Breslauer
Geschichte jeweils geflissentlich verschwiegen, umschrieben,
verdrängt wurden. Das bekannteste Beispiel einer einseitigen
Historisierung ist die Breslauer Altstadt. Sie wirkt heute, wie
jeder Besucher weiß, als hätte der Krieg sie verschont.
Tatsächlich wurde sie fast völlig zerstört und ist
unter großen Anstrengungen historisch wiederaufgebaut worden
- allerdings ganz im Sinne der polnischen Traditionen. So entfernte
man zum Teil Jugendstilfassaden, um den Häusern ein barockes
Äußeres zu geben oder ihnen eine der vielen gotischen
Kuppeln aufzusetzen, die seitdem die Breslauer Altstadt
prägen. Während zerstörte Gebäude aus
preußischen Zeiten unbeachtet blieben, wurden die
vorpreußischen Perioden umfassend rekonstruiert - z.B. die
Dominsel als Sinnbild eines "polnischen Mittelalters". Das Buch
"Die fremde Stadt" zeigt zugleich die Grenzen solcher
Überschreibungs- und Verdrängungsversuche auf. So
ließen noch die abgeschlagenen Inschriften an Häusern
und Denkmälern, die Lücken und Brüche im
Stadtkörper erkennen, dass es andere Phasen der
Stadtgeschichte gegeben haben musste.
An all das erinnere ich mich von meinen mehrfachen Besuchen als
DDR-Bürger in Wroclaw. Vor genau 30 Jahren verbrachte ich
meinen 30. Geburtstag zufällig in meiner Geburtsstadt: Damals
war die Stimmung zwischen Polen und Deutschen noch so, dass ich
diese Tatsache lieber verheimlichte, als sie meinen polnischen
Gesprächspartner zu offenbaren. Mir ist mein damaliges
Gefühl noch gegenwärtig, das Gefühl einer doppelten
Beschämung: Was sind wir Deutschen für ein entsetzliches
Volk, dass wir durch einen verbrecherischen Krieg eine so
schöne Heimat wie diese Stadt Breslau endgültig
verlieren! Es tat aber auch weh zu sehen, wie sehr die deutsche
Vergangenheit der Stadt tabuisiert, aus ihrem Bild und ihrem
Gedächtnis zu tilgen versucht wurde, die doch auch ein
untilgbarer Teil meiner Familiengeschichte war und für immer
bleiben wird. Ich verdanke meinen Eltern die Erfahrung, dass
liebende Erinnerung gänzlich ohne Gefühle der Rache und
des "Revanchismus" auskommen kann. (Die Unterdrückung solcher
liebender Erinnerung in der DDR - so wurde immer mal wieder
verlangt, ich solle als Namen meiner Geburtsstadt "Wroclaw" angeben
- ist mir immer als Unrecht erschienen.) Diese Erfahrung wurde
damals wahrlich auf eine Probe gestellt.
Es bedurfte eines weiteren historischen Bruches in der Geschichte
Breslaus und Polens, um die Voraussetzungen für ein
umfassendes Erinnern zu schaffen. In jener Stadt, in der die
Solidarnosc-Bewegung schon in den achtziger Jahren sehr stark
vertreten war, hat nach dem Zusammenbruch des kommunistischen
Systems in Polen, in Osteuropa eine intensive Auseinandersetzung
mit der Lokalgeschichte eingesetzt - erfreulicherweise nun auch
gemeinsam von deutschen und polnischen Historikern, aber ebenso von
lokalen Vereinen, von Studenten, von interessierten
Bürgerinnen und Bürgern. Und die Ergebnisse sind
bemerkenswert. Viele Benennungsaktionen aus der Zeit des
Kommunismus wurden rückgängig gemacht, neue Bezeichnungen
gesucht und sorgfältig abgewogen Deshalb sind nicht nur die
wahrhaft historischen Verdienste von Solidarnosc im Stadtbild
vertreten. Inzwischen gibt es in Breslau auch wieder ein
Schiller-Denkmal, übrigens auch ein Bonhoeffer-Denkmal. Ebenso
wurde bisher kaum beachteten Aspekten der Stadtgeschichte in
Neubenennungen Rechnung getragen. "Nachholende Aneignung" nennt
Gregor Thum diese neue Interesse an der Stadtgeschichte, die
endlich eine ganze, vollständige Geschichte werden kann. Aber
das Bemühen um lokale Identität ist damit längst
noch nicht zu Ende: zu anderen Breslauer Bevölkerungsgruppen -
den polnischen Juden, den Ukrainern, den Sinti und Roma - bleibt
noch viel zu erforschen.
