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Volker Kröning
Mitglied des Deutschen Bundestages
Bundestagsadler
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Wehrpflicht und Zeitgeist

Das große Thema verschwindet nicht von der Tagesordnung. Die Diskussion über Sinn und Unsinn der Allgemeinen Wehrpflicht läßt sich nicht amtlich kontrollieren. Sie dürfte bald wieder in das Zentrum rücken - spätestens dann, wenn sich zeigt, daß die amtliche Planung mit dem stark reduzierten Bedarf an Grundwehrdienstleistenden angesichts der demographisch „fetten“ Jahre um die Mitte dieser Dekade mit dem Prinzip der Wehrgerechtigkeit kollidieren wird.

Dann könnte jene Kritik wieder auf den Tisch kommen, die mit ihrem eingängigen Fortschrittsgehabe manchen in traditionalistischen Bahnen denkenden Befürworter der Wehrpflicht mittlerweile die Segel hat streichen lassen. Die Bemerkungen des Wehrbeauftragten waren ein Wetterleuchten. Die argumentativen Anforderungen, die zum Beispiel der Bundespräsident gestellt hat, sind allzu berechtigt.

Vieles von dem, was gegen die Allgemeine Wehrpflicht eingewendet wird, riecht allzu sehr nach Zeitgeist: nach modischem Schnack ohne viel Substanz. Die folgenden drei Beispiele zeigen die argumentativen Schwächen der Kritik:

Erste Behauptung:

Zwangsdienste jeglicher Art paßten prinzipiell nicht zu einer freiheitlichen Demokratie. Die Wehrpflicht sei nur dann zu legitimieren, wenn es eine fundamentale Bedrohung gebe, die das Rekrutieren einer Massenarmee erforderlich mache. Diese Zeit aber sei vorüber.

Antwort:

Selbst in einer historischen Phase, die eine unmittelbare territoriale Bedrohung als gestrig erscheinen läßt, gibt es Länder, die unbeirrt am Prinzip der Allgemeinen Wehrpflicht festhalten. Faßt man etwa die skandinavischen Länder - oder auch die Schweiz - ins Auge, fällt auf, daß die Pflicht, der Gemeinschaft zu dienen, als staatsbürgerlich ehrenvoll und damit als etwas gilt, was mit einer freiheitlichen Demokratie nicht nur vereinbar, sondern für sie geradezu konstitutiv ist. Dahinter steht die Vorstellung, daß sich in einem modernen Gemeinwesen Freiheit nur dann wirklich entfalten kann, wenn es starke öffentliche Institutionen gibt, die für Gleichheit der Lebenschancen sorgen. Der „Staat“ erscheint in diesem Kontext zwar als der Kontrolle bedürftig, aber nicht a priori als Feind - wie es bei unseren Liberalen und Grünen offenbar der Fall ist. Er kann und darf etwas verlangen.

Den Gegenpol bilden vor allem die Vereinigten Staaten, wo sich konservativ-archaische Staatsfeindlichkeit mit einer ungebrochenen Prävalenz des Ellbogenkapitalismus verbindet. Leider haben die USA, obwohl ihr politisches Herrschaftsmuster sich schwerlich auf europäische Verhältnisse übertragen läßt, als Trendsetter in Sachen Abschaffung der Wehrpflicht fungiert.

Doch läßt sich bemerkenswerter Weise für die Länder Mittel-Ost-Europas feststellen, daß nach anfänglichem Liebäugeln mit einer reinen Freiwilligenarmee - um den USA zu folgen und weil die Behandlung der Wehrpflichtigen zur Schande des Warschauer Paktes geworden war - die Mehrheit doch für ein Mischsystem aus Freiwilligkeit und Wehrpflicht votiert hat. Sicherlich zunächst aus fiskalischen Gründen: Jene Mindestumfänge der Streitkräfte, die man aus sicherheitspolitischen und anderen Gründen nicht glaubt unterschreiten zu können, sind eben nur mit einer Wehrpflicht-Komponente finanzierbar.

Es entwickelt sich in diesen Ländern aber auch das Argument einer Bürgerarmee und gesamtgesellschaftlicher Verpflichtung. Vor diesem Hintergrund werden nicht nur die skandinavischen Länder, sondern auch Deutschland als Modell be- und geachtet.

Zweite Behauptung:

Alles in allem seien Freiwillige bessere Soldaten als Wehrdienstleistende. Insbesondere weil man sie länger ausbilden könne, seien sie eher geeignet, sowohl anspruchsvolle Technik als auch komplexe Aufgaben zu meistern. Kurz: man bekomme "mehr für's Geld".

