Wehrpflicht und Zeitgeist
Das
große Thema verschwindet nicht von der Tagesordnung. Die
Diskussion über Sinn und Unsinn der Allgemeinen Wehrpflicht
läßt sich nicht amtlich kontrollieren. Sie dürfte
bald wieder in das Zentrum rücken - spätestens dann, wenn
sich zeigt, daß die amtliche Planung mit dem stark
reduzierten Bedarf an Grundwehrdienstleistenden angesichts der
demographisch „fetten“ Jahre um die Mitte dieser Dekade
mit dem Prinzip der Wehrgerechtigkeit kollidieren wird.
Dann
könnte jene Kritik wieder auf den Tisch kommen, die mit ihrem
eingängigen Fortschrittsgehabe manchen in traditionalistischen
Bahnen denkenden Befürworter der Wehrpflicht mittlerweile die
Segel hat streichen lassen. Die Bemerkungen des Wehrbeauftragten
waren ein Wetterleuchten. Die argumentativen Anforderungen, die zum
Beispiel der Bundespräsident gestellt hat, sind allzu
berechtigt.
Vieles von
dem, was gegen die Allgemeine Wehrpflicht eingewendet wird, riecht
allzu sehr nach Zeitgeist: nach modischem Schnack ohne viel
Substanz. Die folgenden drei Beispiele zeigen die argumentativen
Schwächen der Kritik:
Erste
Behauptung:
Zwangsdienste
jeglicher Art paßten prinzipiell nicht zu einer
freiheitlichen Demokratie. Die Wehrpflicht sei nur dann zu
legitimieren, wenn es eine fundamentale Bedrohung gebe, die das
Rekrutieren einer Massenarmee erforderlich mache. Diese Zeit aber
sei vorüber.
Antwort:
Selbst in
einer historischen Phase, die eine unmittelbare territoriale
Bedrohung als gestrig erscheinen läßt, gibt es
Länder, die unbeirrt am Prinzip der Allgemeinen Wehrpflicht
festhalten. Faßt man etwa die skandinavischen Länder -
oder auch die Schweiz - ins Auge, fällt auf, daß die
Pflicht, der Gemeinschaft zu dienen, als staatsbürgerlich
ehrenvoll und damit als etwas gilt, was mit einer freiheitlichen
Demokratie nicht nur vereinbar, sondern für sie geradezu
konstitutiv ist. Dahinter steht die Vorstellung, daß sich in
einem modernen Gemeinwesen Freiheit nur dann wirklich entfalten
kann, wenn es starke öffentliche Institutionen gibt, die
für Gleichheit der Lebenschancen sorgen. Der
„Staat“ erscheint in diesem Kontext zwar als der
Kontrolle bedürftig, aber nicht a priori als Feind - wie es
bei unseren Liberalen und Grünen offenbar der Fall ist. Er
kann und darf etwas verlangen.
Den Gegenpol
bilden vor allem die Vereinigten Staaten, wo sich
konservativ-archaische Staatsfeindlichkeit mit einer ungebrochenen
Prävalenz des Ellbogenkapitalismus verbindet. Leider haben die
USA, obwohl ihr politisches Herrschaftsmuster sich schwerlich auf
europäische Verhältnisse übertragen läßt,
als Trendsetter in Sachen Abschaffung der Wehrpflicht
fungiert.
Doch
läßt sich bemerkenswerter Weise für die Länder
Mittel-Ost-Europas feststellen, daß nach anfänglichem
Liebäugeln mit einer reinen Freiwilligenarmee - um den USA zu
folgen und weil die Behandlung der Wehrpflichtigen zur Schande des
Warschauer Paktes geworden war - die Mehrheit doch für ein
Mischsystem aus Freiwilligkeit und Wehrpflicht votiert hat.
Sicherlich zunächst aus fiskalischen Gründen: Jene
Mindestumfänge der Streitkräfte, die man aus
sicherheitspolitischen und anderen Gründen nicht glaubt
unterschreiten zu können, sind eben nur mit einer
Wehrpflicht-Komponente finanzierbar.
Es entwickelt
sich in diesen Ländern aber auch das Argument einer
Bürgerarmee und gesamtgesellschaftlicher Verpflichtung. Vor
diesem Hintergrund werden nicht nur die skandinavischen
Länder, sondern auch Deutschland als Modell be- und
geachtet.
Zweite
Behauptung:
Alles in
allem seien Freiwillige bessere Soldaten als Wehrdienstleistende.
Insbesondere weil man sie länger ausbilden könne, seien
sie eher geeignet, sowohl anspruchsvolle Technik als auch komplexe
Aufgaben zu meistern. Kurz: man bekomme "mehr für's
Geld".
