Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, aus Anlass des MAINZER MEDIEN DISPUTS am 4. November 2003
Es gilt das gesprochene Wort
"Was ich Ihnen vortragen will, ist eine Polemik, also eine
Zuspitzung. Ich will reden vom problematischen Verhältnis
zwischen dem immer absoluter/"totalitärer" werdenden
Unterhaltungszwang in den Medien und der einigermaßen
ernsthaften, also langsamen und langweiligen Politik! Unterhaltung,
das will ich ausdrücklich voranstellen, als
Beschäftigung, die keine unmittelbaren Ziele verfolgt, nicht
auf Durchsetzung, auf Erfolg, sondern allenfalls auf angenehmen
Zeitvertreib ausgerichtet ist, gehört zu unseren menschlichen
Grundbedürfnissen. Sie gehört nicht zuletzt zum Auftrag
der öffentlich-rechtlichen Medien, allerdings neben Bildung
und Information, nicht stattdessen.
Es gibt noch Bildung und Information im öffentlich-rechtlichen
Rundfunk und Fernsehen und es gibt einordnenden, dabei durchaus
meinungsfreudigen Qualitätsjournalismus in Tageszeitungen und
in Wochenzeitungen. Kann man deshalb - ein wenig intellektuell
hochmütig, ein wenig resigniert - den Abstieg von
Unterhaltungskultur zum Boulevard, von zweckfreier Kommunikation zu
sinnloser Unterhaltung als bloßen Niveauverlust beklagen und
zur Tagesordnung übergehen? Was ginge das mich an. Das
beträfe nur meinen persönlichen Geschmack, beträfe
mich als Politiker nur dann, wenn es stimmt, dass die Sorgfalt und
der Ernst politischer Debatten vom Einfluss der "Regenbogenpresse"
abhängt, wenn es stimmt, dass nahezu alles in den Dienst von
Unterhaltung genommen wird. Dann stellte sich die Sorge ein, dass
die Funktionen der Pressefreiheit für die Demokratie nicht
mehr gewährleistet sein könnten.
Wir müssen feststellen, dass im Fernsehen die Grenzen zwischen
ernsthafter Information und spaßhafter Unterhaltung immer
häufiger verschwimmen; dass "Bild" angesichts einer
Reichweite, die von kaum einem Fernsehsender übertroffen wird,
die Rolle eines Leitmediums erhält; dass die hochgelobten
Regionalzeitungen dabei sind, Qualitätsjournalismus auf dem
Umweg über die Arbeitsbedingungen abzuschaffen. Ausgegliederte
Lokalredaktionen ersetzen Berufsjournalisten, die über genaue
Kenntnisse in der Region verfügen und politische
Zusammenhänge erkennen können, durch billige Jung- oder
Nebenerwerbsjournalisten, die bestenfalls ereignisorientierten
"Häppchenjournalismus" bieten können. Hauptsache: die
Lohnkosten sinken. Die ohnehin immer prekäre innere
Pressefreiheit gerät unter ökonomischem Wettbewerbsdruck
und folglich auf den Rückzug. Selbst in sogenannten
Qualitätszeitungen fehlt immer öfter die Zeit zu einer
sorgfältigen Recherche. Schnelligkeit hat Vorrang:
übrigens auch auf Kosten von Rechtschreibung und begrifflicher
Genauigkeit. Spartenprogramme im Radio und zunehmend auch im
Fernsehen segmentieren das Publikum. "Phoenix" oder "n-tv" halten
eine Sehbeteiligung um die 0,7 % für einen Erfolg.
In einer Berliner Obdachlosenzeitung las ich Folgendes: "Im Grunde
genommen brauchen die Medien keine Wirklichkeit mehr. Sie sind
durchaus in der Lage, ein System der Wirklichkeit zu inszenieren,
auf das sie sich fortan beziehen." Tatsächlich haben wir
natürlich noch eine pluralistische Medienlandschaft. Aber
immer öfter gewinnt man den Eindruck, dass Meldungen "die
Runde machen". Ein Medium fängt an, alle anderen folgen,
fühlen sich verpflichtet, eine Sache zu behandeln, nicht weil
sie als wichtig gilt, sondern weil andere sie wichtig gemacht
haben. Dieses Leitmedium ist meist "Bild". Ein anderes das
Fernsehen. Talk-Shows "machen" Nachrichten, wie oft ihnen das
gelingt, wird in den Redaktionen als Erfolg gezählt.
Die Fernsehkritikerin Klaudia Brunst schreibt über politische
Talk-Shows (es gibt dafür kein deutsches Wort), sie seien
"redundant, simplifizierend, flüchtig und damit
entpolitisierend". Ich fürchte, sie hat Recht. Man kann von
diesen meist gesehenen politischen Sendungen im deutschen Fernsehen
Zeitvertreib erwarten, aber tatsächlich auch Information? Das
ist keine totale Ablehnung solcher Talkshows, schließlich
nehme ich gelegentliche Einladungen gelegentlich an. Und Politik
wird in ihnen ja durchaus transportiert.