Gregor Thum, der inzwischen an der University of Pittsburgh lehrt,
versteht sein Buch als einen "Beitrag zur deutsch-polnischen
Beziehungsgeschichte". Es ist Ausdruck einer Geschichtsschreibung,
die ich im besten Sinne als kritisch, aufklärerisch und
orientierend empfinde. Nach Friedrich Schlegel sollen Historiker
"rückwärtsgewandte Propheten" sein - ein hoher Anspruch,
den diese Studie jedoch nicht zu fürchten braucht.
Schließlich kommt dieses Buch auch politisch zur rechten
Zeit, zeigt in mehrfacher Hinsicht Perspektiven auf:
- Zum einen arbeitet es die Strukturen von sogenannter
Gedächtnispolitik heraus, klärt auf über die
Langzeitwirkung politischer Mythenbildung und beleuchtet die
Arbeitsweise der so bezeichneten "Ingenieure des kulturellen
Gedächtnisses", die es natürlich nicht nur in Breslau gab
und gibt. Dabei hält sich das Buch fern vom postmodernem
Pessimismus, vor allem von der bequemen Haltung, gegen alte und
neue Mythen könne der Einzelne nichts tun. Im Gegenteil: diese
Schrift ist ein Appell an die Mündigkeit des einzelnen
Bürgers, fordert nachdrücklich auf zur kritischen
Auseinandersetzung mit der Funktion und Wirkung solcher
Mythen.
- Zum anderen bietet diese ungewöhnliche Stadtgeschichte auch
eine wichtige europapolitische Perspektive. Polen und Deutschland
verbinden heute enge und freundschaftliche Beziehungen. Wir sind
Partner in der NATO, werden es im kommenden Jahr endlich auch in
der Europäische Union sein. Deutschland hat sich stets
nachdrücklich eingesetzt für den Beitritt Polens. Das ist
ein Gebot historischer Gerechtigkeit vor dem Hintergrund der immer
wieder von Kriegen und millionenfachem Leid, von Hass und
Ausgrenzungen, Verdrängungen und Vertreibungen gebrochenen
Geschichte unserer Völker.
Die Ost-Erweiterung der Europäischen Union, die
Wiedervereinigung Europas eröffnet die historische Chance,
auch das Thema Vertreibung im europäischen Kontext
aufzuarbeiten. Nichts sollte dabei allerdings ferner liegen als
eine rückswärtsgewandte Vertreibungdiskussion, gar eine
Relativierung von Unrecht. Nicht um späte Aufrechnung von
Unrecht, sondern um die gemeinsame Auseinandersetzung mit den
Ursachen und Folgen von Vertreibungen geht es - und um die
Perspektiven für die Zukunft. Auch dazu gibt das Buch von
Gregor Thum eine wichtigen Anstoß - indem es herausarbeitet,
dass Breslau in den besten, glücklichsten Phasen seiner
Geschichte eine zutiefst europäische Stadt war. Hier kreuzten
sich die Handelswege von Ost nach West und Süd nach Nord, hier
begegneten sich Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und
Kulturen zum Zweck des Handels, zum friedlichen Austausch, zum
kulturellen Miteinander.
An diese guten, friedlichen Epochen zu erinnern und an sie
anzuknüpfen, ist derzeit vielleicht wichtiger denn je.
Für das zusammenwachsende Europa kann dieser Teil der bewegten
und bewegenden Geschichte der Stadt Breslau ein gutes Modell sein.
Auch deshalb - und diesen Hinweis will ich mir noch erlauben - ist
dieses Buch über Breslau in einem viel produktiveren,
zukunfstorientierteren Sinne eine "rückwärtsgeandte
Prophetie" als manche Vorschläge zum "Europäischen
Zentrum gegen Vertreibungen".
Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal etwas
Persönliches sagen. Eine meiner ersten Reisen als
neugewählter Bundestagspräsident sollte mich nach Polen
führen. Aus Warschau wurde ich zu meiner freudigen
Überraschung gefragt, ob ich nicht auch in meine Heimatstadt
Breslau reisen wolle. Dort wurde ich als Sohn der Stadt herzlich
begrüßt, zu meinem Geburtshaus geführt, mir wurden
aus alten Adressbüchern Kopien der "Thierse-Seiten"
überreicht, im Rathaus durfte ich dran erinnern, dass mein
Großvater Magistratsschulrat der Stadt Breslau war, bis die
Nazis ihn 1933 hinauswarfen, und davon, dass mein Vater als junger
Rechtsanwalt in die Kanzlei seines Onkels genau gegenüber dem
Rathaus eingetreten war ... Endlich waren meine, waren unsere
deutschen Erinnerungen wieder Teil der Geschichte der Stadt Wroclaw
und ihrer Gegenwart! - So gut kann es einem Schlesier heute in
Wroclaw gehen, so gut kann es werden im vereinigten,
versöhnten Europa!
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