Antwort:
So einfach
ist das nicht. Es muß differenziert werden: Sowohl in
Freiwilligenarmeen als auch in Streitkräften mit
Wehrpflicht-Komponente werden besonders anspruchsvolle Aufgaben -
vor allem solche, bei denen es (auch) um die Bedienung modernster
Technik geht - in der Regel von relativ gut bezahlten
Karrieresoldaten wahrgenommen. Man denke etwa an Luftwaffenpiloten.
Geht es also um Elitepersonal in technologischen Kernbereichen,
gibt es offenbar kaum einen Grund anzunehmen, daß sich
Freiwilligenarmeen von solchen mit Wehrpflicht-Komponente
wesentlich und notwendig unterscheiden (müssen).
Ganz anders
sieht es jedoch aus, wenn der Blick auf die Masse der Soldaten
fällt. In diesem Zusammenhang erweist ein internationaler
Überblick, daß tendenziell alle Armeen in der NATO, die
das reine Freiwilligkeitsprinzip eingeführt haben bzw. gerade
dazu übergehen, unter mehr oder minder dramatischen
Rekrutierungsproblemen leiden. So etwa kann die vergleichsweise
„reiche“ US-Army beinahe 10 % ihrer Stellen nicht
besetzen. Ebenfalls mit beträchtlichen Problemen der
Personalgewinnung zu kämpfen hatten in jüngster Zeit auch
die Streitkräfte der Niederlande, Belgiens und
Frankreichs.
Es scheint
überall ein ähnliches Phänomen zu herrschen: Die
„zivilistischen“ Tendenzen westlicher Kultur bewirken,
daß nur ein kleiner - und abnehmender - Teil gerade auch der
leistungsfähigen und leistungsbereiten jungen Leute weiterhin
bereit ist, freiwillig zu der jeweiligen Fahne zu eilen.
Streitkräfte ohne Wehrpflicht stehen zunehmend vor dem
Problem, ihren Personalbedarf durch erhöhte materielle Anreize
bzw. durch Senkung der intellektuellen und körperlichen
Standards zu decken.
Materielle
Anreize haben sicherlich ihre Grenzen: nicht nur in der
langfristigen Verteidigungsplanung, die in Frankreich auf diesem
Wege beinahe aus dem Tritt kam, sondern auch in der mangelnden
Reaktionsbereitschaft der leistungsfähigen, zivile Karrieren
anstrebenden Jugend. So ist die drastische Senkung der Standards
eher die Regel als die Ausnahme - wobei einem in diesem Kontext die
gefestigte britische Tradition in den Sinn kommt, insbesondere
Arbeitslose und (unter bestimmten Bedingungen) sogar
Ex-Sträflinge für die Streitkräfte zu
motivieren.
Die Frage ist
also, ob die längere „Stehzeit“ der Freiwilligen
in den unteren Rängen - typischerweise zwei bis vier Jahre -
hinreicht, um die vorhandenen Defizite an Intelligenz,
körperlicher Fitness und persönlichem Ehrgeiz durch eine
entsprechende Sozialisation und Ausbildung zu kompensieren. Wer
solches vermutet, muß von überbordendem Glauben an die
Reformpädagogik beflügelt sein - oder ignoriert,
daß Streitkräfte in vielen Fällen nicht jenes
Ambiente bieten, welches der vollen Entfaltung aller Talente
dienlich ist.
Schließlich sollte ein Aspekt nicht übersehen
werden, der für einen Vergleich der Personalqualität der
unterschiedlichen Wehrstrukturen relevant ist: Die
Freiwilligenarmee muß auch ihr längerdienendes
Führungspersonal - mit den genannten Handikaps - auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt anwerben. Gibt es aber eine
Wehrpflicht-Komponente, kann zu einem guten Teil aus dem Kreis der
Gezogenen rekrutiert werden: mit dem besonderen Vorteil, gezielt
jene ansprechen zu können, die sich bereits als besonders
geeignet erwiesen haben.
Dritte
Behauptung:
In der NATO
und der EU wird das Militär immer weniger zum territorialen
Eigenschutz benötigt, statt dessen aber immer mehr als Mittel
der Krisenbewältigung. Es habe sich erwiesen, daß
Freiwilligenstreitkräfte besser für diese neue Aufgabe
geeignet sind als solche mit Wehrpflicht.