Die Verwertungsketten, die Sendungen von rtl (Bertelsmann)
verbinden mit Skandalmeldungen in "Bild" (Springer) und in
Verkaufserfolge für Bücher und Musikkonserven
münden, die bei Bertelsmann erscheinen und an denen
gelegentlich die Ehefrau des "Bild"-Chefredakteurs beteiligt ist,
erschaffen eine eigene Wirklichkeit, die das Verhältnis von
Wichtigem und Unwichtigem in ihr Gegenteil verkehren. Themen, die
sich den Mitteln des "Boulevard", der "Regenbogenpresse" entziehen,
kommen nicht mehr vor, oder sie werden emotionalisiert. Die
Grundversorgung mit Empörung ist gewährleistet.
Seit es kommerzielles Fernsehen gibt, verliert die vergleichsweise
schwerere Kost politischer Information und ethischer Diskurse den
Wettbewerb um die Zuschauer an die leichte Unterhaltung. Das war
eigentlich vorhersehbar.
Aus Anlass des 50. Jahrestages der Gründung der ARD habe ich
die öffentlich-rechtlichen Medien für die in dem dualen
System besseren gehalten. Das hat mir Kritik, ja Hass von
Vertretern der Privaten eingebracht. Nun muss ich zur Kenntnis
nehmen, dass es inzwischen Konvergenzen gibt. Die einen mühen
sich um bessere Informationssendungen - "gut so", die anderen
mühen sich um bessere Unterhaltung - "gut so" und beide
Pfeiler des dualen Systems mischen beides fröhlich miteinander
- "gut so". Die politische Talk-Show ist vielleicht der
augenfälligste Beleg dafür, dass man Information und
Unterhaltung nicht mehr klar unterscheiden kann. So, wie politische
Sendungen unterhalten sollen, gibt es in scheinbar eindeutigen
Unterhaltungssendungen politische Information und Meinung. Das gilt
längst nicht nur für die "Lindenstraße".
Vor einigen Wochen wurde der Intendant des Hessischen Rundfunks mit
der Auffassung zitiert, die Quote sei ein Indikator demokratischer
Meinungsbildung. Welch ein bestürzender Beleg für die
Konvergenz und welch Irrtum! Meinungsbildung ist nicht das spontane
Meinen, sondern vor der Meinung steht die Bildung. Meinungsbildung
setzt Wissen, Mühewaltung, Auseinandersetzung voraus und
mündet in einem Standpunkt. Am Markt der Waren kann ich
spontan sagen: das will ich haben - wenn ich es mir leisten kann.
Am "Markt" der Meinungen müsste ich es nach traditionellem
Verständnis mit meinen ethischen Überzeugungen,
Standpunkten zu tun bekommen, die mir helfen eine
verabscheuungswürdige rechtsextreme Meinung von einer
freiheitlichen konservativen zu unterscheiden und nicht beiden den
gleichen Wert zuzumessen. Die Gleichsetzung der Zuschauerquote mit
dem demokratischen Prozess ist gleichbedeutend mit seiner
Auslieferung an die Medienlogik oder an schieren Populismus. Wenn
Politik auf der Bühne der Medien allein auf den Menschen als
Marktteilnehmer als Konsumenten schielt, dann ignoriert sie den
Teilnehmer an der Beteiligungsdemokratie, also den Bürger. Sie
liefert sich schutzlos launischen Stimmungstrends aus.
"Florida-Rolf" ist ein Vorgeschmack; die plebiszitäre
Gouverneursabberufung in Kalifornien bereits die Realität
dieses konsumistischen Politikverständnisses. Der Leiter der
Landesmedienanstalt NRW, Norbert Schneider, kritisiert die
Quotenhörigkeit so: wenn die Quote das flächendeckende
Kriterium ist, wird der Zuschauer indirekt für die
Qualität der Medieninhalte verantwortlich gemacht. "Er
bekommt, was er will....Diese Instrumentalisierung des Publikums
nivelliert nicht nur Menschen und Sachen....In dieser Abgabe von
Senderkompetenz an die Empfängerkompetenz vollzieht sich (...)
ein partieller Verzicht auf Berufsausübung." Man sollte das
dem Herrn Intendanten in Frankfurt einmal mitteilen.
Wie wirkt die Quote als einziges Erfolgskriterium auf Politik? Sie
bewirkt Reduktion. Quotenhörigen geht es - wie dem Boulevard -
um Streit, um Rücktritte, um scheinbare oder tatsächliche
Widersprüche, um Katastrophen und andere Sensationen.
Während die Wirklichkeit komplizierter wird, interessiert er
sich vorwiegend für Vereinfachungen oder lenkt gleich ganz von
ihr ab.
Das Fernsehen fühlt sich auch bei höchster
Seriosität angehalten, Politiker und andere Teilnehmer an der
öffentlichen Kommunikation nachgerade zu nötigen, um so
einfacher und kürzer Stellung zu nehmen, desto komplizierter
die Sachverhalte sind. Zwischen der Wirklichkeit und ihrer medial
vermittelten Wahrnehmung entsteht eine Kluft und wenn dieser Trend
zur Vereinfachung anhält, wird die Wirklichkeit
tatsächlich in den Medien nicht mehr stattfinden.