Antwort:

So einfach ist das nicht. Es muß differenziert werden: Sowohl in Freiwilligenarmeen als auch in Streitkräften mit Wehrpflicht-Komponente werden besonders anspruchsvolle Aufgaben - vor allem solche, bei denen es (auch) um die Bedienung modernster Technik geht - in der Regel von relativ gut bezahlten Karrieresoldaten wahrgenommen. Man denke etwa an Luftwaffenpiloten. Geht es also um Elitepersonal in technologischen Kernbereichen, gibt es offenbar kaum einen Grund anzunehmen, daß sich Freiwilligenarmeen von solchen mit Wehrpflicht-Komponente wesentlich und notwendig unterscheiden (müssen).

Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn der Blick auf die Masse der Soldaten fällt. In diesem Zusammenhang erweist ein internationaler Überblick, daß tendenziell alle Armeen in der NATO, die das reine Freiwilligkeitsprinzip eingeführt haben bzw. gerade dazu übergehen, unter mehr oder minder dramatischen Rekrutierungsproblemen leiden. So etwa kann die vergleichsweise „reiche“ US-Army beinahe 10 % ihrer Stellen nicht besetzen. Ebenfalls mit beträchtlichen Problemen der Personalgewinnung zu kämpfen hatten in jüngster Zeit auch die Streitkräfte der Niederlande, Belgiens und Frankreichs.

Es scheint überall ein ähnliches Phänomen zu herrschen: Die „zivilistischen“ Tendenzen westlicher Kultur bewirken, daß nur ein kleiner - und abnehmender - Teil gerade auch der leistungsfähigen und leistungsbereiten jungen Leute weiterhin bereit ist, freiwillig zu der jeweiligen Fahne zu eilen. Streitkräfte ohne Wehrpflicht stehen zunehmend vor dem Problem, ihren Personalbedarf durch erhöhte materielle Anreize bzw. durch Senkung der intellektuellen und körperlichen Standards zu decken.

Materielle Anreize haben sicherlich ihre Grenzen: nicht nur in der langfristigen Verteidigungsplanung, die in Frankreich auf diesem Wege beinahe aus dem Tritt kam, sondern auch in der mangelnden Reaktionsbereitschaft der leistungsfähigen, zivile Karrieren anstrebenden Jugend. So ist die drastische Senkung der Standards eher die Regel als die Ausnahme - wobei einem in diesem Kontext die gefestigte britische Tradition in den Sinn kommt, insbesondere Arbeitslose und (unter bestimmten Bedingungen) sogar Ex-Sträflinge für die Streitkräfte zu motivieren.

Die Frage ist also, ob die längere „Stehzeit“ der Freiwilligen in den unteren Rängen - typischerweise zwei bis vier Jahre - hinreicht, um die vorhandenen Defizite an Intelligenz, körperlicher Fitness und persönlichem Ehrgeiz durch eine entsprechende Sozialisation und Ausbildung zu kompensieren. Wer solches vermutet, muß von überbordendem Glauben an die Reformpädagogik beflügelt sein - oder ignoriert, daß Streitkräfte in vielen Fällen nicht jenes Ambiente bieten, welches der vollen Entfaltung aller Talente dienlich ist.

Schließlich sollte ein Aspekt nicht übersehen werden, der für einen Vergleich der Personalqualität der unterschiedlichen Wehrstrukturen relevant ist: Die Freiwilligenarmee muß auch ihr längerdienendes Führungspersonal - mit den genannten Handikaps - auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt anwerben. Gibt es aber eine Wehrpflicht-Komponente, kann zu einem guten Teil aus dem Kreis der Gezogenen rekrutiert werden: mit dem besonderen Vorteil, gezielt jene ansprechen zu können, die sich bereits als besonders geeignet erwiesen haben.

Dritte Behauptung:

In der NATO und der EU wird das Militär immer weniger zum territorialen Eigenschutz benötigt, statt dessen aber immer mehr als Mittel der Krisenbewältigung. Es habe sich erwiesen, daß Freiwilligenstreitkräfte besser für diese neue Aufgabe geeignet sind als solche mit Wehrpflicht.