Antwort:
Das
quantitative Kalkül führt zu einem trivialen Ergebnis:
Eine Freiwilligenarmee kann, im Vergleich zu einer Streitmacht mit
Wehrpflicht und gleichem Präsenzumfang, signifikant mehr
Truppen für Krisenpräventionszwecke
„ausschwitzen“. Der wesentliche Grund dafür liegt
einfach darin, daß mit durchschnittlich längerem Dienst
des Personals pro Kopf mehr Zeit für Einsatzzwecke
anfällt bzw. nicht so häufig neu ausgebildet und
„rotiert“ werden muß.
Dieser
Zusammenhang reicht jedoch keineswegs hin, um die Aufgabe
militärischer Krisenreaktion in erster Linie
Freiwilligenstreitkräften anzuvertrauen. Neben den
quantitativen Aspekten gibt es nämlich auch schwerwiegende
qualitative, die eine solche Präferenz mit einem große
Fragezeichen versehen:
Die
Erfahrungen aus den letzten Jahren militärischer
Krisenreaktion zeigen, daß sich Kontingente von
Freiwilligenarmeen im Einsatz eher der Situation unangemessen
erweisen und blamieren, als dies für Streitkräfte mit
Wehrpflicht gilt. Es war ein „Profi“-Truppenteil eines
nicht zu nennenden bedeutenden Verbündenten, der im Kosovo auf
seine Fahrzeuge pinselte: „We are here to kill“. Und es
waren ebenfalls Profis, allerdings eines anderen Verbündeten,
die in Somalia das Malträtieren von Zivilisten zu ihrem
Lieblingszeitvertreib erkoren. Ähnliche Beispiele - praktisch
alle zu Lasten der reinen Freiwilligenkontingente - ließen
sich in noch größerer Zahl auflisten.
Um es
genereller und positiv gewendet zu sagen: Hohe Militärs und
andere Beobachter haben Recht, wenn sie feststellen, daß die
Soldaten der Bundeswehr sich etwa beim Kosovo-Einsatz
vergleichsweise gut bewährt haben. Wobei in diesem Kontext
taktvoller Weise unausgesprochen bleibt, daß sich dieser
Vergleich insbesondere auf Verbündete bezieht, die
Berufsarmeen betreiben. Es stellt sich also die Frage, warum die
Kontingente reiner Freiwilligenarmeen eher als solche mit
Wehrpflicht-Komponente versagen, wenn es darum geht, in einer
krisengeschüttelten Region situationsangemessen, nicht
provozierend und entschlossen den Friedensprozeß zu
unterstützen. Eine Antwort könnte sein:
In Armeen
reiner Freiwilligkeit, die sich strukturbedingt in besonderem
Maße gegenüber der übrigen Gesellschaft abdichten,
bilden sich leider nur allzu oft Züge einer militaristischen
Subkultur, die ein angemessen-interaktives Verhalten „vor
Ort“ erschweren. Streitkräfte mit einer
Wehrpflicht-Komponente hingegen sind gesellschaftlicher
Komplexität gegenüber offen. Ihre Führer und
Unterführer, die sich tagtäglich der Herausforderung
stellen müssen, die von immer neuen Kohorten junger Leute
ausgeht, erwerben ein hohes Maß an zivilorientierter
Flexibilität. Dies kommt ihnen dann auch beim Einsatz zu Gute.
Sie verhalten sich dort weniger „kommissig“ als ihre
Kameraden aus den reinen Profi-Armeen: selbst dann, wenn ihr
jeweiliger Truppenteil relativ wenig Wehrdienstleistende (auf
freiwilliger Basis) mit in das Krisengebiet nimmt.
Vierte
Behauptung:
Die
Streitkräfte bekämen durch die Wehrpflicht ihr Personal
„zu billig“. Dies führe zu der Tendenz,
„militärische Arbeit“ eher durch Menschen als
durch Maschinen verrichten zu lassen, und begünstige die
„Untertechnisierung“ von Armeen mit
Wehrpflicht-Komponente und beeinträchtige damit deren
Leistungsfähigkeit.
Antwort:
In dieser
Argumentation steckt ein gravierender Fall von ökonomischem
Modellplatonismus. Empirisch zeigt sich nämlich etwas ganz
anderes:
Da
glänzt etwa die Schweiz mit besonders moderner Technik in
zahlreichen Bereichen ihrer Armee: weil der Rüstungsanteil im
Verteidigungshaushalt wegen der niedrigen budgetären
Personalkosten relativ groß ausfallen konnte. Und da befinden
sich die Rüstungsausgaben in Frankreich und besonders in
Belgien unter erheblichem Druck. In diesen Ländern - ersteres
hat den Übergang zur Freiwilligenarmee schon fast, das andere
bereits völlig geschafft - erwies es sich aus verschiedenen
Gründen, wie etwa internationalen Verpflichtungen und
Ansprüchen, als unmöglich, die Präsenzstärke
(noch weiter) herunterzufahren. Personaleinsparungen als
Voraussetzung für Technisierung waren nur sehr begrenzt
möglich. Angesichts limitierter Mittelzuweisungen im Rahmen
des staatlichen Gesamtbudgets wurde damit Schmalhans zum
technologischen Küchenmeister.