Ganz im Sinne des Bundesverfassungsgerichts, das 1984 das
Nötige zum Dualen System geurteilt hat, geht es mir nicht
darum, Klatsch und Tratsch gegen seriösen politischen
Journalismus einfach nur auszuspielen und hochnäsig die
mediale Befriedigung der Unterhaltungsbedürfnisse zu
denunzieren. Die Sorge ist vielmehr, dass vor lauter
Unterhaltungsanspruch Medien nicht mehr sorgfältig berichten,
die Wirklichkeit nicht mehr abbilden, den Ernst verlieren,
Interessen und Interessenten nicht mehr kenntlich machen und so
letztlich die Demokratie gefährden. Ich sehe eine solche
Gefahr, wenn stimmt, dass "die Demokratie die einzige
Herrschaftsform (ist), die in ständig neuer Kraftanstrengung
gelernt werden muss." (O. Negt)
Wie und wo soll dieses Lernen stattfinden, wenn alles dem Diktat
der Unterhaltung unterworfen ist und über die Politik, die
sich dem Unterhaltungsschema nicht unterwerfen lässt,
schließlich gar nicht mehr differenziert informiert
wird?
Demokratie lebt von Öffentlichkeit. Sie erst schafft
politische Legitimation. Das setzt aber nicht nur voraus, dass der
politische Akteur öffentlich handelt, sondern auch, dass die
Massenmedien ihre Funktion in diesem Zusammenhang erfüllen.
Die Zukunft der Demokratie, schreibt der hier in der Nähe von
Mainz lehrende Politologe Sarcinelli, hänge nicht zuletzt
davon ab, "ob sich die Interaktionseffekte zwischen Politik und
Medien als hilfreich bei der Lösung politischer Probleme
erweisen oder als problemverstärkend."
Natürlich kümmert es ihn nicht, ob Medien der Regierung
oder der Opposition "helfen", sondern dass sie sich überhaupt
angemessen mit Politik befassen. Er hätte auch daran erinnern
können, dass die Pressefreiheit eine dienende Freiheit im
Sinne der Demokratie ist; sie hat die Aufgabe der Rückkopplung
von verliehener politischer Macht an den Souverän. So gesehen
umfasst Art. 5 GG nicht die Freiheit, auf ernste politische
Information und Meinungsbildung zu verzichten. Dahin wird aber die
Entwicklung getrieben. Sarcinelli schreibt: "Die Medien entfernen
sich weiter von der Politik und folgen stärker ihrer eigenen
Logik." Die sei bestimmt durch die Nachfrage des Marktes, auf dem
"die Erhöhung der Informationsqualität nicht unbedingt
zur Steigerung der Verkaufszahlen und Einschaltquoten"
beitrage.
Die Vermischung von "Ernst" und Unterhaltung ist zunächst
recht harmlos. Wenn in der Schule oder in einem Technikmuseum
Momente des Spiels und der Spannung genutzt werden, um Interesse an
Mathematik, an Physik oder an Politik also auf den ersten Blick
sperrige Materien zu wecken, wird sich niemand beschweren. Es
handelt sich jedenfalls um Politik, Physik oder Mathematik, die
Gegenstand der Kommunikation sind und die unterhaltenden Elemente
dienen als Transportmittel. Zum Diktat der Unterhaltung kommt es
erst, wenn diese Zweck-Mittel Relation umgekehrt wird. Dann geht es
in Wahrheit nicht mehr um Politik, die mit unterhaltendem Mittel
ver"mittelt" wird, sondern der Zweck ist Unterhaltung, die sich des
Gegenstands der Politik bloß noch als Mittel bedient. Diese
Tendenz nimmt zu. Ohne Gegensteuern wäre schließlich
eine Unterscheidung zwischen den im Sinne der Legitimation von
Politik wichtigen und ernsten Angelegenheiten einerseits und dem
für wichtig nur Erklärten (wegen des Unterhaltungswerts
oder der Nützlichkeit für die Verwertungsketten) kaum
noch möglich.
Diese Unterscheidung ist aber das Metier der politischen
Berichterstattung.
Es hat sich nämlich nichts daran geändert, dass es in der
Politik um ernste, immer öfter immer schwierigere, fast immer
folgenreiche Güterabwägungen und Entscheidungen geht.
Parlamentarier und Regierungen wollen das Richtige tun. Der Streit
darüber, was das Richtige ist, kann gelegentlich unterhaltsam,
kurzweilig, leidenschaftlich sein. In der Regel ist er mühsam,
von Zielkonflikten und vielen Teufeln im Detail belastet,
zeitraubend und ernst. Natürlich ist es spannend, ob es dem
Bundeskanzler und seiner Koalition gelingt, die "Agenda 2010"
durchzusetzen, oder ob es Frau Merkel gelingt, die Verbundenheit
der CDU mit der katholischen Soziallehre auf zu lösen. Aber
neben dem "event" eines Sieges oder einer Niederlage dürfte es
für die Öffentlichkeit wichtiger sein, welche Art von
Gesellschaft, welche Regeln mit welchen Folgen gerade gestaltet
werden. Nur dann kann öffentlich entschieden werden, ob der
Entwurf akzeptiert, aktiv befördert, abgelehnt oder durch
realistische Alternativen ersetzt werden soll.