Antwort:

Das quantitative Kalkül führt zu einem trivialen Ergebnis: Eine Freiwilligenarmee kann, im Vergleich zu einer Streitmacht mit Wehrpflicht und gleichem Präsenzumfang, signifikant mehr Truppen für Krisenpräventionszwecke „ausschwitzen“. Der wesentliche Grund dafür liegt einfach darin, daß mit durchschnittlich längerem Dienst des Personals pro Kopf mehr Zeit für Einsatzzwecke anfällt bzw. nicht so häufig neu ausgebildet und „rotiert“ werden muß.

Dieser Zusammenhang reicht jedoch keineswegs hin, um die Aufgabe militärischer Krisenreaktion in erster Linie Freiwilligenstreitkräften anzuvertrauen. Neben den quantitativen Aspekten gibt es nämlich auch schwerwiegende qualitative, die eine solche Präferenz mit einem große Fragezeichen versehen:

Die Erfahrungen aus den letzten Jahren militärischer Krisenreaktion zeigen, daß sich Kontingente von Freiwilligenarmeen im Einsatz eher der Situation unangemessen erweisen und blamieren, als dies für Streitkräfte mit Wehrpflicht gilt. Es war ein „Profi“-Truppenteil eines nicht zu nennenden bedeutenden Verbündenten, der im Kosovo auf seine Fahrzeuge pinselte: „We are here to kill“. Und es waren ebenfalls Profis, allerdings eines anderen Verbündeten, die in Somalia das Malträtieren von Zivilisten zu ihrem Lieblingszeitvertreib erkoren. Ähnliche Beispiele - praktisch alle zu Lasten der reinen Freiwilligenkontingente - ließen sich in noch größerer Zahl auflisten.

Um es genereller und positiv gewendet zu sagen: Hohe Militärs und andere Beobachter haben Recht, wenn sie feststellen, daß die Soldaten der Bundeswehr sich etwa beim Kosovo-Einsatz vergleichsweise gut bewährt haben. Wobei in diesem Kontext taktvoller Weise unausgesprochen bleibt, daß sich dieser Vergleich insbesondere auf Verbündete bezieht, die Berufsarmeen betreiben. Es stellt sich also die Frage, warum die Kontingente reiner Freiwilligenarmeen eher als solche mit Wehrpflicht-Komponente versagen, wenn es darum geht, in einer krisengeschüttelten Region situationsangemessen, nicht provozierend und entschlossen den Friedensprozeß zu unterstützen. Eine Antwort könnte sein:

In Armeen reiner Freiwilligkeit, die sich strukturbedingt in besonderem Maße gegenüber der übrigen Gesellschaft abdichten, bilden sich leider nur allzu oft Züge einer militaristischen Subkultur, die ein angemessen-interaktives Verhalten „vor Ort“ erschweren. Streitkräfte mit einer Wehrpflicht-Komponente hingegen sind gesellschaftlicher Komplexität gegenüber offen. Ihre Führer und Unterführer, die sich tagtäglich der Herausforderung stellen müssen, die von immer neuen Kohorten junger Leute ausgeht, erwerben ein hohes Maß an zivilorientierter Flexibilität. Dies kommt ihnen dann auch beim Einsatz zu Gute. Sie verhalten sich dort weniger „kommissig“ als ihre Kameraden aus den reinen Profi-Armeen: selbst dann, wenn ihr jeweiliger Truppenteil relativ wenig Wehrdienstleistende (auf freiwilliger Basis) mit in das Krisengebiet nimmt.

Vierte Behauptung:

Die Streitkräfte bekämen durch die Wehrpflicht ihr Personal „zu billig“. Dies führe zu der Tendenz, „militärische Arbeit“ eher durch Menschen als durch Maschinen verrichten zu lassen, und begünstige die „Untertechnisierung“ von Armeen mit Wehrpflicht-Komponente und beeinträchtige damit deren Leistungsfähigkeit.

Antwort:

In dieser Argumentation steckt ein gravierender Fall von ökonomischem Modellplatonismus. Empirisch zeigt sich nämlich etwas ganz anderes:

Da glänzt etwa die Schweiz mit besonders moderner Technik in zahlreichen Bereichen ihrer Armee: weil der Rüstungsanteil im Verteidigungshaushalt wegen der niedrigen budgetären Personalkosten relativ groß ausfallen konnte. Und da befinden sich die Rüstungsausgaben in Frankreich und besonders in Belgien unter erheblichem Druck. In diesen Ländern - ersteres hat den Übergang zur Freiwilligenarmee schon fast, das andere bereits völlig geschafft - erwies es sich aus verschiedenen Gründen, wie etwa internationalen Verpflichtungen und Ansprüchen, als unmöglich, die Präsenzstärke (noch weiter) herunterzufahren. Personaleinsparungen als Voraussetzung für Technisierung waren nur sehr begrenzt möglich. Angesichts limitierter Mittelzuweisungen im Rahmen des staatlichen Gesamtbudgets wurde damit Schmalhans zum technologischen Küchenmeister.