In den USA
ist dies freilich anders. Man kann sich immer noch einen ziemlich
großen Streitkräfteumfang leisten (relativ
größer als die Wehrpflichtarmee der Bundesrepublik). Und
obwohl dieses freiwillige Personal teuer ist, bleibt immer noch
üppiges Geld für technologische Innovationen übrig.
Das Verteidigungsbudget spiegelt eben doch recht unmittelbar
Industrieeinfluß und internationalen Machtanspruch
wieder.
Das Starren
auf den Technisierungsgrad von Streitkräften - womöglich
in der Absicht, daraus internationale Rangordnungen abzuleiten -
sollte nicht von der Frage ablenken, ob denn die
„Durchtechnisierung“ des Militärs überhaupt
wünschenswert ist - oder, anders formuliert, ob denn damit
jene Leistungsfähigkeit erwartet werden kann, die von
plausiblerweise erwartbaren Szenarien der Krisenprävention und
Konfliktintervention gefordert werden:
Hochtechnisierte Mittel der Machtprojektion - denken wir an
See- und Luftstreitkräfte vorwiegend mit freiwilligem
Elitepersonal, das weitreichende Präzisionslenkwaffen
einsetzen kann - eignen sich für Bestrafungsdrohungen und
tatsächliche Vergeltung - d.h. für Einsätze, die
relativ selten vorkommen dürften und die wegen ihrer
provokanten Qualität immer auch das Potential haben, schon zum
nächsten bewaffneten Konflikt zu motivieren. Geht es hingegen
um stabilitätsadäquate Einsätze, die - wie die
vorbeugende Stationierung von Truppen oder die Präsenz zur
Friedensunterstützung - häufiger erforderlich werden
dürften, kann Technik per se die anstehenden Probleme nicht
lösen. Gefragt sind eher - modern, aber nicht hochtechnisiert
ausgerüstete - Truppenteile, die dem menschlichen Faktor
„vor Ort“ eine Chance geben.
Zu guter
Letzt:
Die
Diskussion ist an dem Punkt angelangt, an dem deutlich wird,
daß sich mit dem Einsatz militärischer
Krisenreaktionsmittel weitreichende Fragen nach den Folgen und
deren ethischer Bewertung stellen. Soll der Aufbau von
Präventions- und Interventionskräften qua Masse die
internationale Statuskonkurrenz unter den Bündnispartnern
bedienen - oder kommt es nicht doch eher auf qualitative Aspekte
an, darauf nämlich, ob es gelingt, den Menschen im Sinne eines
Beitrages zu dauerhaften Frieden nach schlimmen Konflikten zu
helfen ?
Die
Allgemeine Wehrpflicht ist als Brücke zwischen
"Bürgergesellschaft" und Streitkräften der wesentliche
Grund dafür, daß der Sinn von Sicherheits- und
Verteidigungspolitik überhaupt noch Gegenstand des
öffentlichen Diskurses ist. Dieser Diskurs wird hierzulande
auf allzu kleiner Flamme geführt. Er läuft Gefahr zu
erlöschen, wenn es zu einer erneuten, erhitzten Debatte um die
Wehrpflicht kommt. Der Streit um die Personalstruktur - also die
Mittel - würde die notwendige Auseinandersetzung
über die Ziele militärischen Engagements
ersetzen.
Daß es
zu einer solchen Debatte mit "falscher Front" kommt, ist allerdings
nicht gottgegeben. Die mit der amtlichen Verteidigungsplanung
mittelfristig zu befürchtende Wehrungerechtigkeit ließe
sich vermeiden: nämlich durch ein weniger rapides Runterfahren
der Wehrdiener-Komponente in den Streitkräften. Eine solche -
leichte - Kursänderung der Planung könnte sich lohnen:
Langfristig ist ein erneutes Auftreten von Wehrungerechtigkeit
selbst bei einem noch kleineren Umfang der Bundeswehr praktisch
auszuschließen. Denn nach 2010 gibt es viel weniger junge
Männer, die in den Streitkräften untergebracht werden
müssen, als um die Mitte dieser Dekade.
Mag der
Zeitgeist, dieser wetterwendische Geselle, auch für manche
Überraschung gut sein: Der dramatisierungsfähige
Anlaß auf diesem Politikfeld ließe sich
vermeiden.
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