Ich erinnere an die längst vergessenen Fernseh-"Duelle" der
Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl vor erst einem Jahr: es
wurde mehr darüber gesendet und geschrieben, wie sie gewirkt,
wie sie gesprochen, wie sich gehalten haben und ob die Farbe ihrer
Krawatten angemessen war, als darüber, was sie gesagt und wie
sie es begründet haben. Nicht, dass es illegitim oder
intellektuell niveaulos wäre, die Art und Weise des Auftretens
von Politikern zu diskutieren. Spätestens seit dem "Duell"
zwischen Nixon und Kennedy wissen wir, welche Bedeutung dem Bild im
Vergleich zum Wort zukommt. Aber wenn es nur noch um
Äußerlichkeiten und um unterhaltende Aspekte geht, wenn
der Anspruch an Politik erhoben wird, in diesem Sinne
"mediengerechter" zu werden, dann stimmt etwas nicht mehr.
Als es im Bundestag um das sogenannte Arbeitslosengeld II ging,
erlebte insbesondere die SPD eine durchaus sachlich begründete
Kontroverse. Sie handelte u.a. davon, ob ältere Arbeitslose
ihre Ersparnisse, ihre Altersvorsorge, die sie als Rentner zu
verbrauchen planten, schon als noch arbeitswillige
Erwerbsfähige verbrauchen sollten, ehe sie Unterstützung
durch das Arbeitslosengeld II bekommen können. Man konnte das
durchaus in den Medien erfahren - im Vordergrund stand die
Sachfrage allerdings nicht. Im Vordergrund standen Sieg oder
Niederlage des Bundeskanzlers, standen sogenannte Abweichler, stand
die Geschlossenheit der Koalition. Natürlich ging es darum
auch. Aber die Gewichtung war falsch: es ist normal, dass das
Parlament - auch die Regierungsmehrheit - Gesetze nicht nur
verabschiedet, sondern sie zuvor diskutiert, prüft und
verändert. Es handelt sich immer um einen Entscheidungsprozess
und nicht um ein "Event", bei dem Vorlagen "abgenickt" werden oder
eben nicht. Außergewöhnlich war, dass das Ringen um die
richtige Lösung, um den akzeptablen Kompromiss unter Zeitdruck
eine Dramatik erreichte, die nicht alltäglich ist. Wir waren
in dieser Zeit sehr unterhaltsam, wenn Sie so wollen:
mediengerecht. Aber ob das dem Ansehen der Politik, des Parlaments,
der SPD genutzt hat, ist zweifelhaft. Es hat übrigens niemand
gelobt, dass diese Dramatik mediengerecht war. Vielmehr wurde
getadelt, dass es zu dieser Dramatik überhaupt gekommen war.
Es besteht also noch Hoffnung.
Der Boulevardisierung der Politik wird die Vermittlung von Politik
als Prozess geopfert. Ich habe den Eindruck, dass stinknormale
Arbeit an Gesetzen gar nicht mehr möglich ist angesichts einer
immer hysterischer werdenden politischen Kommunikation. Lassen Sie
mich das etwas schematisch erläutern. Alle Entscheidungen
haben eine Vorgeschichte, haben dem gesellschaftlichen Wandel
unterliegende Voraussetzungen, stehen im Streit konkurrierender
Interessen. Einem Referentenentwurf aus einem Ministerium mag man
das schon ansehen. Wichtig ist er nicht. Wenn er an das Licht der
Öffentlichkeit gebracht wird, kennt ihn der zuständige
Minister nicht einmal unbedingt. Es ist noch ein weiter Weg bis zur
Kabinettvorlage, die völlig anders aussehen kann. Das
hält Medien nicht davon ab, den Inhalt des Referentenentwurfs
als Entscheidung oder politisch bereits abgestimmte Planung zu
präsentieren und Empörung darüber zu entfachen. Die
Regierung hat in so einem Fall nicht mehr die Möglichkeit,
sich einen Erkenntnisstand aufschreiben zu lassen, ihn zu beraten
und schließlich eine politische Richtung vorzugeben. Kommt es
trotz voreiliger Empörung zu einem Kabinettsbeschluss,
entsteht der Eindruck, die Angelegenheit sei entschieden. Das
stimmt aber nicht. Nur wenige Gesetzentwürfe verlassen den
Bundestag so, wie sie eingebracht worden sind. In der letzten
Legislaturperiode blieben von 405 Gesetzentwürfen (ohne
völkerrechtliche Verträge) nur 79 unverändert. Mit
dem Beschluss der Regierung fängt die eigentliche
Entscheidungsprozess also überhaupt erst an. Aber
natürlich hatten schon zuvor zahlreiche Abgeordnete der
Versuchung nicht widerstehen können, eine verfrühte
20-Zeilen-Meldung über einen 40-seitigen Referentenentwurf zu
kommentieren. Auch dadurch wird "vergessen", dass das Parlament
entscheidet.