In den USA ist dies freilich anders. Man kann sich immer noch einen ziemlich großen Streitkräfteumfang leisten (relativ größer als die Wehrpflichtarmee der Bundesrepublik). Und obwohl dieses freiwillige Personal teuer ist, bleibt immer noch üppiges Geld für technologische Innovationen übrig. Das Verteidigungsbudget spiegelt eben doch recht unmittelbar Industrieeinfluß und internationalen Machtanspruch wieder.

Das Starren auf den Technisierungsgrad von Streitkräften - womöglich in der Absicht, daraus internationale Rangordnungen abzuleiten - sollte nicht von der Frage ablenken, ob denn die „Durchtechnisierung“ des Militärs überhaupt wünschenswert ist - oder, anders formuliert, ob denn damit jene Leistungsfähigkeit erwartet werden kann, die von plausiblerweise erwartbaren Szenarien der Krisenprävention und Konfliktintervention gefordert werden:

Hochtechnisierte Mittel der Machtprojektion - denken wir an See- und Luftstreitkräfte vorwiegend mit freiwilligem Elitepersonal, das weitreichende Präzisionslenkwaffen einsetzen kann - eignen sich für Bestrafungsdrohungen und tatsächliche Vergeltung - d.h. für Einsätze, die relativ selten vorkommen dürften und die wegen ihrer provokanten Qualität immer auch das Potential haben, schon zum nächsten bewaffneten Konflikt zu motivieren. Geht es hingegen um stabilitätsadäquate Einsätze, die - wie die vorbeugende Stationierung von Truppen oder die Präsenz zur Friedensunterstützung - häufiger erforderlich werden dürften, kann Technik per se die anstehenden Probleme nicht lösen. Gefragt sind eher - modern, aber nicht hochtechnisiert ausgerüstete - Truppenteile, die dem menschlichen Faktor „vor Ort“ eine Chance geben.

Zu guter Letzt:

Die Diskussion ist an dem Punkt angelangt, an dem deutlich wird, daß sich mit dem Einsatz militärischer Krisenreaktionsmittel weitreichende Fragen nach den Folgen und deren ethischer Bewertung stellen. Soll der Aufbau von Präventions- und Interventionskräften qua Masse die internationale Statuskonkurrenz unter den Bündnispartnern bedienen - oder kommt es nicht doch eher auf qualitative Aspekte an, darauf nämlich, ob es gelingt, den Menschen im Sinne eines Beitrages zu dauerhaften Frieden nach schlimmen Konflikten zu helfen ?

Die Allgemeine Wehrpflicht ist als Brücke zwischen "Bürgergesellschaft" und Streitkräften der wesentliche Grund dafür, daß der Sinn von Sicherheits- und Verteidigungspolitik überhaupt noch Gegenstand des öffentlichen Diskurses ist. Dieser Diskurs wird hierzulande auf allzu kleiner Flamme geführt. Er läuft Gefahr zu erlöschen, wenn es zu einer erneuten, erhitzten Debatte um die Wehrpflicht kommt. Der Streit um die Personalstruktur - also die Mittel - würde die notwendige Auseinandersetzung über die Ziele militärischen Engagements ersetzen.

Daß es zu einer solchen Debatte mit "falscher Front" kommt, ist allerdings nicht gottgegeben. Die mit der amtlichen Verteidigungsplanung mittelfristig zu befürchtende Wehrungerechtigkeit ließe sich vermeiden: nämlich durch ein weniger rapides Runterfahren der Wehrdiener-Komponente in den Streitkräften. Eine solche - leichte - Kursänderung der Planung könnte sich lohnen: Langfristig ist ein erneutes Auftreten von Wehrungerechtigkeit selbst bei einem noch kleineren Umfang der Bundeswehr praktisch auszuschließen. Denn nach 2010 gibt es viel weniger junge Männer, die in den Streitkräften untergebracht werden müssen, als um die Mitte dieser Dekade.

Mag der Zeitgeist, dieser wetterwendische Geselle, auch für manche Überraschung gut sein: Der dramatisierungsfähige Anlaß auf diesem Politikfeld ließe sich vermeiden.