Kommt - mit einem Votum des Bundesrat versehen - der
Regierungsentwurf schließlich im Parlament an, machen sich
die Parlamentarier im Plenum und in den Ausschüssen
darüber her - im Plenum und bei den Anhörungen der
Experten und Interessenten öffentlich. Erst in der dritten
Lesung kann es zu einem Beschluss kommen. Sie wissen das
natürlich, wie Sie auch wissen, dass das Verfahren in Grenzen
variabel ist. Grundsätzlich will ich aber unterstreichen, wie
langsam der parlamentarische Entscheidungsprozess in aller Regel
ist. Er MUSS relativ langsam sein, weil er nicht nur in der Sache
sorgfältig und fair bei der Balance zwischen konkurrierenden
Interessen und Ansichten sein muss, sondern vor allem auch
transparent. Die Einhaltung der festgelegten Verfahren dient der
Transparenz. Das ist die Einladung an alle Bürger,
mitzudenken, sich einzumischen, sich Urteile zu bilden. Weil dieser
zutiefst demokratische Prozess sich den Darstellungsformen von
Medien nicht oder nicht gänzlich unterwerfen lässt, wird
er heute in einzelne, eher unterhaltende "events" zerlegt. Denn der
marktgängigen Zerstreuung durch immer neue Reize ist diese
Langsamkeit und Ernsthaftigkeit hinderlich. Es gibt noch
Journalisten, die diese Prozesse genau und langfristig beobachten
und darüber berichten, über das Sachlich-Politische
ebenso, wie über das Persönlich-Politische an diesem
Lern- und Entscheidungsprozess. Aber was liest und hört der
größte Teil des Publikums? : "Regierung plant...";
"Regierung ändert Kurs", "Koalition streitet", "Mehrheit der
Koalition sicher?", "Kanzler erleidet Schlappe", Minister macht in
Ausschuß Rückzieher", "Merz knickt ein", "Regierung
bessert nach", "Opposition verlangt Sondersitzung", "Opposition
rügt Bundestagspräsident"; "Ströbele stimmt nun doch
zu", "Regierung gerettet".
Auf diese Weise kann man jeden Gesetzgebungsprozess medial
begleiten, ohne auch nur ein einziges Mal in den Text geschaut oder
sich sonstwie mit dem Gegenstand des politischen Streits befasst zu
haben. Der Streit ist das Wesen der Demokratie, er ist kein
Skandal, keine Neuigkeit, sondern eine alltägliche und
unausweichliche demokratische Normalität. Neu sind jeweils die
Gegenstände des Streits, variabel ist das Ausmaß der
Gegensätze und Unterschiede, die streitig sind. Unterhaltender
scheint aber zu sein, diese Normalität zur Sensation
umzudeuten - und so ganz nebenbei die Aversion des Publikums gegen
Streitereien tendenziell auf die Demokratie zu
übertragen.
Die Zerlegung eines Entscheidungsprozesses in einzelne "events" von
Siegen und Niederlagen ist problematisch, da sie zur Verdunkelung
der Hintergründe, der wirksamen Interessen führt,
absichtslos oder absichtsvoll. Gefährlich wird sie nicht
allein durch das Schüren antidemokratischer Ressentiments,
sondern auch, wenn die politischen "events" mit anderen
konkurrieren: "Ehekrach bei (hier kann der Name eines beliebigen
Prominenten eingefügt werden)"; "Frau x doch geliftet"; "Y
steht zu seinen Schönheitsoperationen"; "feige Flucht des
Fußballtrainers Z"; "Bild rettet Weihnachtsgans" - solche
für die Allgemeinheit folgenlosen Neuigkeiten erscheinen
gleichgewichtig, im Boulevard sogar wichtiger als die
Bemühungen um die öffentlichen Angelegenheiten. Die
Suggestion ist, dass die neue Freundin von Boris Becker oder Oliver
Kahn genauso wichtig ist, wie eine vorgezogene Steuersenkung oder
der Angriff von Rechtsextremisten gegen einen ihnen fremd
erscheinenden Passanten.
Dass es um die Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig immer
seltener geht, erkennt man auch daran, dass in den Redaktionen
nicht mehr so häufig wie früher gestritten wird, was in
welcher Länge an welcher Stelle der Zeitung stehen soll oder
gesendet wird. Man sagt mir: Unter Verkaufsgesichtspunkten stehe
bereits fest, was, weil es personalisierbar, skandalisierbar,
Empörung generierend und Vorurteile bestätigend ist, auf
die ersten Seiten komme. Nun, Sie müssen besser wissen, ob ich
das richtig gehört habe. Es wäre jedenfalls ein
Alarmsignal, ja ein Sargnagel für den politischen - auch den
wissenschaftlichen und kulturellen Qualitätsjournalismus, wenn
wichtig nur noch ist, was Quote bringt.
Die alltägliche parlamentarische Güter- und
Interessenabwägung wird dem Vorurteil geopfert, den Politikern
gehe es nur um sich selbst, allenfalls um den Erhalt der Macht der
je eigenen Partei.
Ich will mich nicht beklagen, aber nüchtern einige
Veränderungen nennen, die zu dieser Verzerrung der
Wirklichkeit beitragen:
Anders ist bisher gewesen, dass Unterhaltung einschließlich
Klatsch und Tratsch ihren eigenen Platz hatte: bestimmte
Zeitschriften waren darauf spezialisiert und sind es noch heute; in
den Zeitungen gab und gibt es dafür bestimmte Seiten, Spalten,
bei denen der Leser sofort merkte: hier wird gemenschelt, nicht
mehr nur hart gearbeitet. Jetzt wird beides miteinander vermischt.
Es gibt in den tagesthemen oder noch deutlicher im "heute-journal"
gelegentlich Beiträge, nach denen man Nina Ruge als
Moderatorin erwartet, aber nicht Klaus Kleber.
Anders ist bisher gewesen, dass über einen Referentenentwurf
berichtet worden ist, jetzt empört man sich darüber,
inszeniert man Empörung.
Anders ist bisher gewesen, dass man mit etwas Mühe durch
tägliche Zeitungslektüre die politischen Prozesse
verfolgen und einordnen konnte. Diese Mühe wurde dem Publikum
bedenkenlos zugemutet! Jetzt schlägt die Quote durch auf
Nachrichtenauswahl und -aufbereitung.
Anders ist bisher gewesen, dass Medien die zur Meinungsbildung
nötige Differenzierung angeboten haben. Jetzt ist dafür
keine Zeit, im Fernsehen schon gar nicht.
Anders ist bisher gewesen, Politik zu kommentieren als sozial oder
unsozial, machbar oder unrealistisch. Jetzt ist sie wahr oder
unwahr, gut oder böse. So wird sie der Meinungsbildung
enthoben und erhält religiöse Züge. Die
Gegenaufklärung siegt posthum, obwohl es gar keine
absichtsvollen Gegenaufklärer mehr gibt.
Anders ist bisher gewesen, dass eine Nachricht von gestern auch
heute noch einer Betrachtung wert gewesen ist. Jetzt glaubt man,
man müsse ständig etwas Neues bieten, auch wenn es gar
nichts Neues gibt. Die Jagd nach Neuigkeiten rechtfertigt sogar,
aus Gerüchten Nachrichten zu machen.
Anders ist bisher gewesen, dass Medien auch über Sachfragen
geschrieben haben. Jetzt werden Sachverhalte, die nicht bebildert
werden können, entweder über Personen transportiert oder
fallen, wo auch das schwierig ist, ganz unter den Tisch.
Anders ist bisher gewesen, dass Ursachen von Fehlentwicklungen
analysiert wurden. Jetzt wird, weil dafür keine Zeit sei oder
das Diktat der Unterhaltung es verbietet, nach Schuld gefragt. Als
ob sich ein Problem dadurch lösen ließe, dass man einen
Sündenbock an den Pranger stellt.
Diese Veränderungen sind scheinbar graduell. Ihre Wirkung aber
kann erheblich sein.
So, wie sich schleichend Unterhaltung vom Mittel zum Zweck wandelt,
haben sich charakteristische Rahmenbedingungen des Journalismus zu
dominanten Zwängen gewandelt. Wirtschaftlichkeit war schon
immer notwendig. Sie plagte Verleger und Veranstalter und sei es
durch den Anspruch, mit den Rundfunkgebühren auskommen zu
müssen. Personalisierung war durchaus schon immer ein
Transportmittel auch für politische Inhalte gewesen. Knapper
Platz und wenig Zeit sind keine neuen, sondern charakteristische
Herausforderungen des Journalistenberufs. Die Versuchung war auch
in diesem Metier schon immer groß, ein Ergebnis mit
möglichst geringem Aufwand zu erzielen. Autoren, die statt
etwas zu wissen und darüber zu berichten, bloß etwas
meinen und das aufschreiben oder senden, sind kein neues
Phänomen. Die Herausforderung an den Journalisten, so zu
berichten, dass das Publikum den Bericht versteht, ist so alt wie
der Beruf selbst. Die Schlagzeile hatte schon immer die Aufgabe,
Interesse und Kauflust des Publikums zu wecken. Übrigens
Politiker haben sich auch schon immer über das eine oder
andere Ergebnis journalistischen Schaffens geärgert, weil sie
ganz allgemein ihr Eingebunden-Sein in Umstände nur
unvollständig wiedergegeben finden. Jetzt wird von den
komplizierten Umständen oft völlig abgesehen, weil sie
als zu schwierig gelten - oder weil Redakteure diese Umstände
gar nicht mehr kennen.
Die Veränderungen haben Folgen, nicht nur für den
Journalismus, sondern vor allem für Politik und Demokratie.
Das beginnt mit dem Ansehensverlust der demokratischen
Institutionen, der längst das Niveau fast totaler
Respektverweigerung erreicht hat und endet nicht mit dem Erfolg
populistischer Gruppierungen oder Personen in verschiedenen
europäischen Ländern einschließlich des
Bundeslandes Hamburg oder etwa dem Ergebnis der Gouverneursabwahl
in Kalifornien. Damit sage ich nicht, dass in erster Linie oder gar
ausschließlich die Medien/die Journalisten daran "schuld"
seien. Nein, wahrlich und vor allem Politiker.
Denn die Art und Weise, wie Politiker versuchen, mit dieser
neuartigen Medienwelt umzugehen, scheint mir eher geeignet, die
beschriebenen Effekte zu verstärken als sie zu
korrigieren.
Eine Redaktion muss doch dem Größenwahn verfallen, wenn
sie um der die Auflage steigernden Empörung willen mit einen
Fall von Mißbrauch sozialstaatlicher Leistungen aufmacht und
die Politik in allerkürzester Zeit über dieses
Stöckchen springt. Alltäglicher ist, dass auch Politiker
immer wieder glauben, Neuigkeiten produzieren zu müssen, weil
sie nur so in den Medien vorkommen. Es hat mir schon eine Menge
Häme eingebracht, was ich jetzt hier ungerührt zu
wiederholen mich traue: Politiker sind eher Getriebene, die den
Marktgesetzen der Medien Unterworfenen als die gestaltenden
Inszenierer ihrer Medienauftritte. Alle angeblichen Gegenbeispiele,
die Journalisten mir auf diese These anbieten, übersehen den
entscheidenden Ausgangspunkt: Politiker, die in den Medien nicht
stattfinden, existieren nicht. Sie sind auf die Medien angewiesen,
wenn sie nicht den Makel der Untätigkeit riskieren wollen.
Sind aber umgekehrt die Medien ebenso auf die Politiker angewiesen?
Das gilt allenfalls teilweise. Natürlich würde die
Talk-Show nicht funktionieren, wenn kein Politiker teilnähme.
Zum Glück für Sabine Christiansen sorgt aber die Zusage
aus der einen Partei dafür, dass auch die anderen sich nicht
verweigern. Und ebenso klar ist, dass diejenigen, deren Metier es
ist, aus dem Parlament zu berichten, auch auf Parlamentarier
angewiesen sind. Deswegen erscheint aber längst nicht jeder
Parlamentarier in der Zeitung oder im Fernsehen. Dafür muss er
etwas besonderes machen - beispielsweise seiner eigenen Fraktion
gewaltigen Ärger, oder sein schwer vermittelbares Tun durch
symbolhafte Bilder oder Aktionen inszenieren. Ich kritisiere das
nicht, wenn die Inszenierung der Darstellung des persönlichen
und politischen Profils dient. Darauf hat die Öffentlichkeit
Anspruch. Aber wenn die Regeln des Infotainment zum Selbstzweck
werden, ist die Grenze des Zuträglichen überschritten.
Leichter hat es, wer prominent ist. Prominenz aber ist kein
Privileg von Politikern. Prominente gibt es zu hauf. Manche Medien
schaffen sich ihre Prominenten inzwischen selbst, mit denen sie
dann Seiten und Sendezeit füllen.
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie hat aus Anlass der
Schwarzeneggerwahl seine These wiederholt: Wirtschaft, Unterhaltung
und Politik seien zu einer virtuellen Unterhaltungsökonomie
zusammengewachsen, deren oberste Positionen durch Medien-Prominenz
besetzt werden. "... wehe dem", schreibt er, "der sich der
Mediengewalt - wie der abgewählte Gouverneur Davis -
verweigert."
Nach dem unrühmlichen Abgang von Roland Schill oder der
Selbstzerfleischung der niederländischen Partei des ermordeten
Pim Forteyn hatte ich auf einen Lerneffekt gehofft. Dass
Wähler ebenso wie koalitionsbedürftige Politiker der
Personalauslese wirklich politischer Parteien wieder mehr zutrauen.
Sie erhöht jedenfalls die Chance, einigermaßen
professionelle Parlamentarier oder Koalitionspartner zu
wählen, die sich auch für Stabilität in der
Demokratie verantwortlich fühlen. Nicht nur Kalifornien weckt
neue Zweifel: Prominenz wird zum eigentlichen Kriterium - nach
Macht, Unterstützerkreisen und Interessen, nach Kompetenz und
Professionalität muss nicht mehr gefragt werden. Das einzige
politische Programm ist die schon bestehende Prominenz des
Kandidaten. Der Boulevard hat uns schon vergessen lassen, dass
Prominenz lediglich Bekanntheit bedeutet und längst noch nicht
Kompetenz. Bei Herrn Schwarzenegger fiel auf, dass ihm in
Kalifornien wie auch in "Bild" der Einfachheit halber die
Eigenschaften seiner Filmrollen zugeschrieben wurden.
Angesichts dieser Entwicklung beharre ich geradezu störrisch
darauf, dass Politik nicht in erster Linie Spaß machen kann,
es nicht einmal darf. Das Parlament ist die Bühne zur
Präsentation politischer Meinungen und Vorschläge, aber
es darf nicht zum "Show-Room" verkommen. Im Parlament wird es
Ernst. Hier werden die öffentlichen Angelegenheiten behandelt,
die alle Bürger etwas angehen, sie im Zweifel alle betreffen.
Eine Parlamentsentscheidung ist kein pop-kulturelles "event",
sondern ein ernsthafter Vorgang mit Folgen.
Nun werde ich nicht leugnen, dass es Politiker gibt, die es auf
schon geniale Weise verstanden haben, die Medien für ihren Weg
ins Kanzleramt oder in die Downing Street 10 zu nutzen. Man nennt
das "Darstellungskommunikation". Die Bundesregierung hat inzwischen
längst den Schwerpunkt ihres Kommunikationsverhaltens auf die
"Arbeits- und Durchsetzungskommunikation" verlagert. Der Kanzler
riskiert heute sein Amt, um Entscheidungen durchzusetzen, von deren
Notwendigkeit er überzeugt ist und scheut nicht den langen
Atem, auch die Wählerinnen und Wähler schließlich
zu überzeugen. Die jetzt eingeleiteten Veränderungen sind
nach Quantität und Qualität in vergleichbarem Umfang noch
von keiner Regierung gewagt worden. "Bild" hindert das nicht, das
älteste antiparlamentarische Vorurteil hervorzukramen,
"Blablabla", Politiker redeten nur und würden nichts tun. "Tut
endlich was!" hieß es im klaren Widerspruch zur politischen
Wirklichkeit. Wenn wir wieder so weit sind, das Parlament als
"Schwatzbude" abzutun, obwohl es keine ist, befinden wir uns erneut
auf einem Weg, auf dem schon 1848 und 1933 alle demokratischen
Hoffnungen und individuellen Freiheiten geopfert worden
waren.
Lassen Sie mich zum Schluss ein paar Wünsche aussprechen, in
der Hoffnung, dass die beschriebene Veränderung, die Diktatur
der Unterhaltung nicht unumkehrbar geworden ist.
Kommerzialisierung, damit einhergehend Skandalisierung,
Personalisierung, Reduzierung, unangemessene Moralisierung, der
Fetisch der immer neuen Neuigkeiten, die Verdrängung
sachlicher, realitätsverbundener Beurteilungen gelingen, weil
ihnen die Widerlager fehlen: die aufklärerische Ethik, der
Versuch einer Selbstbeschränkung auf die Vermittlung der
Lebenswirklichkeit, statt des hybriden Versuchs, die Wirklichkeit
zu erschaffen, der Mut zur wenigstens gelegentlichen oder
partiellen Entschleunigung, damit Zeit gewonnen wird für
Differenzierungen, für den Erwerb von Sachkunde auch auf
Seiten des Redakteurs, der Mut, dem Publikum auch etwas zuzumuten
und sich dessen Kritik auszusetzen, das Selbstbewusstsein, für
die Unterscheidung von wichtig und unwichtig auch zukünftig
gebraucht zu werden; eine Binnenpluralität, wie sie bei
öffentlich-rechtlichen Medien immerhin noch gelegentlich
möglich ist, das wären einige dieser Widerlager, auf die
es ankommt.
Gerade wenn ökonomischer Druck zu mehr Zusammenarbeit und zu
mehr Konzentration in der Branche führt, brauchen wir klarere
und verlässliche Garantien für innere Pressefreiheit. Das
ist ein komplexes Thema, es zu regeln, ist vor fast 30 Jahren
gescheitert und seither nicht mehr öffentlich diskutiert
worden. Jetzt gehört es wieder auf die Tagesordnung.
Journalistische Qualität muss sich gegen die Zwänge
kommerzieller Logik und gegen das Diktat der Unterhaltung
durchsetzen können. Das ist nicht nur eine Frage
journalistischer, sondern auch eine Frage verlegerischer
Verantwortung. Handelt es sich bei letzterer doch nicht nur um eine
Verantwortung für die Profitabilität der Verlage, sondern
auch um eine Verantwortung für die Demokratie. Dem Leser nach
dem Munde zu schreiben, ihn zu unterfordern, ist wie eine
Kapitulation; es ist die scheinheilige Verlagerung von
Verantwortung an das Publikum.
Verleger, Intendanten, Redakteure müssen diese Verantwortung
schon selbst wahrnehmen, indem sie beispielsweise wieder den Mut
entwickeln, dem Publikum auch schwierigere Kost zuzumuten. Sonst
werden sie überflüssig: ungeprüfte und nicht
gewichtete Information gibt es schließlich schon im
Internet.
Wenn politische Information unter dem Diktat der Unterhaltung
schnell, flott, spannend, spaßig, hämisch,
persönlich zu sein hat, werden sich die Produkte und die
Informationen immer mehr angleichen. Pluralität der Medien
wird zu bloßer Vielfalt der Stile. Schon jetzt gibt es zu
viele Nachrichten, die nicht erscheinen. Das reicht von den
schwierigen Materien der Forschungs- und der Infrastrukturpolitik
bis zu "vergessenen Kriegen" oder der Bioethik. Medienkritik, die
auch das Handeln der Verleger einbezieht, ist hier ebenfalls zu
erwähnen. Sie ist mindestens so notwendig, wie sie derzeit
selten ist. Einförmigkeit und "Sparjournalismus"
gefährden am Ende die Vielfalt der Medien und auf diese Weise
die Demokratie selbst.
Es ist umgekehrt unvorstellbar, dass sich die parlamentarischen
Verfahren an die Verwertungsinteressen der Medien anpassen
könnten. Wenn, dann nur um den Preis demokratischen
Substanzverlustes. Übrigens nicht nur wegen des Verlustes an
Transparenz und Sorgfalt. Der Ertrag größerer
Aufmerksamkeit bliebe wahrscheinlich trotzdem aus, weil
Unterhaltungskünstler einfach die besseren Unterhalter sind.
Diesen Wettbewerb würde die Politik also auch nach einer
solchen Anpassung verlieren. Besser also, sie bleibt bei ihren
Leisten. Ich werbe also bei Ihnen: Seien Sie Verbündete, die
den Ernst von Politik respektieren, Demokratie verständlich
machen - ohne langweilig sein zu müssen!
Ich wurde einmal gefragt, was ich davon halte, dass in einer der
vielen überflüssigen Umfragen - die Frage war, welche
Politiker auch als Fernsehunterhalter vorstellbar wären -
niemand auf meinen Namen gekommen sei. Ich war erleichtert und
fühlte mich verstanden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und eine gute Tagung!"
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